Kratzen, drücken, pulen, quetschen. Jeder weiß, dass das Herumfummeln an einer Kruste, an einem Pickel oder an einem Stich kontraproduktiv ist und dennoch hat es jeder bereits gemacht. Was aber, wenn sich das unbedenkliche, gelegentlich im Alltag auftretende Hautknibbeln in eine exzessive Handlung verwandelt? Der folgende Blogbeitrag soll über das sogenannte Skin Picking aufklären und Handlungsempfehlungen für Betroffene geben.
Skin Picking – eine ernstzunehmende Erkrankung
Der zwanghafte Drang, die Haut exzessiv zu bearbeiten, findet sich sowohl im DSM-5 als auch im ICD-11 im Bereich der Zwangsspektrumsstörungen unter dem Fachbegriff Dermatillomanie. Auch bekannt als „Skin-Picking-Störung“ äußert sie sich durch wiederholte und eingeschliffene, maladaptive Verhaltensmuster. Sie weist jedoch, im Vergleich zu anderen Zwangsspektrumsstörungen, keine auffälligen Zwangsgedanken auf (Zaudig, 2022, S. 664). Vielmehr verspüren Betroffene einen kaum zu widerstehenden, inneren Drang, verschiedene, meist leicht zugängliche Hautstellen zu kratzen, zu drücken, zu reiben oder zu quetschen. Dies geschieht entweder reflexartig und unbewusst (z. B. beim Lesen, Telefonieren) oder bewusst mithilfe von Fingernägeln oder anderen scharfen Gegenständen. Bei den bearbeiteten Hautarealen handelt es sich häufig um Hautunreinheiten, Insektenstiche, Wunden, Muttermale und Narben. Selten erfolgt eine Beschädigung gesunder Haut (Winterhagen, 2019, S. 56).
Diagnosekriterien der Dermatillomanie |
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▪ Dranghaftes, wiederholtes Bearbeiten der Haut, das zu Hautläsionen führt ▪ mehrere erfolglose Versuche, die Hautbearbeitung zu unterbinden ▪ führt zu klinischen bedeutsamen Einschränkungen in beruflichen, sozialen oder anderen Funktionsbereichen ▪ ist nicht auf physiologische Substanzwirkungen oder medizinische Krankheitsfaktoren zurückzuführen ▪ die Symptome können nicht besser durch eine andere psychische Erkankung erklärt werden |
Prävalenz und Ursache
Rund 2 bis 5% der Bevölkerung leiden unter Dermatillomanie, ein Großteil davon sind Frauen. Die Dunkelziffer der Männer dürfte aber sehr viel höher liegen. Auslöser sind weniger Bedenken bezüglich des Aussehens, sondern vielmehr vorhergehende Spannungsgefühle und Ängste, die infolge des Knibbelns reduziert werden. Nichtsdestotrotz können auch soziokulturelle Einflussfaktoren wie gesellschaftliche Schönheitsideale ihren Teil dazu beitragen (Mehrmann, Gerlach & Hunger, A, 2017, S. 483; Phillips & Stein, 2018; Winterhagen, 2019, S. 56).
Häufig entwickelt sich die Krankheit in der frühen Jugend infolge einer Hauterkrankung. Ein weiterer Erkrankungsgipfel findet sich jedoch auch im mittleren Erwachsenenalter, wobei das erstmalige Auftreten in der Adoleszenz oft mit interpersonellen und psychischen Belastungen, hohen Leistungsanforderungen sowie traumatischen Bedingungen assoziiert wird. So leiden viele Erwachsene zeitgleich an einer Angststörung. Generell wird der starke Hautbearbeitungsdrang durch spezifische externale und internale Trigger ausgelöst. Internale Trigger sind z. B. affektive Zustände wie Anspannung, Langeweile, Angst und starke Konzentration. Ebenfalls können spezifische Gedanken wie „Ich werde nur diese eine Unreinheit entfernen“ den Drang auslösen oder verstärken. Eine weitere wichtige Rolle spielt die visuelle und taktile Wahrnehmung der Hautunebenheiten. Demzufolge stellen Situationen, die diese Wahrnehmungen begünstigen, Risikofaktoren dar. Hierzu gehört z. B. die abendliche Badroutine, in der sich Betroffene nicht nur unbeobachtet fühlen, sondern auch die Möglichkeit haben, sich selbst im Spiegel zu betrachten (Gallinat et al., 2020, S. 314-316; Mehrmann et al., 2017, S. 483; Winterhagen, 2019).
