By Published On: 18. Oktober 2020Categories: Meine Hochschule und mein Studium

Einleitung

Das Ende des zweiten Weltkriegs liegt nun schon über 75 Jahre zurück, jedoch besteht immer noch ein starkes Interesse an dieser Zeit. Vereinzelt gibt es noch Zeitzeugen, die den Krieg als „Kriegskinder“ durchlebt haben. Außerdem haben die Nachkommen dieser häufig das Gefühl, indirekt von den Nachwehen dieser Zeit betroffen zu sein. Deshalb stellt sich die Frage, wie stark sich die damaligen Erlebnisse auf das ganze Leben der „Kriegskinder“ auswirken können.

 

Die Kinder des zweiten Weltkriegs

Wenn von „Kriegskindheit“ die Rede ist, so wird von den Kindern der Geburtenjahrgänge von 1927 bis 1948 gesprochen, welche bis heute von den Einflüssen des Kriegs geprägt sind. Häufig wurde dieser in der besagten Generation als ein naturgesetzliches und unabwendbares Geschehen betrachtet, was den Menschen den Umgang mit der Ohnmacht erleichterte. Aber die letzten Jahre des Kriegs, besonders die letzten Monate, forderten den Menschen alles ab und somit wurden auch die Kinder dieser Zeit mit Tod, Gewalt und Hilflosigkeit konfrontiert. Die Zahlen der Opfer von Vertreibung, Flucht und Vergewaltigung stiegen rasant an. Außerdem erlebte die Mehrheit der Deutschen ein hohes Maß an Angst und Leid, was besonders den Zahlen der Inhaftierten, der zum Tode Verurteilten und der getöteten Kinder und Jugendlichen geschuldet war.[1] Jedoch gilt es zu bedenken, dass nicht jedes in diesem Zeitraum geborene Kind gleichermaßen mit den Folgen des Kriegs konfrontiert wurde, weshalb es nicht möglich ist, den Begriff „Kriegskind“ auf jedes Kind dieser Zeit anzuwenden. Jedoch konnten bei den Kindern, die von Leid betroffen waren, gemeinsame Züge festgestellt werden.[2]

 

Die Folgen des Kriegs

Neben den verwüsteten Städten hinterließ der Krieg zerstörte Familien und Menschen, die vor enormen Bewältigungsaufgaben standen. Es galt sich daran zu gewöhnen, dass es nie wieder werden kann, wie es vor Beginn des Kriegs war. Väter und Brüder, die als Soldaten eingesetzt wurden, kehrten erschöpft und innerlich sowie äußerlich beschädigt zurück. Einige erst nach zehn bis zwölf Jahren und andere Plätze blieben für immer leer. In den Jahren nach dem Krieg stand der Wiederaufbau der Städte und Dörfer im Vordergrund, weshalb die Versorgung der seelischen Wunden aller Generationen nicht thematisiert wurde. Häufig litten die Kinder unter dem Zustand der Väter, da diese zwar heimkehrten, jedoch sowohl körperlich als auch psychisch stark verändert waren. Die Mütter litten häufig an Depressionen, die durch die allgemeine Situation und den enormen Druck entstanden, auch die Vaterrolle übernehmen zu müssen. Die Kinder entwickelten Schuldgefühle, da ihr Trost der Elterngeneration keine Heilung brachte und sie nicht in der Lage waren, genügend Hilfe zu leisten. Hinzu kamen Schuldgefühle über den eigenen empfundenen Hass, den jeder Traumatisierte aufweist. Aus diesen beiden Aspekten entstehen die gemeinsamen Züge der Kriegskind-Identität, welche sich unabhängig von den individuellen Schicksalen ausbildet.[3]

 

