Stress und psychische Gesundheit von Gründer*innen und Freiberufler*innen
Selbstständigkeit – Traum oder Idealisierung?
Für viele ist es ein Lebenstraum: Abseits von Vorgesetzten und Karriereleiter sein eigener Chef sein. Sich selbstständig machen oder ein Unternehmen zu gründen klingt verlockend – Aber ist es das auch?
„Viel zu oft wird die Realität selbstständiger Tätigkeit idealisiert.“(Moser, Zempel, Galais & Batinic, 2000, S. 148)
Tatsache ist: Wer gründet oder sich selbstständig macht ist im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen erheblichen Belastungen ausgesetzt (Moser et al., 2000, S. 137–138). So sind psychosomatische Beschwerden durch eine Schuldensituation oder finanzielle Engpässe keine Seltenheit (Clasen, 2012, S. 102; Moser et al., 2000, S. 145–146). Rollenkonflikte durch den Spagat zwischen beruflichen und privaten Anforderungen sind ebenfalls ein Risikofaktor für ein hohes Maß an Stress und Überforderung, der eigene Qualitätsanspruch verschlimmert die Situation zusätzlich (Buttner, 1992, S. 225). Zu guter Letzt beeinflusst das hohe Maß an Verantwortung und der damit verbundene Druck psychische und physische Gesundheit (Buttner, 1992, S. 225; Moser et al., 2000, S. 148). Gründer*innen sind oft Vertriebler, Buchhalter, Netzwerker und Kompetenzträger in einem – Eine enorme Verantwortung, die die Leistungsfähigkeit des Einzelnen übersteigen kann und zu Überforderung führen kann (Buttner, 1992, S. 225).
Übermäßige Selbstausbeutung, grenzüberschreitende Verausgabung und das Nicht-Ernstnehmen von krankhafter Stresssymptomatik und Erholungsbedarf ist unter Selbstständigen häufig an der Tagesordnung (Kieschke & Schaarschmidt, 2003, S. 108). Folgen dieses hohen Stresslevels können psychische Erkrankungen (Depression, Burnout, Angststörungen), Erschöpfung, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einige weitere mehr sein (Allenspach & Brechbühler, 2005, S. 32). 72% der in einer Studie von Michael A. Freeman befragten US-amerikanischen Unternehmer*innen geben an, mit ernsthaften psychischen Beschwerden zu kämpfen. Allen voran klagen 30% über eine Depression, ebenso vertreten sind Substanzmissbrauch und Angststörungen (Freeman, Johnson, Staudenmaier, 2015, S. 2-3)
Theorieübersicht – Stress und Coping
Sind Gründer*innen diesen psychischen und psychosomatischen Stress-Folgeschäden schutzlos ausgeliefert? Nicht ganz – der Aufbau eigener Bewältigungsstrategien kann das Stressausmaß sehr wohl verringern. Nach dem transaktionalen Stressmodell nach Lazarus entsteht Stress nicht allein durch objektive Belastungen (=Stressoren), sondern erst durch deren interne Bewertung (Kauffeld, Ochmann & Hoppe, 2019, S. 315–316; Kauffeld, 2019, S. 315–316; Litzcke, Schuh & Pletke, 2013, S. 4). Stress kommt also erst auf, wenn die Person eine Situation als bedrohlich wahrnimmt und die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Situationsbewältigung als nicht ausreichend einschätzt (Kauffeld et al., 2019, S. 316). „Stehen Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung, wird sich der Stress in erträglichem Maß halten.“ (Litzcke et al., 2013, S. 5).
