Das Tourette Syndrom ist auf Social Media im Trend. Vor allem in Ländern wie Dänemark, Frankreich, Kanada und auch in Deutschland ist ein Zuwachs von Videos, in denen das Tourette-Syndrom dargestellt wird, im Internet vermehrt wahrnehmbar. In Deutschland konnte sich hierzu ein Youtuber mit seinem Tourette Syndrom bereits einen Namen machen und zählt zu einem der erfolgreichsten Youtubern im deutschsprachigen Raum (Müller-Vahl et al., 2022, S. 255). Doch nicht nur auf dieser Plattform werden die Videos hochgeladen, auch auf TikTok und Instagram sind sie bereits allgegenwärtig. Fachleute betrachten solche Videos kritisch und warnen vor dessen Folgen. Des Öfteren kommt es nämlich vor, dass Personen, die regelmäßig Videos über das Tourette Syndrom konsumieren, plötzlich selbst Tourette-ähnliche Beschwerden, die jenen in den Videos stark ähneln, aufweisen. Darauf aufbauend stellt sich nun die Frage, ob es sich bei den Beschwerden tatsächlich um jene des Tourette-Syndroms handelt oder ob die Symptome einer anderen Erkrankung wie beispielsweise der funktionelle Bewegungsstörung zugeordnet werden können. Wie wahrscheinlich ist eine Ansteckung mit dem Tourette Syndrom über die sozialen Medien wirklich und worin unterscheidet sie sich hinsichtlich der funktionellen Bewegungsstörung?
Definition des Tourette-Syndroms
Im ICD-10 wird das Tourette-Syndrom definiert als eine Ticstörung, bei der zu einem früheren Zeitpunkt oder gegenwärtig multiple motorische sowie ein oder mehrere vokale Tics, die allerdings nicht zwangsläufig simultan ablaufen, in Erscheinung treten. Neben diesem Diagnosekriterium müssen die Tics mehrmals und fast täglich über ein Jahr ohne Remission auftreten. Charakteristisch für das Tourette-Syndrom ist ein Beginn der Symptome vor dem 18. Lebensjahr und eine Verschlechterung der Störung während der Adoleszenz, die bis in das Erwachsenenalter persistiert (Dilling & Freyberger, 2020, S. 336). Bei den Tics handelt es sich um häufig multiple, nicht rhythmische und repetitive Bewegungen oder explosive Vokalisationen. Neben der Differenzierung in motorische und vokale Tics werden diese auch in einfache und komplexe Tics eingeteilt. Motorische Tics können in einfacher Form vorwiegend am Kopf, im Gesicht oder an den Augen auftreten wie beispielsweise Augenblinzeln, Grimassieren oder Kopfrucken. Im Vergleich dazu treten komplexe motorische Tics seltener auf und sind überwiegend bei schwereren Krankheitsverläufen vorzufinden. Komplexe motorische Tics beinhalten Bewegungen, die durch die Beteiligung mehrere Muskelgruppen oder Teile des Körpers charakterisiert sind. Als gesonderte Form komplexer motorischer Störungen werden die Kopropraxie (die Darstellung obszöner Gesten), die Palipraxie (repetitive Bewegungen) und die Echopraxie (Bewegungen von anderen Personen werden imitiert) angesehen. Auch bei den vokalen Tics wird zwischen den gängigeren einfachen (Räuspern, Grunzen, Schniefen) und komplexen vokalen Tics unterschieden. Letztere beinhalten unter anderem die Koprolalie (Artikulieren von Schimpfworten), Palilalie (erneute Aussprache eigener Wörter oder Silben) und die Echolalie (das Gesprochene des Gegenüber wird wiederholt). Im Gegensatz zur medialen Darstellung sei hier vermerkt, dass Koprophänomene nur bei den wenigsten Patient*innen die meistens einen schweren Verlauf aufweisen, auftreten und einzelne Wörter umfassen (Fremer et al., 2021, S. 52).
Funktionelle Bewegungsstörung
Charakteristisch für eine funktionelle Bewegungsstörung ist der Kontrollverlust der eigenen Bewegungen. Gemäß ICD-10 wird die Störung definiert als eine Beeinträchtigung der Sprache, der Bewegung und/oder Koordination, welche im Normalfall kontrollierbar sind. Sehr selten treten bei einer funktionellen Bewegungsstörung „Tic- und Touretteähnliche“ Symptome auf. In den letzten Jahren wurde jedoch ein Zuwachs der genannten Symptome bei Patient*innen in Deutschland und anderen Ländern beobachtet. Im Gegensatz zum Tourette-Syndrom treten hierbei weniger einfache vokale und motorische Tics auf, sondern überwiegend komplexe Gestiken und Lautäußerungen mit bizarren Verhaltensweisen, die als untypisch beim Tourette-Syndrom angesehen werden. Betroffene mit einer tic und touretteähnlichen funktionellen Bewegungsstörung verwenden Beleidigungen und Schimpfwörter um ein Vielfaches häufiger als Tourette-Patienten, wobei die Wörter sowohl eine längere Zusammensetzung als auch einen Kontextbezug aufweisen. Bei einer funktionellen Bewegungsstörung setzen zudem die Beschwerden plötzlich ein und entwickeln sich nicht sukzessive wie beim Tourette-Syndrom (Fremer et al., 2021, S. 52).
