Im Alltag stehen wir oftmals vor Entscheidungen, die sich ohne Gewissensbisse nicht bewältigen lassen. Seien es reale Situationen im beruflichen und privaten Leben oder rein hypothetische, vielleicht solche, die es in naher Zukunft zu fällen gilt. Hintergrund solcher Dilemmata ist unser moralisches Verständnis von der Welt. Als einer der wichtigsten und zugleich umstrittensten Vertreter im Bereich der Moralität gilt Lawrence Kohlberg (1927-1987). Seine Überlegungen bauen auf den entwicklungs-psychologischen Konzepten des moralischen Urteilens nach Piaget auf, jedoch betont er in seinem Stufenmodell, im Gegensatz zu Piaget, die Entwicklung des moralischen Denkens als lebenslangen Prozess. Obgleich einige seiner Annahmen empirisch nicht vollends belegt werden konnten, so bilden sie dennoch, allein durch die Entfachung einer wissenschaftlichen Debatte über das Zustandekommen und die Bedeutung moralischer Kognitionen, ein Kernstück der Entwicklungspsychologie, welches einer näheren Betrachtung wert ist.[1]

 

Das Heinz-Dilemma – Leben vs. Recht

Zur Erfassung des moralischen Urteils nutzte Kohlberg fiktive Dilemmata: Er kreierte also Situationen, welche die Akteure in Gewissenskonflikte aufgrund der gebotenen Handlungsalternativen versetzten. Das wohl bekannteste moralische Dilemma handelt von Heinz, dem Ehemann seiner letal erkrankten Frau. Als ein Apotheker ein Arzneimittel erfindet, das seine Frau heilen würde, fehlt ihm das nötige Geld, um es erwerben zu können. Der Apotheker wiederum, der $2000 für das Medikament verlangt, möchte ihm preislich nicht entgegenkommen, sondern Geld daran verdienen, trotz Heinz’ Bitte, es ihm günstiger zu verkaufen, da seine Frau im Sterben läge. Heinz steht nun vor dem Dilemma, ob er nachts in die Apotheke einbrechen und das Medikament stehlen solle. Mit diesem moralischen Zwiespalt endet die Geschichte.[2] [3]

Man könnte jetzt ganz unterschiedlich argumentieren. Es handelt sich um eine wichtige (wenn nicht gar die wichtigste) Person in Heinz’ Leben und der Erhalt ihres beziehungsweise des menschlichen Lebens steht für ihn (und womöglich für viele andere) über einem Eigentumsdelikt, der – rein objektiv betrachtet – größtenteils finanzielle Konsequenzen verursacht, nicht aber ein Leben kostet. Auf der anderen Seite handelt es sich um rechtswidriges Verhalten. Ein Gesetzesbruch dieser Art, selbst wenn er glimpflich für ihn ausginge, signalisiert, dass die Akzeptanz einer Gesetzesnorm individuell missachtet werden kann, je nach persönlichen Umständen. Das bedeutet, dass letztlich jeder das Gesetz brechen dürfte, wenn seine Begründung nur gut genug wäre. Ganz klar stünde dies im Widerspruch zu dem, was Immanuel Kant bereits in seinem kategorischen Imperativ formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“[4]

Die Geschichte wirft viele Fragen auf, die genau auf die moralischen Kognitionen abzielen: Wir wissen aus der Geschichte nicht um die Situation des Apothekers – ist er finanziell stabil? Hat er Schulden? Würde der Diebstahl mit einschneidenden finanziellen Konsequenzen für ihn einhergehen, sodass er nicht mehr imstande wäre, seine Familie zu versorgen? War der pharmakologische Durchbruch vielleicht seine Chance, sein eigenes Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken? Zudem kommt der bereits genannte Aspekt der Willkür im Hinblick auf Gesetzesverstöße hinzu. Andererseits: Wie kann dem Apotheker so wenig am Leben eines Mitmenschen liegen? Wieso weiß er das Recht auf Leben nicht entsprechend zu schätzen, unabhängig von allen persönlichen Faktoren oder Umständen? Ist seine Haltung überhaupt moralisch vertretbar, wenn er den Wert eines menschlichen Lebens nicht (an)erkennen kann oder den Wert des Geldes darüber stellt?

