By Published On: 28. Juni 2023Categories: Pädagogik, Wiki

In den ersten beiden Teilen dieser Reihe wurden die Grundlagen der Anthroposophie sowie die sich daraus ergebenden Besonderheiten des Unterrichts in Waldorfschulen dargestellt. In diesem dritten und letzten Teil der Reihe soll nun der Frage nachgegangen werden, wie Waldorfschulen und die ihr zugrunde gelegte anthroposophische Pädagogik zu bewerten sind. Dazu werden zunächst Argumente für den Besuch einer Waldorfschule dargelegt, bevor im Anschluss auf drei gängige Kritikpunkte eingegangen wird.

Für

Zunächst soll der Fokus auf die Chancen gelegt werden, welche mit dem Besuch einer Waldorfschule einhergehen. Dazu werden vor allem die Erfahrungen von ehemaligen Schülerinnen und Schülern genutzt, welche in einer groß angelegten Studie von Barz und Randoll (2007) zur Bildung und Lebensgestaltung von Absolventinnen und Absolventen von Waldorfschulen systematisch erfasst wurden. Wenngleich die Studie schon einige Jahre alt ist, haben die zentralen Aussagen zu den Chancen eines Waldorfschulbesuchs sicherlich weiterhin Bestand. Daher werden einige Aspekte dieser Studie nachfolgend dargestellt.

  • Zufriedenheit mit Waldorfschulzeit: In der Studie zeigte sich, dass 83,7 % der Absolventinnen und Absolventen wieder eine Waldorfschule besuchen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten (Randoll, 2007, S. 180). Diese hohe Zahl spricht dafür, dass die Absolventinnen und Absolventen insgesamt eher zufrieden auf ihre Schulzeit zurückblicken. Diese Vermutung stützen auch die Zahlen: 86,3% der Befragten fanden, dass die Aussage ‚Ich habe mich in der Schule wohl gefühlt‘ voll oder eher zutrifft (Randoll, 2007, S. 181).
  • Beruflicher Erfolg: Die Studie beschäftigte sich auch mit der Frage, welche beruflichen Wege die Absolventinnen und Absolventen nach der Schulzeit einschlugen. Nahezu alle Absolventinnen und Absolventen (99 %) nahmen nach dem Abschluss eine weiterführende Ausbildung auf (Bonnhoeffer, Brater & Hemmer-Schanze, 2007, S. 51). Bei etwas weniger als der Hälfte der Befragten (46,8 %) war diese Ausbildung akademischer Natur (Bonnhoeffer, Brater & Hemmer-Schanze, 2007, S. 60). Dazu muss jedoch festgehalten werden, dass vermutlich auch das Elternhaus der Waldorfschülerinnen und -schüler eine große Rolle spielt, denn über 40 % der Väter haben selbst eine akademische Ausbildung absolviert (Bonnhoeffer, Brater & Hemmer-Schanze, 2007,
    S. 50). Zum Vergleich dazu: der Akademikeranteil in der Gesamtbevölkerung lag im Mikrozensus im Jahr 2004 bei nur 12 % (destatis 2005; zitiert nach Bonnhoeffer, Brater & Hemmer-Schanze, 2007, S. 51). So fassen Bonhoeffer, Brater und Hemmer-Schanze (2007, S. 90) zusammen: „Die Waldorfschule war und ist keine Schule für alle Schichten, sondern im Kern ist sie eine Schule des Bildungsbürgertums, die wiederum Angehörige des Bildungsbürgertums heranbildet.“.
  • Außerschulische Aktivitäten & Atmosphäre: Was den Absolventinnen und Absolventen an ihrer Schulzeit besonders im Gedächtnis geblieben ist, wurde in der Studie ebenfalls erfasst. Dazu wurden sie gebeten, spontan die folgende Frage zu beantworten: „Wenn Sie an Ihre Zeit in der Waldorfschule denken, was fällt Ihnen dazu spontan ein?“ (Randoll, 2007, S. 211). Die Antworten wurden dahingehend unterschieden, ob die genannten Aspekte positiv oder negativ waren. Aufseiten der positiven Aspekte nannten die meisten Absolventinnen und Absolventen die Schulzeit im Allgemeinen sowie die unterschiedlichen außerschulischen Aktivitäten, wie Theaterspiele, Feste oder Praktika. Häufig wurden auch konkrete Unterrichtsfächer positiv erwähnt, wobei auf Werken, Malen, Töpfern und Musik die meisten Nennungen entfielen. Ebenfalls positiv erwähnt wurde die Atmosphäre an der Waldorfschule, wobei das gute Miteinander in der Klassengemeinschaft sowie der Verzicht auf Benotung und das damit verbundene „angstfreie Lernen bzw. das Lernen ohne Leistungsdruck“ (Randoll, 2007, S. 212) besonders hervorgehoben wurden.

