By Published On: 30. November 2023Categories: Gesundheit

Migräne ist eine komplexe neurovaskuläre Erkrankung (Göbel et al., 2022, S. 20), die weit über gewöhnliche Kopfschmerzen hinausgeht und das Leben der Betroffenen erheblich beeinflusst. Die Auswirkungen dieser Erkrankung werden oft unterschätzt. In diesem Blog-Beitrag wird erläutert, welche vielfältigen Konsequenzen Migräne im Leben der Betroffenen hat. Zudem werden verschiedene Lösungsansätze vorgestellt, die dazu beitragen können, dass die Erkrankung zukünftig seltener unterschätzt und die Lebensqualität von Betroffenen verbessert wird.

Wissenschaftlicher Kenntnisstand

Das Krankheitsbild der Migräne kann sehr unterschiedlich sein und hängt von genetischen und individuellen neurologischen Faktoren ab (Göbel et al., 2022, S. 20). Der Entstehungsmechanismus der Migräne ist komplex und bisher nicht vollständig verstanden. Es wird jedoch vermutet, dass Nervenbotenstoffe und eine neurogene Entzündung dabei eine Rolle spielen (Schmerzklinik Kiel, 2023). Tabelle 1 zeigt die Kriterien verschiedener Migräneformen nach der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen in der 3. Auflage (IHCD-3). Migräneanfälle können z. B. durch Stress und Hormonveränderungen ausgelöst werden (Göbel et al., 2023, S. 38). Die Behandlung umfasst medikamentöse und nicht-medikamentöse Prophylaxen (Techniker Krankenkasse, 2020, S. 50–56) sowie Medikamente zur Akuttherapie (Techniker Krankenkasse, 2020, S. 42).

Migräne ohne AuraMindestens fünf Migräneattacken, die die folgenden drei Kriterien erfüllen und die nicht besser durch eine andere Diagnose der ICHD-3 erfüllt sind.

– Die Kopfschmerzattacken dauern 4–72 Stunden (unbehandelt).
– Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf: einseitige Lokalisation, pulsierende Qualität, mäßige oder starke Schmerzintensität, Verschlimmerung durch oder Vermeidung von routinemäßigen körperlichen Aktivitäten.
– Während des Kopfschmerzes tritt mindestens eines der folgenden Merkmale auf: Übelkeit und/oder Erbrechen, Photophobie und Phonophobie.
Migräne mit AuraMindestens zwei Attacken, die die beiden folgenden Kriterien erfüllen und die nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt werden können:

– Eines oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Aura Symptome: visuell, sensorisch, sprachlich, motorisch, retinal oder Symptome einer Hirnstamm-Aura
– Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale: Mindestens ein Aura Symptom breitet sich allmählich über ­ ≥ 5 Minuten aus, zwei oder mehr Aura Symptome treten nacheinander auf, jedes einzelne Aura Symptom dauert 5–60 Minuten, mindestens ein Aura Symptom ist unilateral, mindestens ein Aura Symptom ist positiv, die Aura wird von einem Kopfschmerz begleitet oder folgt innerhalb von 60 Minuten.
Chronische MigräneKopfschmerz (migräneartig oder spannungstypähnlich), der die folgenden zwei Kriterien erfüllt, an ≥ 15 Tage/Monat über > 3 Monate und nicht besser durch eine andere ICHD-3 Diagnose erklärt werden kann.

– Auftreten bei einem Patienten, der bereits mindestens fünf Attacken hatte, die die Kriterien für Migräne ohne Aura oder mindestens zwei Attacken, die die Kriterien für eine Migräne mit Aura erfüllen.
– Kopfschmerz, der an ≥ 8 Tagen/Monat seit > 3 Monaten auftritt und eines der folgenden Kriterien erfüllt: Kriterien für Migräne ohne Aura, Kriterien für eine Migräne mit Aura oder der Patient glaubt, dass es sich bei Beginn um eine Migräne handelt und die Symptome durch ein Triptan oder ein Mutterkornderivat gelindert werden.
Tabelle 1: ICHD-3 Kriterien verschiedener Migräneformen
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Göbel et al., 2022, S. 21)

In Deutschland leiden laut einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) 14,8 % der weiblichen und 6 % der männlichen Bevölkerung an Migräne (Porst et al., 2020, S. 10). Wenn die Personen hinzugezählt werden, die wahrscheinlich an Migräne leiden, beträgt die Gesamtanzahl 28,4 % unter den Frauen und 18 % unter den Männern (Porst et al., 2020, S. 10). „Wahrscheinlich“ bedeutet, dass diese Personen die Diagnosekriterien nicht voll, aber überwiegend erfüllen. Migräne zählt weltweit zu den am stärksten beeinträchtigenden Erkrankungen und belegt dabei den zweiten Platz (Göbel et al., 2022, S. 20).

Auswirkungen von Migräne auf die Lebensqualität

Die Belastung, die Migräne für die Betroffenen darstellt, geht weit über die starken, pulsierenden Kopfschmerzen selbst hinaus (siehe Tabelle 1). Migräneattacken können Stunden bis Tage dauern und erfordern oft eine Ruhephase in einem dunklen, ruhigen Raum. Sie können nicht nur episodisch auftreten, sondern auch in chronischer Form vorliegen, was bedeutet, dass die Betroffenen an mindestens 15 Tagen pro Monat unter Migräneanfällen und Kopfschmerzen leiden (Göbel et al., 2022, S. 20). Dies kann zu erheblichen Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit führen und in vielen Fällen zu Fehlzeiten am Arbeitsplatz (Göbel et al., 2022, S. 21).