 

Stufenmodell des moralischen Urteils nach Kohlberg

Kohlberg erfasst in seinem Modell drei Stadien zur Erfassung des moralischen Entwicklungsstandes und berücksichtigt somit ein Stadium mehr als sein Vorreiter Piaget. Jedes Stadium teilt sich wiederum in jeweils zwei aufeinanderfolgende Stufen auf. Mit zunehmender Stufenhöhe (1-6) wird dem Subjekt immer mehr Fähigkeit zur Perspektivübernahme und immer weniger Egozentrik zugesprochen.[5]

 

Tab. 1

Stufenmodell des moralischen Urteils (modifiziert, nach Lohaus/Vierhaus, 2019, S. 264)

Stadium Stufe Orientierung des Urteils an/am
Präkonventionelles

Stadium

1 Strafe / Gehorsam
2 Kosten-Nutzen / Bedürfnisbefriedigung
Konventionelles

Stadium

3 Interpersonellen Beziehungen
4 Erhalt der sozialen Ordnung
Postkonventionelles

Stadium

5 allgemeingültigen Rechten als Prinzip
6 universellen ethischen Prinzipien

 

Im präkonventionellen Stadium findet eine bloße Orientierung an den Folgen einer Handlung im Sinne von Strafe und Gehorsam (Stufe 1) beziehungsweise an der Maximierung des eigenen Nutzens (Stufe 2) statt. Die Intentionen anderer werden auf Stufe 1 nicht wahrgenommen, somit ist die soziale Perspektive eine rein egozentrische. Im Gegensatz zu Stufe 1 dient moralkonformes Verhalten auf Stufe 2 als Mittel zum Zweck und beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit („Wie du mir, so ich dir“), wodurch es einen konkret-individualistischen Charakter annimmt und die Berücksich-tigung unterschiedlicher Interessen erlaubt. Im konventionellen Stadium wird sich an den Erwartungen anderer – auf Stufe 3 des direkten Umfelds und auf Stufe 4 des umfassenden sozialen Systems – orientiert. Die Beziehung zu anderen und deren Interessen und Erwartungen werden zum Zwecke der Anerkennung einbezogen und im Weiteren priorisiert (Stufe 3). Es folgt die Loyalität gegenüber der verpflichtenden sozialen Ordnung innerhalb des Systems, die wiederum die sogenannte „Gruppen-moral“ ausmacht, der es zu genügen gilt (Stufe 4). Im letzten postkonventionellen Stadium nimmt die Orientierung eine legalistische Richtung an, die durch allgemein-gültige gesellschaftliche Rechte definiert wird. Die gesellschaftliche Perspektive verleiht allgemeinen Rechten und Werten Vorrang vor sozialen Bindungen, hebt allerdings auch die teils erschwerte Vereinbarkeit von moralischen und gesetzlichen Gesichtspunkten hervor (Stufe 5). Schließlich handelt eine Person auf Basis von kritisch abgewogenen, universellen ethischen Prinzipien. Hierzu zählen vor allem Menschenrechte. Stehen ethische Prinzipien und gesellschaftliche Normen in einem Konflikt, wird zugunsten der eigenen Prinzipien entschieden (Stufe 6).[6]

 

Auflösung des Heiz-Dilemmas nach dem Stufenmodell

Die einzelnen Stufen und das damit einhergehende moralische Urteilsvermögen lässt sich anhand von Beispielargumentationen veranschaulichen.[7]

Frage: „Soll Heinz das Medikament stehlen?“

Stufe 1: „Nein, sonst muss er ins Gefängnis.“

Stufe 2: „Ja, sonst hat er niemanden, der sich um ihn kümmert.“

Stufe 3: „Ja, denn seine Frau ist ihm nicht unwichtig, also sollte man sich gegenseitig helfen, dann wird die Welt ein Stück weit besser.“

Stufe 4: „Nein, es ist gegen das Gesetz, es existiert nicht grundlos und man kann das Gesetz nicht einfach für bestimmte Menschen brechen.“

Stufe 5: „Schon, es gibt eben Ausnahmen, so wie hier. Das ist ein existenzielles Problem, da muss man alle Seiten beleuchten und schauen, was in dem Fall richtig ist.“[8]

Stufe 6: „Ja. Ein Menschenleben steht über allem anderen.“

 

Fazit

Wie lautet denn nun die Moral von der Geschicht’?

