Denken Sie, dass Sie helfen würden, wenn Sie sehen würden, wie ein anderer Mensch angegriffen wird? Würden Sie eingreifen oder die Polizei rufen? Die meisten Menschen nehmen vermutlich an, dass sie auf irgendeine Art und Weise helfen würden. Umso schockierender war ein Ereignis, das sich 1964 in New York abspielte. Eine Frau namens Kitty Genovese wurde in einer Gasse mitten in einem Wohnviertel zwischen zwei Wohnblocks ermordet. 38 Personen, die in diesen Wohnblocks wohnten, berichteten, dass sie den Vorfall vom Fenster aus durch die Schreie von Kitty Genovese mitbekommen haben. Jedoch hat keine Person geholfen oder die Polizei gerufen (Darley & Latané, 1968, S. 377).
Dieser Vorfall führte zu einer umfangreichen Forschung von Latané und Darley. Sie stellten die Hypothese auf, dass je mehr Personen bei einer solchen Situation anwesend sind, das Hilfeverhalten einzelner Personen abnimmt. Sie gingen also davon aus, dass im Fall von Kitty Genovese niemand geholfen hat, gerade weil die Nachbarn sich gegenseitig gesehen haben. Allerdings haben sie nicht genau gesehen, was die anderen machen und könnten daher angenommen haben, dass jemand sicher schon etwas unternommen hat. Diesen Effekt nannten sie Bystander-Effekt (Darley & Latané, 1968, S. 377–378). Er beschreibt den Sachverhalt, dass mit einer steigenden Anzahl an Personen in einer Notsituation die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person eingreift und dem Opfer hilft, sinkt (Fischer, Jander & Krueger, 2018, S. 59).
Fünf-Stufen-Modell
Zur Erklärung dieses Effekts haben Latané und Darley (1970) in einem Prozessmodell fünf Stufen beschrieben (s. Abbildung 3). Diese sind notwendig, um in einer Notsituation aktiv einzugreifen (Fischer et al., 2018, S. 60).
Der erste Schritt beinhaltet die Wahrnehmung einer Situation. Etwas muss also erst bemerkt werden, damit sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Dies kann z. B. durch Ablenkung aufgrund von Autolärm oder durch Eile verhindert werden. Wenn die Notsituation wahrgenommen wurde, muss sie im zweiten Schritt richtig interpretiert und als Notfall eingeschätzt werden. Danach muss sich eine Person im dritten Schritt auch dafür verantwortlich fühlen, zu helfen und einzugreifen. Wenn sich eine Person verantwortlich fühlt, ist es in einem vierten Schritt relevant, dass sie auch weiß, wie sie Hilfe leisten kann und die dafür notwendigen Fähigkeiten besitzt. Wenn diese Aspekte erfüllt sind, fällt im fünften Schritt schließlich die Entscheidung, ob geholfen wird oder nicht. Geholfen wird dann, wenn der Nutzen größer ist, als die entstehenden Kosten, wenn also z. B. die Rettung des Opfers dem Zeitaufwand überwiegt (Fischer et al., 2018, S. 60–61, nach Latané & Darley, 1970).
Faktoren, die den Bystander-Effekt beeinflussen
Die pluralistische Ignoranz beeinflusst v. a. den zweiten Schritt. Diese beschreibt die Tatsache, dass seltener eingegriffen wird, wenn andere Menschen dabei beobachtet werden, wie sie die Notsituation bemerken, aber nicht eingreifen. V. a. in Situationen, in denen nicht offensichtlich ist, ob es sich wirklich um einen Notfall handelt. Der dritte Schritt unterliegt der Beeinflussung der Verantwortungsdiffusion, welche die Tendenz zur Verteilung von Verantwortung auf andere anwesende Personen beschreibt. Je mehr Personen anwesend sind, desto geringer wird die wahrgenommene Verantwortung für sich selbst. Die Entscheidung zur Hilfeleistung wird außerdem von der Bewertungsangst beeinflusst. Diese beschreibt die Angst von anderen Anwesenden negativ beurteilt zu werden oder sich zu blamieren. Dies wird v. a. dann verstärkt, wenn mangelndes Wissen zur Hilfeleistung vorliegt (Fischer et al., 2018, S. 61–62 nach Latané & Darley, 1970).
Außerdem ist der Bystander-Effekt in städtischen Gebieten stärker anzutreffen als auf dem Land (Merrens, 1973, S. 327–328). Die Ablenkung durch Umgebungsreize, also die Informationsüberlastung, ist in der Stadt stärker (Milgram, 1970, S. 1468), weshalb die Wahrnehmung von Notfällen erschwert wird oder ganz entfällt. Wenn eine Situation nicht eindeutig als Notfall zu erkennen ist, wird der Effekt zusätzlich verstärkt. Der Bystander-Effekt ist seltener zu beobachten, wenn die Beobachtenden sich kennen und befreundet sind, wenn das Wissen vorhanden ist, wie geholfen werden kann und wenn klar erkennbar ist, dass jemand Hilfe braucht (Fischer et al., 2011, S. 535).
