In Berlin wurde kürzlich das Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt (Tagesschau, 2022). Dieses soll in Zukunft das seit 1980 bestehende Transsexuellengesetz (TSG) ersetzen, das von vielen Seiten als „entwürdigend“ (Tagesschau, 2022) kritisiert wird. Es behandle betroffene Personen „wie Kranke“ (Tagesschau, 2022), so Justizminister Buschmann. Eine Reformation ist längst überfällig, da sind sich viele Parteien einig – doch der neue Entwurf stößt nicht ausnahmslos auf fruchtbaren Boden. Der Jugendpsychiater Alexander Korte, der seit etwa 20 Jahren Jugendliche behandelt, deren Geschlechtsidentität nicht mit den eigenen biologischen Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt und die aufgrund dessen einen starken Leidensdruck verspüren, unterstützt zwar die Forderung nach einer Überarbeitung des TSG, hält das aktuell diskutierte Selbstbestimmungsgesetz jedoch für gefährlich (taz, 2022).
Namen und Geschlecht ändern: schnell und unbürokratisch
Um Namen und Geschlecht auf dem Papier ändern zu können, erfordert die Vorgehensweise gemäß TSG zwei psychiatrische Gutachten, in deren Rahmen intime Fragen beantwortet werden müssen (dgti, 2022). Zwar entscheidet das Gericht in 99 % der Fälle für die Antragsstellenden, doch ist der Prozess nichtsdestotrotz belastend, langwierig und teuer. Das Selbstbestimmungsgesetz soll Abhilfe schaffen: Einmal pro Jahr sollen deutsche Staatsbürger*innen die Möglichkeit haben, ihren Personenstand ändern zu lassen – einfach, schnell, unkompliziert (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2022). Im Prinzip ein simpler Verwaltungsakt, der weder psychiatrische Gutachten noch fachärztliche Atteste erfordert. Für die Betroffenen ein langersehnter Erfolg, der künftig viel Leid ersparen soll.
„Es ist hip, trans zu sein.“
(taz, 2022) – so der Jugendpsychiater Alexander Korte. Eine Wortwahl, die sich zugegebenermaßen schwierig liest. Doch die Zahlen zeigen tatsächlich einen deutlichen Anstieg von Jugendlichen, die sich als gegengeschlechtlich identifizieren, etwa 80 % davon biologisch weibliche Personen (Ärzteblatt, 2018). Zweifellos haben trans* Menschen in den letzten Jahren deutlich mehr Sichtbarkeit erfahren, was automatisch zu mehr persönlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Outings führt. Doch reicht dieser Umstand allein aus, um eine derartige Entwicklung hinreichend erklären zu können? Korte jedenfalls warnt: vor Selbstbestimmungsgesetzen, der „Transgender-Ideologie“ und einer Debatte, die zu viel auf Emotionen und zu wenig auf Fakten beruht (taz, 2022). Doch was sind eigentlich „die Fakten“?
Zwischen psychischer Störung …
Wenn das subjektive Erleben der eigenen Geschlechtsidentität nicht mit den eigenen biologischen Geschlechtsmerkmalen übereinstimmt, spricht man von Geschlechtsinkongruenz (Nieder, Briken & Richter-Appelt, 2013, S. 383). Dieser Umstand allein wird jedoch noch nicht als Störung betrachtet (Brown, 2019). Erst wenn es durch die Nichtübereinstimmung zu einem starken, anhaltenden Leidensdruck kommt, der oftmals mit Depression und Ängsten einhergeht, wird auf die Diagnose der Geschlechtsdysphorie zurückgegriffen (Brown, 2019). Transsexualität wird gemäß diesen Schemas als eine extreme Form von Geschlechtsdysphorie aufgefasst, bei der ein ausdrücklicher Wunsch besteht, den Körper medizinisch und/oder chirurgisch an das erlebte Geschlecht anzugleichen (Brown, 2019). In der ICD-10-GM (Version 2022) wird „Transsexualismus“ (F64.0) als eine „Geschlechtsidentitätsstörung“ beschrieben und den „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ (F6) zugeordnet (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2021). Wie eine Geschlechtsdysphorie genau entsteht, ist nicht abschließend geklärt, Untersuchungen weisen jedoch sowohl auf einen Einfluss der pränatalen Hormonumgebung als auch genetische Dispositionen hin (Brown, 2019). Außerdem tragen auch soziale Faktoren wie die Mutter-Kind-Beziehung zur Entwicklung der Geschlechtsidentität bei.