Kohlbergs Theorie wurde bislang nicht falsifiziert und hat, trotz zahlreicher Kritikpunkte, ihre Berechtigung in der Entwicklungspsychologie, vor allem der Moralforschung. Kritisch anzumerken ist Kohlbergs Auffassung von moralischem Handeln und Urteilen als zwei gleichwertige Niveaus. An dieser Stelle ließe sich behaupten, dass moralisch korrektes Urteilen keine Garantie für entsprechendes Verhalten ist. Eine Person kann durchaus in der Lage sein, eine Situation moralisch korrekt zu bewerten, nicht aber dementsprechend zu handeln. Dafür bedarf es personeller Eigenschaften, wie z.B. Zivilcourage, Mut (zum Risiko), Selbstvertrauen und ein ausreichendes Maß an Selbstlosigkeit. Ohne diese Voraussetzungen kann es durchaus schwierig sein, kognitive Urteile in Handlungen umzusetzen.[9] Zudem lässt sich kritisch anmerken, dass das moralische Urteilsvermögen von einigen nicht berücksichtigten Faktoren, wie Sozialisation, Druck, Identität, Schichtzugehörigkeit oder Empathie, abhängig ist.[10] Eine Verknüpfung von Kohlbergs Moralforschung mit Erkenntnissen aus weiteren Teildisziplinen, z.B. der Soziologie, Politologie, Philosophie oder Biologie, erscheint sinnvoll.[11] Nichtsdestotrotz hat Kohlberg anhand von Längsschnittuntersuchungen die stufenweise moralische Entwicklung nachvoll-ziehen können und eröffnet damit nicht nur einen Zugang zum menschlichen Moralverständnis, sondern bricht es zudem auf fundamentale Komponenten der Urteilsbildung herunter. Fakt ist: Die Moralität ist ein komplexes Konstrukt, das nicht immer ein „richtig“ und „falsch“ zulässt. Vielmehr ist die Begründung und Antwort auf sich auftuende Dilemmata abhängig von der kognitiven Stufe, auf der sich ein Mensch befindet.

 

 

 

[1] Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 261-263

[2] Vgl. Kohlberg (2010), S. 75

[3] Vgl. Kohlberg (1996), S. 495

[4] Kant (1797), S. 52

[5] Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 263-264

[6] Vgl. Keller (2014), S. 19-20

[7] Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 265

[8] Vgl. Garz (2006), S. 103-105

[9] Vgl. Keller (2014), S. 22

[10] Vgl. Becker (2011), S. 404-405

[11] Vgl. Becker (2011), S. 406

 

 

 

Quellenverzeichnis

 

Becker, G. (2011). Kohlberg und seine Kritiker. Die Aktualität von Kohlbergs Moralpsychologie. Wiesbaden: Springer VS.

Garz, D. (2006). Sozialpsychologische Entwicklungstheorien (3. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Kant, I. (1797). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (4. Aufl.). Riga: Johann Friedrich Hartcknoch.

Keller, G. (2014). Die Gewissensentwicklung der Geschwister Scholl. Eine moralpsychologische Betrachtung. Herbolzheim: Centaurus Verlag.

Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kohlberg, L. (2010). Resolving Moral Conflicts within the Just Community. In Harding, C. (Hrsg.), Moral Dilemmas and Ethical Reasoning (S. 71-98). New York: Transaction Publishers.

Lohaus, A./ Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor (4. Aufl.). Berlin Heidelberg: Springer.

Beitragsbild: CC0 von https://pixabay.com/de/photos/ethik-recht-falsch-ethisch-moral-2991600/

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