Wider

Wie bereits eingangs erwähnt, wird auch immer wieder Kritik an Waldorfschulen und der Waldorfpädagogik geübt. Drei häufig genannte Kritikpunkte werden nachfolgend dargestellt.

  • Organisatorische Rahmenbedingungen, Weltfremde & Dogmatismus: Im Rahmen der freien Assoziation in der Studie von Randoll (2007, S. 212) wurden von Absolventinnen und Absolventen auch negative Aspekte der Waldorfschule benannt. Am häufigsten wurden ungünstige organisatorische Rahmenbedingungen, also beispielsweise zu große Klassen oder die fehlende Förderung leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler, genannt. Am zweithäufigsten wurden negative Aspekte genannt, welche die Autorenschaft der Kategorie Klima/Atmosphäre zuordneten. Sie bezogen sich vor allem auf „die empfundene Weltfremdheit und die geistige Enge der Waldorfschule bzw. den dort herrschenden Dogmatismus“ (Randoll, 2007, S. 212). Am dritthäufigsten wurden lernbezogene Aspekte, wie beispielsweise eine fehlende Disziplin oder Lern- und Leistungsstress vor den Abiturprüfungen kritisiert. Der Autor der Studie fasst jedoch zusammen, dass die Absolventinnen und Absolventen insgesamt deutlich mehr positive, als negative Aspekte erinnern (Randoll, 2007, S. 213). Auch das stützt die Aussage, dass für den überwiegenden Teil der befragten Absolventinnen und Absolventen die Schulzeit an der Waldorfschule positiv erlebt wurde. Dennoch ist die Gesamtheit der organisatorischen Rahmenbedingungen sowie die Weltfremde ein häufig angeführter Kritikpunkt.
  • Empirieabstinenz: Wie eingangs erwähnt, sehen abseits von einzelnen negativen Erfahrungsberichten ehemaliger Schülerinnen und Schüler auch diverse Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen die Waldorfpädagogik kritisch. Immer wieder werden dabei die fehlenden empirischen Erkenntnisse kritisiert. So schrieb Randoll bereits im Jahr 2010: „Kennzeichnend für die 90-Jährige Geschichte der Waldorfpädagogik ist (…) eine 80 Jahre währende weitestgehende Empirieabstinenz.“ (Randoll, 2010, S. 127). Nach Böhm (2012, S. 100) hat das Fehlen von wissenschaftlichen Erkenntnissen zwei Gründe: zum einen würden Vertreterinnen und Vertreter der Waldorfpädagogik darauf verweisen, dass die „höheren geistigen Einsichten“ (Böhm, 2012, S. 100), auf denen die Anthroposophie beruht, den normalen wissenschaftlichen Methoden nicht zugänglich wären, und zum zweiten gäbe es aufgrund dieser höheren Legitimation auch keine Notwendigkeit, empirische Belege vorzulegen. Diese Sichtweise ist insofern kritisch zu betrachten, als dass durch sie jegliche kritische Auseinandersetzung mit den Lehren Rudolf Steiners unmöglich wird.
  • Vorwissenschaftliches Denken: Zudem waren viele Aspekte von Steiners anthroposophischer Pädagogik bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß. Ein Beispiel ist die Temperamentenlehre, der zufolge Kinder in vier Temperamente eingeteilt werden können: das sanguinische, das melancholische, das phlegmatische oder das cholerische Temperament. Welches Temperament ein Kind habe, könne anhand des Verhältnisses von ‚physischem Leib‘ zum ‚Ätherleib‘ des Kindes bestimmt werden, sodass für die Einteilung nicht nur charakterliche, sondern auch äußerliche Aspekte des Kindes berücksichtigt werden (Böhm, 2012, S. 102; Ullrich, 2015, S. 41). Die Idee der vier Temperamente fand sich bereits in der Spätantike bei Hippokrates von Kos: auch er ordnete die vier Körpersäfte Blut, gelbe und schwarze Galle sowie Schleim den vier Temperamenten zu. Das Blut dem Sanguiniker, die gelbe Galle dem Choleriker, die schwarze Galle dem Melancholiker und den Schleim dem Phlegmatiker (Ullrich, 2015, S. 133). Steiner wird vorgeworfen, sich durch die Betonung von mythischen und irrationalen Aspekten entgegen der damaligen Tendenz zur Intellektualisierung wieder „auf die Stufe des vorwissenschaftlichen Denkens“ (Ullrich, 2015, S. 136) zurückbegeben zu haben (Böhm, 2012, S. 104).