Der Stellenwert sozialer Medien
Nicht selten entwickeln Betroffene mit Tourette-Syndrom funktionelle Tics und schnappen diese von anderen auf. Ebenfalls anfällig für das Kopieren von Bewegungsabläufen sind Personen mit anderen Bewegungsstörungen. Erklären lässt sich dies anhand von sogenannten „Schablonen“ des Gehirns, die aufgrund von neuen Eindrücken adaptiert und erweitert werden. Experten sind der Ansicht, dass die Gehirne von Betroffenen mit einer funktionellen neurologischen Störung auf solche Schablonen zurückgreifen. Die Entstehung der Erkrankung lässt sich dadurch erklären, dass ein oder mehrere Trigger eine dysfunktionale Reaktion auslösen. Die Entstehung der Beschwerden kann also als eine Fehlinterpretation von Körpersignalen verstanden werden. Nimmt eine Person pathologische Symptome bei einem anderen Menschen wahr, beispielsweise über die Darstellung auf sozialen Medien, könne diese Beobachtung das Gehirn in Alarmbereitschaft versetzen und die betroffenen Körperfunktionen erhalten vermehrt Aufmerksamkeit. Daraufhin findet eine Scannung ähnlicher Symptome am eigenen Körper statt, wodurch das Gehirn Signale möglicherweise anders interpretiert als zuvor. Neben diesen Faktoren spielt auch Stress eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Tics. Als Auslöser für psychosozialen Stress kann beispielsweise die Corona-Pandemie betrachtet werden. Faktoren wie familiäre Probleme, die sich durch mehrere Lockdowns verschärft haben oder Home-Schooling sowie soziale Isolation begünstigten den Anstieg von Stress. Durch die Isolierung flüchtete ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den virtuellen Raum, der Konsum sozialer Medien stieg an und somit auch der Kontakt zu problembehafteten Videos (Maya-Mrschtik, 2023).
Therapieverfahren
Für Ärzt*innen stellt die Ähnlichkeit der beiden Erkrankungen eine diagnostische Herausforderung dar, denn eine adäquate Therapie orientiert sich nach dem Ursprung der Symptome. Während das Tourette-Syndrom geringe Heilungschancen aufweist und sich die Symptome, sofern sie sich im Verlauf der Pubertät nicht von allein zurückgebildet haben, im Erwachsenenalter allenfalls lindern lassen, besteht bei einer funktionellen Bewegungsstörung eine gute Chance auf eine vollständige Rekonvaleszenz. Beim Tourette-Syndrom ist die Methode der Wahl neben einer Psychoedukation und einer Verhaltenstherapie (Habit Reversal Training), eine pharmakologische Behandlung mit Antipsychotika. Zur Behandlung einer funktionellen Bewegungsstörung werden bevorzugt Psychotherapien sowie komplementär physio- und ergotherapeutische Maßnahmen herangezogen. Eine Psychotherapie, vorzugsweise eine kognitive Verhaltenstherapie, soll den Patient*innen dabei helfen, Coping Strategien aufzubauen und ihnen einen geeigneten Umgang mit Stress antrainieren. Aufgrund ihrer überlappenden Symptome besteht oftmals in der Diagnostik die Gefahr einer Fehldiagnose und führt infolgedessen zu invasiven Eingriffen, die zwar bei einer ausgeprägten Form von Tourette, bei der sich eine medikamentöse Behandlung als wirkungslos erweist, von Vorteil ist, sich bei einer bestehenden funktionellen Bewegungsstörung mit tic- und tourette-ähnlichen Symptomen hingegen als redundant herausstellt. Entscheidend ist zudem der ärztliche Umgang mit Betroffenen einer funktionellen Bewegungsstörung. Wichtig ist dabei vor allem eine empathische sowie authentische Psychoedukation und eine detaillierte Vermittlung der Krankheitsmechanismen. Dadurch können bereits erste Beschwerden gelindert werden. Zudem wirke sich die Akzeptanz der Patient*innen positiv auf den Therapieerfolg aus (Fremer et al., 2021, S. 56).
Fazit
Soziale Medien sind mittlerweile die Begleiter einer breiten Bevölkerungsgruppe. Umso mehr gilt es zu beachten, dass die Ersteller von Videos, in denen Krankheiten thematisiert werden, nicht immer nur die Intention der Aufklärung verfolgen. Je stärker sich Konsument*innen mit ihren Influencer*innen identifizieren, desto höher ist der Grad der Beeinflussung. Mittlerweile existieren im deutschsprachigen Raum mehrere reichweitenstarke Kanäle, in denen Personen ihr Tourette-Syndrom medial darstellen. Dennoch soll berücksichtigt werden, dass diese Videos nur Ausschnitte aus den Leben der Betroffenen darstellen und wenig bis kaum Einblicke in die Anamnese bzw. in die Behandlung gewähren. Zudem wird an den guten Absichten der Influencer*innen gezweifelt, da die Veröffentlichung solcher Videos allem voran auch ein Wirtschaftsmodell darstellt. Ein Konzept, das zum Leidwesen anderer, das Geld in die eigene Tasche spielt.
Literaturverzeichnis
Dilling, H. & Freyberger, H. J. (2020). ICD-10. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Hogrefe.
Fremer, C., Pisarenko, A. & Müller-Vahl, K. R. (2021). Tourette-Syndrom: Wer tickt hier richtig? Continuing Medical Education, 18(6), S. 51-58.
Maya-Mrschtik, M. (2023). Ansteckende Tics. Zugriff am 15.04.2023. Verfügbar unter https://www.spektrum.de/news/aehnlich-wie-tourette-loest-tiktok-bei-jugendlichen-tics-aus/2109567
Müller-Vahl, K. R., Pisarenko, A., Jakubovski, E. Fremer, C. (2022). Stop that! It’s not Tourette’s but a new type of mass sociogenic illness. Brain, 145, S. 476-480.
Bildnachweis
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