… und sozialer Identität
Die Barrieren, mit denen sich trans* Menschen konfrontiert sehen, werden nach und nach abgebaut. Neben dem Selbstbestimmungsgesetz wird auch die Klassifizierung gemäß ICD-11 Transsexualität entpathologisieren und damit nicht mehr als psychische Krankheit begreifen, um so einer zusätzlichen Stigmatisierung entgegenzuwirken (Nieder, Briken & Richter-Appelt, 2013, S. 376). Nichts, was den betroffenen Personen hilft, meint Korte (taz, 2022). Denn die Einstufung als krankheitsbezogene Störung ist mitunter entscheidend, wenn es darum geht, welche medizinischen Leistungen von der Krankenkasse übernommen werden. Warum sich immer mehr Jugendliche als gegengeschlechtlich identifizieren, lässt sich bisher nicht stichhaltig erklären. Der Jugendpsychiater spricht von einer „neuartigen Identifikationsschablone“ (taz, 2022), von der insbesondere weibliche Jugendliche Gebrauch machen – doch nur in seltenen Fällen aufgrund von „echter“ Transsexualität. Vielmehr stecken häufig innere Konflikte in Bezug auf die eigene Sexualität, der Druck rigider Geschlechterrollen und Schönheitsideale sowie unter Umständen auch eine sexuelle Traumatisierung der Mutter hinter dem Leid „im falschen Körper zu leben“, meint Korte (taz, 2022). Er warnt, dass Maßnahmen wie das Selbstbestimmungsgesetz zu einer „transaffirmativen Grundhaltung“ (Korte, 2022) führen und der Wunsch, im anderen Geschlecht zu leben, zu keinem Zeitpunkt mehr kritisch hinterfragt wird.
Eine verfahrene Debatte
Trans* Menschen sind häufig betroffen von Intoleranz, Stigmatisierung, Diskriminierung und Gewalt. Dagegen muss auch weiterhin mit voller Kraft vorgegangen werden, denn jeder Mensch hat, unabhängig von seiner Geschlechtsidentität, das Recht auf ein Leben in Sicherheit und Würde. Jedes einzelne Schicksal muss gehört werden und jede leidende Person die Hilfe bekommen, die sie braucht, wie auch immer diese aussehen mag. Korte fordert, die Debatte „aus den Elfenbeintürmen der Wissenschaft, den geschlossenen Zirkeln einer kleinen woken Minderheit und den subkulturellen Milieus der Generation Z hinaus in die Mitte der Gesellschaft zu bringen“ (2022). Eine sachliche Diskussion ist jedoch schwierig, da sich insbesondere kritische Stimmen schnell mit dem Vorwurf der Transphobie konfrontiert sehen. Doch die Transgender-Debatte fußt auf etlichen Fragen, die sich nur schwer bis unmöglich beantworten lassen. Sie gleichermaßen emotionalisiert wie intellektualisiert. Begrifflichkeiten sind nicht eindeutig und werden nicht einheitlich verwendet. Es herrscht innerhalb der Community und darüber hinaus kein Konsens bezüglich gewisser Grundannahmen, die jedoch gegeben sein müssen, um konkrete Lösungen für komplexe Fragestellungen zu finden. Es ist unklar, in welchen Fällen es sich um „Transsexualität“ oder „Transidentität“ in Form einer Geschlechtsdysphorie handelt und welchen es „nur“ um die Ablehnung stereotyper Geschlechterrollen geht. Alles vor dem Hintergrund uralter Grundsatzdiskussionen über die Definition von Konstrukten wie „Krankheit“, „Geschlecht“ oder „Identität“. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird zumindest der rechtliche Aspekt der Geschlechtsänderung deutlich vereinfacht – Dürfen wir uns die Frage stellen, ob der Weg ins andere Geschlecht auch zu barrierefrei, zu unkompliziert, zu schnell sein kann? Insbesondere dann, wenn auch vermehrt medizinische und chirurgische Maßnahmen gefordert werden, deren Auswirkungen tiefgreifend und teils irreversibel sind, sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer Ebene.