Die Folgen des Hautknibbelns – ein Teufelskreis
Betroffene wissen um die Schäden, die mit dem minuten- bis stundenlangen Traktieren der Haut einhergehen, und versuchen, dies zu unterbinden. Häufig jedoch kann das Skin Picking erst beendet werden, wenn der impulsive Drang nachlässt. Erschwerend hinzu kommt das kurzfristig befriedigende, angenehme und sogar entspannende Gefühl, das Betroffene während dem Bearbeiten der Haut verspüren. Die in der Trance verdrängten negativen Konsequenzen treten daher erst nach der Impulshandlung ein. Hierzu gehören z. B. Blutungen, Rötungen, Schmerzen und Narben. Selten kann auch eine Infektion oder Blutvergiftung auftreten. Des Weiteren findet sich eine ganze Bandbreite an psychischen Folgen. So geht der erlebte Kontrollverlust mit Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Selbstabwertung einher. Die meist dauerhaft sichtbaren Hautschäden führen zu einer deutlichen Belastung des Selbstwertgefühls, weshalb Betroffene unter depressiven Symptomen, Angst sowie einem starken Schamgefühl leiden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich ein starkes Vermeidungs- und Kaschierungsverhalten im privaten und beruflichen Alltag. Die Pflege und das Verdecken der Haut mit Kleidung und Make-Up beansprucht viel Zeit und Geld und schränkt erheblich ein. Zudem werden nicht nur soziale und intime Kontakte vermieden, sondern auch bestimmte Aktivitäten wie z. B. Treffen an hell erleuchteten Orten, Vorträge vor Publikum, Schwimmen oder wichtige Arztbesuche. Die daraus entstehende Isolation hat einen erhöhten inneren Leidensdruck zur Folge, der wiederum durch das Skin Picking abgebaut wird. Alles in allem entsteht auf diese Weise ein Teufelskreis (Gallinat et al., 2020, S. 315; Mehrmann et al., 2017, S. 479-480; Niemeier et al., 2015, S. 784; Phillips & Stein, 2018; Winterhagen, 2019, S. 56).
Handlungsmaßnahmen für Betroffene
Im Folgenden werden Maßnahmen aufgeführt, die eine Verringerung der Symptome bewirken können.
- Arzt aufsuchen und psychiatrische Anamnese durchführen lassen: In der Regel wird eine kognitive Verhaltenstherapie empfohlen, wobei sich insbesondere das Habit-Reversal-Training bewährt hat. In diesem lernen Betroffene, sich ihrer Handlungen besser bewusst zu werden, Situationen zu identifizieren und zu modifizieren, die ebendiese Handlungen auslösen und Strategien einzusetzen, die die Handlungen verhindern (z. B. auf die Hände sitzen, Faust ballen, Stifte umfassen). Ggf. kann auch eine medikamentöse Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder N-Acetylcystein wirksam sein (Phillips & Stein, 2018).
- Schulung der eigenen Wahrnehmung: Protokoll über Auslöser und Begleitumstände des Skin Pickings zu führen. Auslöser anschließend gezielt beseitigen oder vermeiden.
- Spezifische Strategien: Pflaster auf Fingerkuppen, Fingernägel kurz schneiden, weiche Handschuhe tragen, Hilfsmittel wegschließen, Spiegel abhängen, nicht benötigte Handspiegel (z. B. mit Vergrößerungsglas) entfernen, Licht dimmen, Zeiten des Alleinseins reduzieren, Zeit im Bad reduzieren (z. B. Bad verlassen haben, wenn Toilettenspülung stoppt), langärmelige Kleidung tragen, Hautareale eincremen (Gallinat et al., 2020, S. 321; Winterhagen, 2019).
- Abbau von Stress und Belastungen: Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelentspannung, Fantasiereisen und Yoga. Positive Aktivitäten, Sport, Malen, Handarbeiten, Beschäftigungen wie Luftpolsterfolie platzen lassen oder Aufkleber abkratzen (Gallinat et al., 2020, S. 321).
- Kontakt mit Familie und Freunden. Um die Scham zu reduzieren, hilft es, über die Erkrankung zu sprechen. Häufig wird einem Verständnis und keinerlei Verurteilung entgegengebracht. Dies zeigt auch, dass Freunde nicht ständig über die Haut des Betroffenen nachdenken oder diese gar als abstoßend empfinden. Weiterhin bieten sie Trost und helfen, aus der sozialen Isolation zu entkommen (Winterhagen, 2019).
