By Published On: 6. September 2020Categories: Kommunikation, Psychologie, Wirtschaft

In Zeiten der politischen Krisen, fragwürdigen Präsidentschaftsentscheidungen und der kontinuierlich kritisierten Menschenrechtslage in der Türkei tauchen Menschenrechte und deren Einschränkungen oder Verletzungen immer wieder in den Medien auf. Selbst die Covid-19-bedingte Maskenplicht löst Debatten über Recht und Unrecht, Schutz und Menschenrechtswidrigkeit aus. Menschenrechte werden oftmals aus einer gesellschaftspolitischen, zum Teil sozioökonomischen Perspektive beleuchtet. Dabei kann die Betrachtung aus der psychologischen Perspektive äußerst sinnvoll sein, um die Dynamiken hinter der Befürwortung oder Missachtung von Menschenrechten zu verdeutlichen.

 

Universalität und Unteilbarkeit – Zwei unantastbare Grundsätze?

In Bezug auf Menschenrechte und deren Gültigkeit gelten Universalität und Unteilbarkeit als zwei äußerst wichtige Grundsätze. Ersterer meint die universelle, also überall gleiche, vom Kontext unabhängige Gültigkeit von Menschenrechten bzw. Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen. Letzterer meint, dass allen Menschenrechten, ungeachtet der Situation oder der Personenmerkmale, gleichgroße Wichtigkeit bemessen werden soll. Zunächst einmal schlüssig. Jedoch stellen Befunde aus empirischen Studien, insbesondere im Hinblick auf erstgenannten Grundsatz, diese Grundgedanken stark in Frage und begegnen ihnen mit einer wesentlichen These: Menschenrechte und deren Verletzungen werden kontextabhängig beurteilt. Wo also ist diese These einzuordnen und wie sind die Ergebnisse zu interpretieren?[1]

 

Aller Lösung liegt im Kontext?

Betrachten wir doch mal die Kontext(un)abhängigkeit etwas genauer. Universell beziehungsweise kontextunabhängig bedeutet in jeder Situation gültig, wie bereits festgehalten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um die einzelnen Menschenrechte als solche oder um die Verletzung ebendieser geht. Studien zeigen jedoch, dass eine Kontextunabhängigkeit im Sinne der Idealvorstellungen nicht vorliegt.[2] McFarland und Mathews (2005) konnten belegen, dass die Mehrheit der Befragten zwar die Umsetzung von Menschenrechten fordert, dem Wunsch allerdings weniger Wichtigkeit beigemessen wird, je stärker die Rechte mit nationalen Interessen kollidieren.[3] Ein Vergleich von 15 Items (darunter Menschenrechte wie auch nationale Ziele) zeigte eine deutliche Diskrepanz zwischen der Befürwortung von Menschenrechten und dem tatsächlichen Commitment: 61% der Befragten hielten die Förderung und den Schutz von Menschenrechten für wichtig (45%) oder gar sehr wichtig (16%), wohingegen die Menschenrechte bei der Frage nach einer Rangaufstellung verschiedener Ziele einen schlappen 12. Platz (von insgesamt 15) einnahmen, wenn sie nationalen Interessen gegenübergestellt wurden.[4] Im Klartext bedeutet das: Die Befürwortung mag zunächst groß sein, die Realität um die Verbindlichkeit sieht jedoch ganz anders aus.

Auch Staerklé und Clémence (2004) haben Untersuchungen zur Tolerierung von Menschenrechtsbrüchen unternommen. Ihre Antwort: Die sogenannte Principle Applicaton Gap. Im Grunde handelt es sich dabei um einen Widerspruch im Menschenrechtsgedanken: Während Menschenrechte allgemeinhin nahezu einvernehmlich befürwortet werden, werden konkrete Verstöße gegen dieselben Normen bis zu einem gewissen Grad toleriert. So haben die Befragten beispielsweise die Todesstrafe im Falle eines Mordes stärker befürwortet als bei einem Vergewaltigungstäter.[5]

Drolet et al. (2016) konnten in dem Zusammenhang nachweisen, dass die Tolerierung von Menschenrechtsverstößen von der individuellen Wahrnehmung darüber, ob das Subjekt aufgrund seiner vorausgegangenen Handlungen eine harte Strafe verdient hat, abhängt. Obgleich die meisten Befragten dem allgemeinen Menschenrechtsgedanken zustimmten, nahm die Befürwortung eines humanen Umgangs mit dem Subjekt (aus fiktiven Szenarien) ab, sobald Zweifel darüber aufkamen, ob es das denn verdient hätte. Im Umkehrschluss waren die Befragten bei diesem Studiendesign dem Akt der Folter – und somit dem Verstoß gegen ein grundlegendes Menschenrecht – weniger abgeneigt.[6]