Auch während schmerzfreier Phasen zeigen Menschen mit Migräne strukturelle und funktionelle Abweichungen im Nervensystem im Vergleich zu gesunden Personen (Göbel et al., 2022, S. 26). Daraus resultiert eine gestörte Gewöhnungsfähigkeit in der Verarbeitung sensorischer Reize und es gibt Hinweise auf eine permanente kortikale Übererregbarkeit (Göbel et al., 2022, S. 26).

Studien belegen, dass Betroffene ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen sowie Rücken- und Nackenschmerzen haben (Porst et al., 2020, S. 14). Die chronische Schmerzbelastung, die Unsicherheit hinsichtlich des Zeitpunkts und der Intensität der nächsten Attacke sowie die soziale Isolation, die oft mit Migräne einhergeht, können zu erheblichem emotionalem Stress führen. Die Schmerzen und Begleitsymptome eines Anfalls können selbst die einfachsten Alltagsaufgaben zu einer großen Herausforderung machen.

Lösungsansätze

Die Unterschätzung von Migräne stellt ein Problem dar, das die Lebensqualität der Betroffenen zusätzlich negativ beeinflusst. Basierend auf den dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnissen und meinen persönlichen Erfahrungen mit Migräne habe ich Lösungsansätze formuliert, die der Unterschätzung entgegenwirken und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern können:

  1. Bessere Aufklärung: Eine umfassende Aufklärung über Migräne in der Öffentlichkeit und im Gesundheitswesen ist wichtig. Informationskampagnen können dazu beitragen, Vorurteile und Missverständnisse abzubauen und das Bewusstsein für die Schwere der Erkrankung zu schärfen.
  2. Schulungen für Gesundheitsdienstleister*innen: Ärzt*innen, Pfleger*innen, Psycholog*innen und weitere Fachpersonen sollten über aktuelle Erkenntnisse zur Migräne informiert und in der Lage sein, die Bedürfnisse der Patient*innen angemessen zu erkennen und zu behandeln.
  3. Förderung der Forschung: Eine Unterstützung von Forschung und klinischen Studien zur Migräne ist entscheidend, um bessere Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln und das Verständnis der Erkrankung zu vertiefen.
  4. Psychosoziale Unterstützung: Betroffene benötigen nicht nur medizinische Hilfe, sondern auch psychosoziale Unterstützung. Die Integration von Psycholog*innen in die Behandlung kann dazu beitragen, die psychische Gesundheit der Patient*innen zu verbessern.
  5. Arbeitsplatzanpassungen: Arbeitgebende sollten flexiblere Arbeitsbedingungen und -regelungen anbieten, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Homeoffice kann ebenfalls dazu beitragen, da Betroffene bei Bedarf mehr „echte“ Pausen machen können.
  6. Schaffung einer unterstützenden Umgebung: Freund*innen und Angehörige können dazu beitragen, die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern, indem sie Verständnis und Unterstützung bieten. Selbsthilfegruppen könne zusätzlich unterstützend wirken.
  7. Förderung der Selbstfürsorge: Betroffene sollten ermutigt werden, auf ihre Gesundheit zu achten und Selbstfürsorge-Techniken wie die progressive Muskelentspannung in ihren Alltag zu integrieren.

Fazit

Migräne ist eine ernst zu nehmende Erkrankung, die oft nicht ausreichend verstanden und unterschätzt wird. Es ist wichtig, sie nicht nur als Kopfschmerzen abzutun, sondern als komplexe neurologische Störung anzuerkennen, die das Leben der Betroffenen auf vielfältige Weise beeinflusst. Als jemand, der selbst unter chronischer Migräne leidet, kann ich dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Eine Kombination aus Aufklärung, medizinischer Versorgung, psychosozialer Unterstützung und Forschung kann dazu beitragen, dass Migräne als die ernsthafte und komplexe Erkrankung anerkannt wird, die sie ist. Dies wird langfristig zu einer verbesserten Versorgung und Lebensqualität für alle Migränepatient*innen beitragen.

Literaturverzeichnis

Göbel, C., Küster, M., Horlemann, J., Heinze, A., Heinze-Kuhn, K., Cirkel, A. et al. (2022). Klinische Manifestationen und Pathophysiologie der Migräne. Schmerzmedizin, 38(6), 20–27. https://doi.org/10.1007/s00940-022-4039-3

Göbel, H., Segerer, S., Heinze, A., Küster, M., Horlemann, J., A. Überall, M. et al. (2023). Hormonelle Kontrazeptiva bei menstrueller Migräne. Schmerzmedizin, 39(2), 38–51. https://doi.org/10.1007/s00940-023-4123-3

Porst, M., Wengler, A., Leddin, J., Neuhauser, H., Katsarava, Z., Lippe, E. von der et al. (2020). Migräne und Spannungskopfschmerz in Deutschland. Prävalenz und Erkrankungsschwere im Rahmen der Krankheitslast-Studie BURDEN 2020. Journal of Health Monitoring, (S6), 1–26. https://doi.org/10.25646/6988.2

Schmerzklinik Kiel. (2023). Die Ursachen der Migräne – die wichtigsten Theorien. Zugriff am 01.10.2023. Verfügbar unter: https://schmerzklinik.de/service-fuer-patienten/migraene-wissen/ursachen/

Techniker Krankenkasse. (2020). Kopfschmerzreport 2020. Prävalenz, Pillen und Perspektiven. Zugriff am 01.10.2023. Verfügbar unter: https://www.tk.de/resource/blob/2088842/954e3d43889bc8cfdc612781a4163582/kopfschmerzreport-2020-data.pdf

Bildnachweis

Titelbild: Selbst erstelltes Bild mithilfe von Adobe Firefly generiert.

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