- Internetforen und Selbsthilfegruppen: Plattformen, die den Kontakt zu anderen Betroffenen ermöglichen, bieten ebenfalls einen nützlichen Erfahrungsaustausch, Trost und emotionale Unterstützung (Winterhagen, 2019).
- Wenn sich die Skin-Picking-Episode nicht verhindern lässt: Auf Hygiene achten (Hände waschen, Hautstellen reinigen, Hilfsmittel wie Pinzetten desinfizieren). Im Anschluss daran eine beruhigende Feuchtigkeitscreme ohne schädliche Inhaltsstoffe oder eine Wundsalbe auftragen. Bei größeren Verletzungen sollte eine fachkundige medizinische Versorgung eingeholt werden (Winterhagen, 2019).
- Umgang mit Rückfällen: Das Auftreten einzelner Episoden nach einer starken Reduktion oder Abstinenz ist normal und kein Zeichen eines persönlichen Versagens. Sie sollten jedoch als Warnsignal betrachtet werden, um eingestellte Strategien wieder gezielt einzusetzen (Gallinat et al., 2020, S. 323; Winterhagen, 2019).
Fazit
Mit einfachen Ratschlägen wie „Lass das Knibbeln doch einfach sein“ ist es bei der Dermatillomanie nicht getan. Sie ist eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, die nicht nur psychosoziale Beeinträchtigungen birgt, sondern auch mit erheblichen medizinischen Risiken verbunden ist. Betroffene sollen daher wissen, dass es für ihre Problematik einen offiziellen Namen gibt und dass diese behandelt werden kann. Für Nichtbetroffene ist zu erwähnen, dass das Thema einen sensiblen Umgang mit viel Verständnis, Empathie und Offenheit erfordert. Sind Skin Picking-Fälle im Familien- oder Freundeskreis bekannt, sollten Betroffene nicht nur sanft zu einer kognitiven Verhaltenstherapie ermutigt werden, sondern auch sozial und emotional unterstützt werden. Dies legt den Grundstein für die erfolgreiche Umsetzung der oben genannten Handlungsmaßnahmen.
Hilfreiche Webseiten und Literatur:
- Selbsthilfe-Manual der Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie – am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
- Selbsthilfegruppe Skin Picking
- Mehrmann, L. & Gerlach, A. (2020). Ratgeber Skin Picking. Hilfe bei Dermatillomanie. Berlin/Heidelberg: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-60469-4
Literaturverzeichnis
Gallinat, C., Martin, A. & Schmidt, J. (2020). Dermatillomanie. Psychotherapeut, 65, 313–328. DOI: https://doi.org/10.1007/s00278-020-00437-7
Mehrmann, L., Gerlach, A. & Hunger, A. (2017). Dermatillomanie (Skin-Picking-Störung): Diagnostik, Erklärung und Behandlung. Aktuelle Dermatologie, 43, 477-491. DOI: https://doi.org/10.1055/s-0043-120953
Niemeier, V., Peters, E. & Gieler, U. (2015). Skin-Picking-Syndrom. Hautarzt, 66, 781-792. DOI: 10.1007/s00105 015 3685 y
Phillips, K. & Stein, D. (2018). Exkoriation (Skin-Picking) Disorder. Zugriff am 26.07.2022. Verfügbar unter https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-st%C3%B6rungen/obsessiv-zwanghafte-und-verwandte-st%C3%B6rungen/exkoriation-skin-picking-disorder
Winterhagen, I. (2019). Knibbeln, pulen, drücken, quetschen. Skin Picking – vom Zwang, die Haut exzessiv zu attackieren. DeutscheApothekerZeitung, 36, 56.
Zaudig, M. (2022). Zwangsspektrumsstörungen nach ICD-11 und DSM-5. Nervenarzt, 93, 661–669.
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pch.vector (o. D.). Sad female cartoon character with symptoms of eczema. woman scratching itching hands or suffering from skin disease. Zugriff am 26.07.2022. Verfügbar unter https://www.freepik.com/free-vector/sad-female-cartoon-character-with-symptoms-eczema-woman-scratching-itching-hands-suffering-from-skin-disease-flat-vector-illustration-allergy-dermatology-concept-banner-website-design_28480809.htm#query=scratch%20skin&position=4&from_view=search