Fazit

In den insgesamt drei Blogbeiträgen dieser Reihe wurde der Versuch unternommen, wesentliche Grundzüge der Anthroposophie sowie der Waldorfpädagogik darzustellen. Gemessen am Umfang der Schriften Rudolf Steiners muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei nur um einen ersten Einblick in seine Überlegungen handelt. Für weitere Informationen und eine kritische Einordnung der Waldorfpädagogik sei an dieser Stelle insbesondere auf Ullrich (2015) verwiesen.

Speziell in diesem Blogbeitrag wurde herausgearbeitet, dass der Großteil der Absolventinnen und Absolventen von Waldorfschulen ihre Schulzeit rückblickend positiv bewertet und sie durchaus Erfolge im Berufsleben vorweisen können. Insbesondere zwei Aspekte des Waldorfkonzeptes sind positiv hervorzuheben: der Verzicht auf Noten in Unter- und Mittelstufe sowie die Vielfalt in den handwerklichen, künstlerischen und musikalischen Schulfächern. Für beide Aspekte besteht großes Potenzial, wenn sie Einzug in öffentliche Schulen finden könnten. So könnte ein Verzicht auf Noten in Grundschulen dazu beitragen, den Leistungsdruck für Kinder abzumildern und ihnen durch individuelle Rückmeldungen zu ihrer Entwicklung eher gerecht werden zu können. Auch ein breiteres Angebot handwerklicher, künstlerischer und musikalischer Schulfächer würde Kindern mehr Möglichkeiten eröffnen, ihre Interessen und Talente zu entdecken und zu entwickeln. Es ist jedoch auch deutlich geworden, dass viele Aspekte der Lehren Rudolf Steiners, im Speziellen die Temperamentenlehre und die kindliche Entwicklung in Jahrsiebten, aus heutiger Sicht fragwürdig sind und einer kritischen Betrachtung nicht standhalten.

Abschließend muss konsterniert werden, dass eine eindeutige Beantwortung der Ausgangsfrage, wie Waldorfschulen zu bewerten sind, nicht möglich ist. Letztlich handelt es sich dabei um eine Bewertung, die Eltern unter Berücksichtigung der individuellen Stärken und Bedürfnisse ihres Kindes selbst vornehmen müssen. Dazu ist es grundsätzlich empfehlenswert, sich kritisch mit den pädagogischen Konzepten der unterschiedlichen Schulformen auseinanderzusetzen. So sieht auch der Gesetzgeber nach Paragraph 1 Absatz 1 des achten Buchs des Sozialgesetzbuchs vor:

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

Kindern dieses Recht zu gewähren und zu entscheiden, wie die Förderung seiner Entwicklung und die Erziehung auszusehen hat, obliegt einzig und allein ihren Eltern.


Titelbild

Rosy (2022). [Illustration zur Abwägung von Argumenten pro und contra]. Abgerufen am 24.05.2023. Verfügbar unter https://pixabay.com/de/illustrations/richtig-falsch-karikatur-ethik-7472518/.

Literatur

Barz, H. & Randoll, D. (Hrsg.) (2007). Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung (2. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Böhm, W. (2012). Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren. München: C.H.Beck.

Bonnhoeffer, A., Brater, M. & Hemmer-Schanze, C. (2007). Berufliche Entwicklungen ehemaliger Waldorfschüler. In H. Barz & D. Randoll (Hrsg). Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung (2. Auflage). S. 45-99. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Randoll, D. (2007). Die Zeit in der Freien Waldorfschule. In H. Barz & D. Randoll (Hrsg). Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung (2. Auflage). S. 175-235. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Randoll, D. (2010). Empirische Forschung und Waldorfpädagogik. In H. Paschen (Hrsg). Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik. S. 127-156. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Ullrich, H. (2015). Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung. Weinheim: Beltz.

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