Was letzten Endes zählt
Inmitten der Diskussionen über Geschlecht und Gender, Krankheit und Identität, Gesetz und Klassifizierung darf vor allem eins nicht aus dem Blick verloren werden: der real leidende Mensch. Das tatsächliche Leid betroffener Personen ist vielleicht sogar die einzig reale Sache in der ganzen Debatte. Und tragische Schicksale gibt es auf beiden Seiten der Geschichte. Wir brauchen einen differenzierten Blick auf jedes Individuum und eine klare Trennung zwischen denjenigen Menschen, die den mit starkem Leid verbundenen Wunsch verspüren, biologisch gesehen im anderen Geschlecht zu leben und denjenigen, die sich aufgrund gesellschaftlicher Normen unter Druck gesetzt fühlen und sich nicht in starre Geschlechterschablonen pressen lassen wollen. Denn das eine hat mit dem anderen möglicherweise nichts zu tun. In der Diskussion werden all diese Menschen jedoch häufig in einen Topf geworfen – womit letzten Endes niemandem geholfen ist. Der „richtige“ Weg scheint weiterhin im Dunkeln zu liegen. Um diesen zu finden, müssen wir jedoch auch kritische Fragen stellen und Maßnahmen anzweifeln dürfen. Insbesondere dann, wenn wir zu wenig über Ursachen und Wirkungen wissen und wir uns mit Entwicklungen konfrontiert sehen, für die wir (noch) keine Erklärung haben.
Quellen:
Ärzteblatt (2018). Zahl transsexueller Kinder gestiegen. Zugriff am 27.07.2022. Verfügbar unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/99311/Zahl-transsexueller-Kinder-gestiegen
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2022). Fragen und Antworten zum Selbstbestimmungsgesetz. Zugriff am 26.07.2022. Verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gleichgeschlechtliche-lebensweisen-geschlechtsidentitaet/fragen-und-antworten-zum-selbstbestimmungsgesetz-199332
Brown, G. R. (2019). Genderdysphorie und Transsexualität. Zugriff am 24.07.2022. Verfügbar unter https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/sexualit%C3%A4t-geschlechtsdysphorie-und-paraphilias/genderdysphorie-und-transsexualit%C3%A4t
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2021). ICD-10-GM Version 2022. Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99). Zugriff am 26.07.2022. Verfügbar unter https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2022/block-f60-f69.htm
Dgti (2022). Umfrage zur Begutachtung und dem Verfahren nach Transsexuellengesetz (TSG). Zugriff am 26.07.2022. Verfügbar unter https://dgti.org/2022/04/03/tsgumfrage/
Korte, A. (2022). Transgender-Debatte. Kehren wir zurück zu einem Dialog – dem Kindeswohl und der Wissenschaft zuliebe. Zugriff am 24.07.2022. Verfügbar unter https://www.welt.de/debatte/kommentare/article239506163/Transgender-Debatte-Kehren-wir-zurueck-zu-einem-Dialog.html
Nieder, T. O., Briken, P. & Richter-Appelt, H. (2013). Transgender, Transsexualität und Geschlechtsdysphorie: Aktuelle Entwicklungen in Diagnostik und Therapie. PSYCH up2date, 7(06), S. 373-388.
Tagesschau (2022). Neues Selbstbestimmungsgesetz. Geschlechtseintrag künftig leichter zu ändern. Zugriff am 20.07.2022. Verfügbar unter https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/neues-selbstbestimmungsgesetz-101.html
Taz (2022). Jugendpsychiater über Transidentität. „Es ist hip, trans zu sein.“ Zugriff am 20.07.2022. Verfügbar unter https://taz.de/Jugendpsychiater-ueber-Transidentitaet/!5845336/
Bildquelle:
Czerwisnki, P. (2021). Pink and white smoke illustration photo. Zugriff am 28.07.2022. Verfügbar unter https://unsplash.com/photos/y2lCFKGZEXI