By Published On: 21. Oktober 2022Categories: Meine Hochschule und mein Studium

„Eating disorders are serious mental illness, not lifestyle choices” (Demi Lovato, 2012).

Ich selbst leide seit ungefähr sieben Jahren unter Anorexia nervosa. Im Rahmen dieses Blog-Beitrags möchte ich zunächst kurz das Krankheitsbild darstellen. Anschließend werde ich einen Einblick geben, wie ein Tag mit dieser psychischen Erkrankung aussehen kann. Wichtig ist, dass es sich um persönliche Erfahrungen handelt und nicht grundsätzlich verallgemeinert werden kann.

Anorexia nervosa

Bei Anorexia nervosa, auch als Magersucht bekannt, handelt es sich um eine Form der Essstörung. Die Betroffenen sind überwiegend weiblich (Endspurt Klinik, 2013, S. 47). Mit einer Mortalitätsrate von fünf bis zehn Prozent gehört sie zu den psychischen Erkrankungen mit der höchsten Sterblichkeitsrate (Jacobi, de Zwaan & Schmidt-Hantke, 2020, S. 1248).

Charakteristisch für Anorexia nervosa ist ein häufig sehr ausgeprägtes, in manchen Fällen lebensbedrohliches Untergewicht. Zu den diagnostischen Kriterien gemäß des ICD-10 gehört, dass der BMI kleiner als 17,5 sein bzw. das Gewicht 15% unter dem eigentlich angemessenen Körpergewicht liegen und die Gewichtsabnahme selbst herbeigeführt werden muss (Dilling & Freyberger, 2019, S. 205 – 206; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 329 – 330).

Differenziert wird zwischen einem restriktiven und einem bulimischen Typ. Personen, die am restriktiven Typ leiden, führen die Gewichtsabnahme durch Diäten, Fasten und bzw. oder körperlicher Betätigung herbei. Betroffene des bulimischen Typs haben wiederkehrende Essanfällen und greifen im Rahmen der Gewichtsreduktion zu Maßnahmen der Gegenregulation, wie der Missbrauch von Abführmitteln oder selbst herbeigeführtem Erbrechen (Endspurt Klinik, 2013, S. 48).

Ein weiteres Kriterium nach dem ICD-10 ist eine verzerrte Körperwahrnehmung, die als Körperschemastörung bezeichnet wird und durch die sich die Betroffenen selbst im Untergewicht als zu dick wahrnehmen. Dies steht häufig im Zusammenhang mit einer ausgeprägten Angst an Gewicht zuzunehmen. Die Erkrankung, die damit zusammenhängenden Verhaltensweisen, wie spezielle Essensrituale, sowie die Gedanken bzgl. des Körpers, der Ernährung und des Gewichts, bestimmen bei vielen Betroffenen den gesamten Alltag (Dilling & Freyberger, 2019, S. 206; Ehrlich, 2021, S. 474).

In den meisten Fällen entsteht eine Anorexia nervosa aufgrund eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren. Neben genetischen Veranlagungen und soziokulturellen Aspekten, wie dem westlichen Schlankheitsideal, können sowohl kritische Lebensereignisse, als auch familiäre Probleme zur Entstehung beitragen. Viele Betroffene sind zudem sehr leistungsorientiert und perfektionistisch (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 330).

Infolge des Untergewichts und einer meist damit einhergehenden Mangelernährung entstehen häufig Schäden an Organen, die dazu führen können, dass die Aufrechterhaltung normaler Körperfunktionen nicht möglich ist (Endspurt Klinik, 2013, S. 48). Bei vielen Betroffenen zeigen sich somatische Begleiterscheinungen, wie Kreislaufprobleme, ein verändertes Blutbild und Osteoporose. Eine weitere mögliche Folge ist eine endokrine Störung, die sich bei Mädchen und Frauen in Form einer Amenorrhö und bei männlichen Personen als Libidoverlust äußern kann und gemäß des ICD-10 ebenfalls ein Diagnosekriterium darstellt. Als besonders kritisch gelten Störungen des Elektrolythaushaltes, sowie Herzrhythmusstörungen (Dilling & Freyberger, 2019, S. 206; Herpertz-Dahlmann & Schwarte, 2009, S. 725)

Zu den typischen Komorbiditäten einer Anorexia nervosa gehören u.a. Depressionen oder Zwangsstörungen (Lempp, 2020, S. 46).