Das Trauma als psychische Folge

Ein traumatisches Ereignis beschreibt eine Situation, die eine außergewöhnliche Bedrohung für das Individuum darstellt oder ein verheerendes Ausmaß annimmt. Zu diesen Situationen gehören beispielsweise körperliche oder sexuelle Gewalt, Krieg oder Entführung. Aus dem Trauma kann sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, bei der die Betroffenen das Erlebnis ungewollt häufiger durchleben durch Flashbacks zum Beispiel durch Albträumen.[4]  In 50-70% der Fälle entwickelt sich aus dem erlittenen Trauma eine PTBS, wenn Krieg oder Vertreibung der Auslöser des Traumas sind[5]. Leider können an dieser Stelle keine genauen Angaben zur Häufigkeit von Traumatisierungen und PTBS der deutschen Kinder durch die Geschehen des 2. Weltkriegs gemacht werden, da sich die Wissenschaft und Forschung zu diesem Zeitpunkt nicht mit den psychischen Folgen befasste. Erst ab 1985 kam es zu vereinzelten Annäherungen in Form von Studien an dieses Themengebiet, jedoch bezieht sich lediglich eine Befragung auf die Traumatisierungen und Beschädigungen dieser Jahrgänge, welche zudem einen sehr sachlichen und allgemeinen Charakter aufweist. Dementsprechend war es zu dieser Zeit nicht denkbar, die psychischen Beeinträchtigungen angemessen zu therapieren.[6]

Aufgrund dieser Tatsache waren die „Kriegskinder“ gezwungen, eigenständig mit der Traumatisierung umzugehen, und es entwickelten sich Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen.

Häufig kam es zu einer Spaltung von Wahrnehmung, Denken und Gefühl. Einige Betroffene berichten heute von den traumatischen Ereignissen als lustige und abenteuerliche Geschichten, andere wiederum erzählen sachlich und emotionslos von den Geschehnissen des zweiten Weltkriegs. Somit kommt es zu einer Verleugnung der Realität und dem tatsächlichen  Ausmaß an Angst und Schrecken (Derealisierung). Auch Umstände wie Hunger und Flucht wurden bagetellisiert oder als unwichtig erklärt. Betroffene versuchen durch die entdramatisierten Erzählungen die erlebten Emotionen in die gegenteilige Richtung zu lenken.[7] Außerdem erleben die Betroffenen ein hohes Maß an Scham, wenn sie eigene Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit zulassen. Daher schweigen sie über die Geschehnisse, um die damaligen Emotionen nicht erneut hervorzurufen. Des Weiteren flüchten Betroffene vor den traumatischen Erinnerungen  durch Dissoziationen, indem sie  aus sich heraustreten und die Dinge aus der Ferne betrachten, als seien sie selbst nicht betroffen (Depersonalisierung). Es kann auch zu sozialem Rückzug kommen. Außerdem kommt es zum Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses zur Zerstörung des zentralen Sicherheitsgefühls, wodurch die Betroffenen früh ein Misstrauen entwickeln. Dabei handelt es sich um den prägendsten Charakterzug, den Traumatisierungen in Betroffenen hervorrufen. Durch das Misstrauen wird versucht, erneute lebensbedrohliche Situationen zu erkennen und folglich zu meiden. Eine weitere Methode zur Kompensation des Traumas ist die vollständige Verdrängung.[8]

Weitere komorbide psychische  Erkrankungen sind auch keine Seltenheit und können beispielsweise depressive Störungen, Anpassungs- und Angststörungen oder Bindungs- und Beziehungsstörungen sein[9].

 

Spätfolgen

Bei „Kriegskindern“, die in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten haben, ist es möglich, dass es im späteren Alter zu einer Reaktivierung kommt. Diese kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden. Dazu gehört die Tatsache, dass Menschen im Alter weniger Aufgaben und Ziele haben, auf die sie sich fokussieren, und ihnen somit mehr Zeit zur Verfügung steht, um Unbewältigtes aus früheren Tagen wahrzunehmen. Außerdem kann eine Traumareaktivierung durch den Druck ausgelöst werden, den die Betroffenen empfinden, da sie das Gefühl haben, sich noch dem Trauma widmen zu müssen. Zusätzlich kann der Alterungsprozess selbst, durch die körperlichen Veränderungen und die Angst vor der drohenden Abhängigkeit und Hilflosigkeit, zu einer Reaktivierung des Traumas führen, da die Betroffenen sich emotional in die Zeit des Kriegs zurückversetzt fühlen.[10] Ebenso ist es möglich, die Betroffenen schlagartig durch äußere Einflüsse in die traumatische Situation zurückzuversetzen und so Flashbacks auszulösen. Diese Einflüsse können Geräusche oder Gerüche sein, beispielsweise Sirenen, Feuerwerke, das Rufen anderer Menschen oder der Geruch von Ausscheidungen. Bei Menschen, die sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, kann es zu einer Trauma-Reaktivierung kommen, wenn sie auf die Hilfe anderer bei der Körperpflege angewiesen sind, da sie sich erneut ausgeliefert fühlen und Kontrollverlust erleben. Des Weiteren können, je nach Auslöser des Traumas, medizinische und freiheitsentziehende Maßnahmen eine Reaktivierung hervorrufen. Daher ist es besonders in der Altenpflege wichtig, darauf zu achten, dass  solche Trigger vermieden werden. Eine Befragung der Betroffenen, um zu erkennen, ob ein Trauma vorliegt bzw. in welchem Maße, ist meistens nicht möglich, da dies Flashbacks oder eine Trauma-Reaktivierung auslösen kann.[11]