Zuletzt kann man als Kontext auch die Länderzugehörigkeit betrachten. Bei der Frage, ob Menschenrechtsverletzungen unterschiedlich beurteilt würden, abhängig davon, ob es sich um Verstöße durch die eigene Regierung oder die eines fremden Landes handelte, ist das Ergebnis recht überraschend: Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land erhalten mehr Zustimmung als jene im Ausland. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Tolerierung von solchen Verstößen abhängig vom kulturellen Kontext ist.[7] Im öffentlichen Diskurs wird häufig auf Menschenrechtsverletzungen verwiesen, um für oder gegen bestimmte politische Entscheidungen zu argumentieren. Ein Beispiel für ein solches Argument zugunsten einer politischen Aktion ist die Rechtfertigung militärischer Interventionen, indem auf massive Menschenrechtsverletzungen im Zielland hingewiesen wird – unabhängig davon, ob der militärische Akt gleichermaßen mit ebendiesen einhergeht.[8] Demnach bedrohen Verletzungen gegen Menschenrechte im eigenen Land die (positive) soziale Identität, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Nation ergibt. Entsprechende „Gegenreaktionen“, wie zum Beispiel Bagatellisierung, sind die Folge.[9]

 

Abschließendes: Zwischen Akzeptanz, Toleranz und Logik

Die angerissenen empirischen Befunde bilden erfolgreich die psychologische Perspektive zu einem sozialpolitischen Thema ab. Sie machen deutlich, dass das Wissen um die Wichtigkeit von Menschenrechten noch keine Determinante für universelle Befürwortung ist. Vielmehr zeigen sie auf, dass vermeintlich unerschütterliche Grundsätze offenkundig „anfällig“ sind für Kontextfaktoren. Dabei handelt es sich sich nicht einmal um die Ablehnung durch Fanatiker oder andere extreme Gruppen[10], sondern durchaus um allgegenwärtige Gedankengänge von Demokraten und Menschenrechtlern. Sie veranschaulichen, dass die Universalität von Menschenrechten in der Realität nicht problemlos umsetzbar ist, sofern Menschenrechtsbildung lediglich auf Ebene der Wissensvermittlung stattfindet. Medieneinflüsse im Sinne der Reduktion von Menschenrechten auf bürgerliche Menschenrechte tragen zudem dazu bei, dass wirtschaftlichen Menschenrechten und denen der dritten Generation nur wenig Beachtung geschenkt wird – gänzlich entgegen dem Unteilbarkeitsgrundsatz.[11] Sozialisationserfahrungen, Persönlichkeitsbildung und ethische Erziehung sind weitere Komponenten, die zu einem realitätsnahen, differenzierten Bild von Menschenrechsnormen und Verstößen gegen die selbigen beitragen.[12]

 

 

 

 

[1] Vgl. Sommer/Stellmacher (2009), S. 95

[2] Vgl. Sommer/Stellmacher (2009), S. 95-96

[3] Vgl. McFarland/Mathews (2005), S. 367

[4] Vgl. McFarland/Mathews (2005), S. 377

[5] Vgl. Staerklé/Clémence (2004), S. 395-397

[6] Vgl. Drolet et al. (2016), S. 437, 449

[7] Vgl. Moghaddam/Vuksanovic (1990), nach Sommer/Stellmacher (2009), S. 97-98

[8] Vgl. Cohrs et al. (2007), S. 442

[9] Vgl. Sommer/Stellmacher (2009), S. 106-107

[10] Vgl. McFarland/Mathews (2005), S. 383

[11] Vgl. Sommer/Stellmacher (2009), S. 160

[12] Vgl. Sommer/Stellmacher (2009), S. 116

 

 

Quellenverzeichnis

 

Cohrs, C./ Maes, J./ Moschner, B./ Kielmann, S. (2007). Determinants of Human Rights Attitudes and

Behavior: A Comparison and Integration of Psychological Perspectives. Political Psychology, Vol. 28(4), 441-470.

Drolet, C. E./ Hafer, C. L./ Heuer, L. (2016). The Role of Perceived Deservingness in the Toleration of

Human Rights Violations. Social Justice Research, Vol. 29, 429-455.

McFarland, S./ Mathews, M. (2005). Who Cares About Human Rights? Political Psychology, Vol.

26(3), 365-385.

Moghaddam, F. M./ Vuksanovic, V. (1990). Attitudes and Behavior Toward Human Rights Across

Different Contexts: The Role of Right-Wing Authoritarianism, Political Ideology and Reli-

giosity. International Journal of Psychology, Vol. 25(2), 455-474.

Sommer, G./ Stellmacher, J. (2009). Menschenrechte und Menschenrechtsbildung. Eine psychologische

Bestandsaufnahme. Wiesbaden: VS Verlag.

Staerklé, C./ Clémence, A. (2004). Why People are Committed to Human Rights and Still Tolerate

Their Violation: A Contextual Analysis oft he Principle-Application Gap. Social Justice Research, Vol. 17(4), 389-406.

Beitragsbild: CC0 von https://pixabay.com/de/illustrations/vereinten-nationen-welt-flagge-un-1184119/

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