Die Behandlung einer Anorexia nervosa erfolgt primär im Rahmen einer Psychotherapie, die, je nach Ausprägung der Erkrankung, in einem ambulanten, tagesklinischen oder stationären Setting stattfinden kann. Insbesondere das Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie hat sich hierbei bewährt. Bei Vorliegen eines ausgeprägten Untergewichts steht eine Gewichtssteigerung, sowie -stabilisierung im Vordergrund. Von hoher Bedeutung ist zudem eine Ernährungsumstellung und Normalisierung des Essverhaltens. Aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes kann neben einer Psychotherapie und Ernährungsberatung eine ärztliche Betreuung und eine Medikamenteneinnahme sinnvoll sein (Ehrlich, 2021, S. 477 – 479).

Hinsichtlich der Prognose lässt sich festhalten, dass diese eher ungünstig ist. Lediglich bei einem Drittel der Betroffenen kann im Zeitraum von drei Jahren von einer Genesung ausgegangen werden. Bei vielen hingegen manifestieren sich die dysfunktionalen Gedanken und nehmen Einfluss auf den gesamten Alltag (Lempp, 2020, S. 47).

Ein Tag mit Anorexia nervosa

Ich wache auf und schaue auf die Uhr. Es ist sechs Uhr morgens. Obwohl ich noch nicht einmal richtig wach bin, fängt das Gedankenkarussell im Kopf schon an. Welches Gewicht wird die Waage anzeigen? Habe ich zugenommen? Was werde ich heute Essen? Am liebsten würde ich direkt weiterschlafen, um Ruhe vor der Stimme in meinem Kopf zu haben, die mir sagt, dass ich nicht essen darf, abnehmen muss, zu dick bin. Aber die andere Seite in mir muss etwas leisten. Also stehe ich auf und begebe mich ins Bad. Wie jeden Tag, hole ich die Waage. Eigentlich will ich die Zahl nicht wissen, weil sie den Tag beeinflussen wird, aber ich kann nicht anders, als mich darauf zustellen. Es ist gleich geblieben. Sofort meldet sich die Stimme im Kopf wieder und wird laut: Ich sei undiszipliniert und hätte mich nicht unter Kontrolle. Bisher habe ich versucht den Blick in den Spiegel zu vermeiden. Jetzt schaue ich mich an, sehe überall Fett und fühle mich unwohl. Rational betrachtet, weiß ich, dass ich mit diesem Gewicht nicht dick sein kann, aber nachdem ich mein Spiegelbild gesehen habe, fällt es mir schwer das zu glauben. Ich setze mich an den Schreibtisch. Innerlich kämpfen zwei Seiten. Die eine, die essen möchte und die andere, die mir das verbietet. Wieder gewinnt die zweite und das Frühstück entfällt. Während ich für die Uni lerne, schweifen meine Gedanken ab. Wie ein Gummiball springen sie zwischen Unithemen, Figur und Essen hin und her. Mein Magen knurrt, ich habe Hunger, aber es ist noch keine Zeit zum Essen. Sehnsüchtig warte ich darauf, bis die Zeit vergeht und ich etwas essen darf. Geschafft. Es ist Mittag. Eigentlich habe ich Lust auf Nudeln, aber das akzeptiert die Krankheit nicht. Deshalb gibt es wie fast jeden Tag Salat und Kartoffeln. Schon während dem Essen meldet sich die Krankheit: „Reiß dich zusammen und esse nicht so viel“. Manchmal schaffe ich es, mir mehr zu nehmen. Dann wird die Stimme nach dem Essen besonders laut und ich habe tatsächlich das Gefühl, zu viel gegessen zu haben. Was eine normale Portion ist, habe ich schon lange verlernt. Gerne würde ich einen Knopf drücken und die Stimme ausstellen. Der Nachmittag sieht identisch aus. Eigentlich wollte ich mich mit Freunden treffen, aber das lässt sich nicht mit den Essenszeiten vereinbaren. Wieder heißt es Zeit rumbringen und versuchen mich mit Uniaufgaben von den Gedanken abzulenken. Auch wenn es nicht im Sinne der Krankheit ist, hole ich mir Naturjogurt mit Beeren und wieder geht das Theater in meinem Kopf los. Mittlerweile ist es Abend und ich muss einkaufen. Obwohl ich eigentlich etwas anderes möchte, kaufe ich wieder lediglich meine sicheren Lebensmittel. Zum Abendessen gibt es Rohkost-Gemüse und Brot mit Frischkäse. Auch wenn die Krankheit versucht sich zu wehren, hole ich mir noch Jogurt. Endlich habe ich den Tag überstanden. Lange liege ich wach, einerseits vor Hunger und andererseits aufgrund der Gedankenkreise und der Angst am nächsten Tag nicht mehr aufzuwachen. Wie mehrmals täglich stelle ich mir vor, wie ein Leben ohne Essstörung wäre und denke mir, wie meistens: „Morgen werde ich etwas ändern. Ab morgen wird es anders.“