 

Fazit und Ausblick

„Kriegskinder“ haben durch die Umstände des zweiten Weltkriegs ein hohes Maß an Leid, Angst und Gewalt erlebt. Nicht selten wurde durch lebensbedrohliche oder außergewöhnliche Situationen ein Trauma ausgelöst, welches sich zu einer PTBS entwickeln konnte. Da es, im Gegensatz zu heute, nicht möglich war, das Erlebnis mit therapeutischer Unterstützung zu verarbeiten, mussten die „Kriegskinder“ lernen eigenständig damit umzugehen. Diese Kompensationsmethoden wie beispielsweise das Beschönigen oder Schweigen führten oft zu Missverständnissen mit den nachfolgenden Generationen. Daher ist es wichtig, dass die Nachkommen der „Kriegskinder“ sich eigenständig mit den Umständen im 2. Weltkrieg vertraut machen, um zu realisieren, dass sich die damaligen Erlebnisse stark auf das lebenslängliche Verhalten der „Kriegskinder“ auswirken können, um Verständnis dafür zu entwickeln.

 

[1] Vgl. Brockhaus (2010), S. 317-318

[2] Vgl. Ermann (2010), S 327

[3] Vgl. Wolfgang Borchert zitiert nach Ermann (2003), S. 7-8

[4] Vgl. Wirtz (2017), S. 1304

[5] Vgl. Pausch/Matten (2018), S. 10

[6] Vgl. Radebold (2010), S. 47

[7] Vgl. Radebold (2009),  S. 47

[8] Vgl. Ermann (2003), S. 7

[9] Vgl. Michael/Sopp/Maercker (2019), S. 107

[10] Vgl. Heuft (1999), S. 228; Romeike (2017), S. 200

[11] Vgl. Romeike (2017), S. 201

 

Literatur

Brockhaus, G. (2010): Kontroversen um die „Kriegskindheit“. Forum Psychoanal. Nr. 26, S. 313–324. Springer Verlag.

Ermann, M. (2003): Wir Kriegskinder. Aus der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Ermann, M. (2010): Verdeckte Spuren deutscher Geschichte. Kriegskinder und ihre Kinder – ein ungewolltes Erbe. Forum Psychoanal. Nr. 26, S. 325–334

Heuft, G. (1999): Die Bedeutung der Trauma-Reaktivierung im Alter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Nr. 32. S. 225–230. Steinkopff Verlag.

Michael, T./Sopp, R./Maercker, A. (2019): Posttraumatische Belastungsstörungen. In: Margraf, J./Schneider, S. (Hg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 2. 4. Auflage, Berlin: Springer Verlag.

Pausch, M./Matten, S. (2018): Trauma und Traumafolgestörung. 1. Auflage, Wiesbaden: Springer Verlag.

Radebold, H. (2009): Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Hilfen für Kriegskinder im Alter. 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta.

Radebold, H. (2010): Abwesende Väter und Kriegskindheit. Alte Verletzungen bewältigen. 2. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta.

Romeike, A. (2017): Reaktivierung von Traumata aus dem zweiten Weltkrieg. Erscheinungsform und Umgang mit der Thematik in der stationären Altenhilfe. Pflege und Gesellschaft. Nr. 22, S. 197-271. Beltz Juventa.

Wirtz, M. (2017): Dorsch. Lexikon der Psychologie. 18. Auflage, Bern: Hogrefe Verlag.

 

Beitragsbild: Anton und Josef Basche

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