Wie (konstruktiv) Stress bewältigt wird hängt unter anderem von den verfügbaren persönlichen Ressourcen ab. Sie können Stress vermeiden oder abmildern (Hahn & Dormann, 2013, S. 558; Kaluza, 1996, S. 39–48). Zu diesen Ressourcen zählen insbesondere die soziale Unterstützung. Soziale Kontakte stärken den Selbstwert, leisten instrumentelle Hilfe durch Ratschläge und Feedback oder materielle und praktische Hilfe (monetäre Unterstützung, Unterstützung im Alltag) (Kaluza, 1996, S. 40). Eine weitere wichtige Ressource stellt vorhandener Optimismus und die empfundene Selbstwirksamkeit dar. Optimismus bedeutet dabei nicht ein unrealistisches „Schönreden“ auswegloser Situationen, sondern eine realistische Grundüberzeugung, dass man auf Handlungen zur Problembewältigung zurückgreifen kann und diese auch selbst ausführen kann (Selbstwirksamkeit) (Kaluza, 1996, S. 43–44). Die dritte wichtige Ressource zur Stressbewältigung wird in der Literatur als „Hardiness“ bezeichnet. Sie beinhaltet im wesentlichen drei Komponenten: (1) Commitment als innerliche Verbindung und Überzeugung zu seiner Tätigkeit, (2) Kontrolle und (3) Herausforderung als Neugierde auf neue, positive Chancen (Kaluza, 1996, S. 45). Außerdem spielt der sogenannte Kohärenzsinn eine wichtige Rolle bei der Stressbewältigung. Kohärenzsinn beinhaltet (1) das Gefühl der Verstehbarkeit, das Gefühl der Machbarkeit, d.h. das eigene Ressourcen als geeignet und ausreichend für anstehende Anforderungen angesehen werden, und das (3) Gefühl der Sinnhaftigkeit, d.h. das Betroffene die Anforderungen als sinnvolle Herausforderungen sehen, die notwendig sind, um einen wichtigen Beitrag zu leisten (Kaluza, 1996, S. 46–47).
Lösungsansätze – Coaching Begleitung
Eine professionelle Coaching-Intervention kann Selbstwirksamkeit steigern und Stress mindern (Fischer, 2020, S. 204–205). Um den enormen Anforderungen während einer Gründung standhalten zu können, ist eine derartige Begleitung in ratsam und hilfreich Sie soll darauf abzielen, die angesprochenen Ressourcen gegen Stress zu aktivieren. Für das Coaching empfehlen sich unter anderem folgende erste Ansatzpunkte:
- Aufgabe einer zielführenden Gesundheitsförderung für Gründer*innen ist es, gemeinsam mit der/dem Betroffenen vorhandene soziale Potentiale auszuloten und zu mobilisieren (Kaluza, 1996, S. 41). Soziale Unterstützung kann auch durch eine kollegiale Beratung zwischen Gründer*innen oder eine Gemeinschaft in einem Co-Working-Space gegeben werden.
- Aufgabe einer Gesundheitsförderung für Gründer*innen muss es zudem sein, dabei zu unterstützen, die herausfordernde Situation anzunehmen und das Vertrauen und die Überzeugung in eigene Kompetenzen zu fördern.
- Um Kontrolle und positive Einstellungen zu neuen Herausforderungen zu ermöglichen, gilt es, hinderliche Denkmuster und -wahrnehmungen mit den Betroffenen zu reflektieren und anzunehmen sowie neue, konstruktive Denkmuster zu erarbeiten („Wie bewerten Sie die Situation? Was denken Sie wäre stattdessen ein hilfreicher Gedanke?“)
Fazit
Das Bewusstsein für psychische Gesundheit bei Gründer*innen ist in Forschung und Praxis in Deutschland, aber auch darüber hinaus noch unterrepräsentiert (Clasen, 2012, S. 98–99; Kieschke & Schaarschmidt, 2003, S. 107; Rau et al., 2008, S. 115; White & Gupta, 2020, S. 71–77). Auch die Praxis bestätigt dieses Bild: Förderprogramme zur Unterstützung von Gründer*innen bieten Hilfe in verschiedenen Bereichen – so bspw. betriebswirtschaftliche oder steuerrechtliche Aufklärung. Beratung und Unterstützung hinsichtlich persönlicher Ressourcen und zum Aufbau von Coping-Strategien umfassen bestehende Programme jedoch kaum (Kieschke & Schaarschmidt, 2003, S. 107–108).
Hinsichtlich der genannten Situation und Auswirkungen ist das ein unverständliches Bild. Wenn wir das Potential innovativer, mutiger Gründer*innen wirklich nutzen möchten, muss mentale Gesundheitsförderung für Gründer*innen fest in staatlichen Gründerprogrammen verankert werden.
Literatur
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