Fazit

Abschließend möchte ich festhalten, dass eine Anorexia nervosa den kompletten Tag einnehmen und nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens beeinflussen kann. Damit sich die Gedanken und damit zusammenhängenden Verhaltensweisen nicht manifestieren, sollte zeitig interveniert werden. Aufgrund dessen kann ich jedem, der Anzeichen einer Anorexia nervosa bei sich oder Bekannten bemerkt ans Herz legen, sich frühzeitig anderen anzuvertrauen und professionelle Hilfe zu suchen bzw. mit der betroffenen Person zu sprechen.

Für mich ist es wichtig offen über die Erkrankung zu sprechen, um anderen zu zeigen, dass es zum Einen nichts ist, wofür man sich schämen muss und zum Anderen Nicht-Betroffenen Einblicke in ein Leben mit der Erkrankung zu geben und aufzuzeigen, wie ernst und einnehmend sie ist.

Literatur

Dilling, H. & Freyberger, H. J. (Hrsg.). (2019). Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen (9., aktualisierte Auflage entsprechend ICD-10-GM (German Modification)). Bern: Hogrefe.

Ehrlich, S. (2021). Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter. Monatsschrift Kinderheilkunde, 169(5), 473–483. https://doi.org/10.1007/s00112-021-01144-6

Endspurt Klinik (2013). Psychiatrie, Psychosomatik: Skript 14. Stuttgart: Georg Thieme Verlag.

Herpertz-Dahlmann, B. & Schwarte, R. (2009). Anorexia nervosa. In S. Schneider & J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter (S. 719 – 738). Heidelberg: Springer Medizin Verlag.

Jacobi, C., de Zwaan, M. & Schmidt-Hantke, J. (2020). Fütter- und Essstörungen. In J. Hoyer & S. Knappe, (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (S. 1237 – 1278). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978- 3-662-61814-1_55

Lempp, T. (2020). BASICS Kinder- und Jugendpsychiatrie (Basics) (4. Auflage.). München: Elsevier.

Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor (4., vollständig überarbeitete Auflage.). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-59192-5

Lovato, D. [ddlovato]. (2012, 02. März). „Eating disorders are serious mental illness, not lifestyle choices”. Twitter. Zugriff am 20.08.2022, Verfügbar unter https://twitter.com/ddlovato/status/175640086640205824

Quelle zum Titelbild

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