Handlungsempfehlungen
Um sich auf Verhalten in Notsituationen vorzubereiten, gibt es spezielle Trainings mit dem Ziel, theoretisches Wissen zu vermitteln und bestimmte Verhaltensweisen aktiv im Rahmen von Rollenspielen zu üben (Gerhardinger, 2016, S. 302). Jonas und Brandstätter (2004, S. 192) stellten fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Handlungsentschlossenheit und -routine sowie Selbstvertrauen zunehmen, größer wird, je öfter eine aktive Hilfeleistung geübt und kompetent gemeistert wurde (Jonas & Brandstätter, 2004, S. 192). In den Rollenspielen wird z. B. erlernt, wie andere Beobachtende aktiv angesprochen und für eine gemeinsame Hilfeleistung mobilisiert werden können. Dann können Aufgaben aufgeteilt und Fähigkeiten summiert werden, wodurch das Risiko, selbst angegriffen zu werden, sinkt. Ebenfalls kann Erziehung und Bildung auf die Ausprägung von Zivilcourage Einfluss nehmen. Dabei sollen altersgerechte Tipps gegeben, aber immer auch der Selbstschutz betont werden. Auch durch die Übernahme von Vorbildrollen können entsprechende Vorerfahrungen gemacht werden, die es in Notsituationen erleichtern, einzugreifen (Gerhardinger, 2016, S. 303).
Wenn einmal selbst Hilfe benötigt wird, ist es sinnvoll, auf sich selbst aufmerksam zu machen und bestimmte Personen verantwortlich fühlen zu lassen, indem bspw. direkt mit dem Finger auf jemanden gezeigt und um Hilfe gebeten wird (Gerrig, 2018, S. 697).
Fazit
Insgesamt ist Zivilcourage ein wichtiger Faktor in unserer Gesellschaft. Auch im Fall von Kitty Genovese hätte ihr Tod eventuell durch früheres Eingreifen verhindert werden können. Es sollte sich mehr mit dem Thema auseinandergesetzt werden, um in entsprechenden Situationen auf Vorwissen zurückgreifen zu können und das Eingreifen zu erleichtern. Denn vielleicht sind wir selbst einmal in einer Situation, in der die Hilfe von anwesenden Personen zur Lebensrettung wird.
Literaturverzeichnis
Darley, J. M. & Latané, B. (1968). Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of personality and social psychology, 8(4), 377–383. https://doi.org/10.1037/h0025589
Fischer, P., Jander, K. & Krueger, J. I. (2018). Sozialpsychologie für Bachelor (Springer-Lehrbuch, 2. Auflage). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56739-5
Fischer, P., Krueger, J. I., Greitemeyer, T., Vogrincic, C., Kastenmüller, A., Frey, D. et al. (2011). The Bystander-Effect: A Meta-Analytic Review on Bystander Intervention in Dangerous and Non-Dangerous Emergencies. Psychological Bulletin, 137(4), 517–537. https://doi.org/10.1037/a0023304
Gerhardinger, F. (2016). Zivilcourage. In D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte. Von Achtsamkeit bis Zivilcourage – Basiswissen aus Psychologie und Philosophie (S. 295–306). Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-48014-4_26
Gerrig, R. J. (Hrsg.). (2018). Psychologie (Pearson Studium, 21., aktualisierte und erweiterte Auflage). Hallbergmoos: Pearson.
Jonas, K. J. & Brandstätter, V. (2004). Zivilcourage. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 35(4), 185–200. https://doi.org/10.1024/0044-3514.35.4.185
Latané, B. & Darley, J. M. (1970). The unresponsive Bystander. Why doesn’t he help? (Century psychology series). Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
Merrens, M. R. (1973). Nonemergency Helping Behavior in Various Sized Communities. The Journal of Social Psychology, 90(2), 327–328. https://doi.org/10.1080/00224545.1973.9712577
Milgram, S. (1970). The experience of living in cities. Science (New York), 167(3924), 1461–1468. https://doi.org/10.1126/science.167.3924.1461
Beitragsbild
Akyurt, E. (2017). Zug Wagen Menschen die Menge Fuß: pixabay. Zugriff am 19.03.2022. Verfügbar unter: https://pixabay.com/de/photos/zug-wagen-menschen-die-menge-fu%c3%9f-2373323/