Eine kleine Maus sitzt zitternd und starr in der Ecke einer Box. Sie fürchtet sich. Das Besondere an ihrem schrecklichen emotionalen Zustand: ihr fehlen eigene Erfahrungswerte für den angstauslösenden Reiz, den Kirschblüten-Duft. Tatsächlich wurde ausschließlich ihr Großvater vor der Zeugung eigener Kinder darauf konditioniert, dass mit diesem Geruch leichte Stromschläge über eine Bodenplatte einhergehen. Diese Studie von Dias und Ressler ist eine von vielen, die bestätigen, dass sich Erfahrungswerte vererben lassen können. Was bedeutet das für uns? Tragen wir die traumatischen und vielleicht auch die guten Erfahrungen unserer Großeltern in uns?
Eine Anpassungsleistung des Genoms
Bevor wir hier weiter eintauchen, müssen wir kurz klären, was Epigenetik überhaupt ist. Es scheint, als ob die Epigenetik irgendetwas zwischen Sozialisation und Genetik ist. Das stimmt so nicht ganz. Sie ist irgendwie beides.
Lange Zeit galten für die Vererbung nicht funktionale DNA-Abschnitte als „Junk-DNA“. Also DNA-Sequenzen, ohne nennenswerten Nutzen. Heute wissen wir, dass hier wichtige Wechselwirkungen zwischen Genom und Umwelt stattfinden. Diese Abschnitte ermöglichen es uns, genetische Anpassungen an unsere Lebensumstände zu vollziehen und spielen eine entscheidende Rolle bei der Regulation der Genexpression. Sie dienen als Schaltstellen, die auf Umweltreize reagieren und die Aktivität benachbarter Gene beeinflussen. Somit erweisen sich die einst als Junk-DNA abgetanen Abschnitte als essenzielle Komponenten für die Anpassungsfähigkeit unseres Genoms an veränderliche Umweltbedingungen.
Kurz: unser Genom ist wie ein Kochbuch. Einige Gerichte daraus sind fest vorgeschrieben und bestimmen dadurch unser Aussehen und viele unserer grundlegenden Funktionseigenschaften als Menschen und einige Gerichte wählen wir bspw. auf Grund des Wetters oder verfügbarer Ressourcen. Letzteres wäre dann die Epigenetik.
Diese individuellen Genanpassungen können an weitere Generationen vererbt werden. Es scheint also vorsichtig annehmbar zu sein, dass wir die Reaktion auf Erfahrungswerte von unseren Vorfahren vererbt bekommen und auch weitervererben können. Lamarck hätte sich wahrscheinlich sehr über diese Forschungsergebnisse gefreut.
Genetische Erinnerung versus Erziehungsstil
Viele Menschen sind sich sicher, dass sie Traumata ihrer Großeltern in sich tragen, die ihr Verhalten, ihre Stimmung und ihre Entscheidungen beeinflussen oder sogar Erinnerungen an Situationen wachrufen, die sie nie selbst erlebt haben. Diese erlebnisbasierten Vermutungen wurden lange Zeit als spirituelle Verbindung zu den Ahnen wahlweise hochstilisiert oder belächelt.
In der sozialpsychologischen Forschung und Praxis ist die Theorie, dass transgenerationale „Vererbungen“ durch unbewusste individuelle Bindungs-, Erziehungs- und Interaktionsstile stattfinden, schon lange tief verankert. Aber auch Erzählungen der Eltern und Großeltern können Einfluss auf das emotionale Erleben nehmen oder sogar vermeintlich echte Erinnerungen schaffen, wie hier oder hier beschrieben. Diese Erkenntnisse erschweren die Erforschung von epigenetischen Vererbungsphänomenen beim Menschen sehr, da wir hier selbstverständlich keine Laborbedingungen schaffen können.
Tatsächlich ist aber die individuelle Anpassungsfähigkeit unseres Genoms an veränderliche Lebensumstände und die Weitergabe dieser Anpassungsleistung an unsere Nachkommen, ein geschickter und ressourcensparender Schachzug unserer genetischen Evolutionsgeschichte. Und wie die zahlreichen epigenetischen Versuchsreihen an Tieren bestätigen, auch beim Menschen denkbar.
In der Tierzucht wird dieses Wissen seit Tausenden von Jahren angewendet, um nicht nur gewünschte körperliche Eigenschaften zu selektieren, sondern auch Nachkommen mit ausgeglichener Persönlichkeit und Wesensstärke zu züchten, die für spezifische Aufgaben oder Umgebungen geeignet sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Spuren unserer Prägung auf unterschiedlichen Wegen passieren, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern multifaktoriell beeinflussen.
Epigenetische Lasten und Möglichkeiten
Wahrscheinlich wird sich niemand ernsthaft darüber beschweren, die Sportlichkeit oder das Muskelwachstum von seinem sportaffinen Vater oder das Gespür für Musik von den Großeltern vererbt bekommen zu haben. Aber wie gehe ich jetzt mit epigenetischen Vererbungen um, wenn diese mich spürbar belasten? Am Ende macht es keinen Unterschied, woher eine Traumareaktion tatsächlich kommt, auch wenn eine familiäre Recherche sicherlich immer spannend ist! Denn es ist egal, ob die eigenen spürbaren Ängste erlebnisbasiert, durch das Verhalten unserer Eltern erlernt oder tatsächlich vererbt sind. Der Umgang mit diesen belastenden Prägungen oder sogar ihre Auflösung, ist heute therapeutisch machbar.
Denn auch wenn die epigenetische Forschung sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen steckt, und wir trotzdem versucht sind uns einen entwicklungspsychopathologischen Reim daraus zu machen, ist eins sicher: Epigenetik bedeutet Anpassung. Sie ist also folglich, auf Grund ihrer Kerneigenschaft, beeinflussbar. Wir sind dadurch also lediglich zwangsläufig mit ihr konfrontiert und müssen mit ihr umgehen, sind aber auch in der Lage diese selbst zu beeinflussen. Somit ist es denkbar, dass wir eventuell die Großeltern sein werden, die eine traumatische Erfahrung nicht weitervererben, weil wir unsere Epigenetik verändert haben.
Quellen
[1] Dias, B. G., & Ressler, K. J. (2014). Parental olfactory experience influences behavior and neural structure in subsequent generations. Nature Neuroscience, 17(1), Art. 1 [2] Wright, M. W., & Bruford, E. A. (2011). Naming „junk“: Human non-protein coding RNA (ncRNA) gene nomenclature. Human Genomics, 5(2), 90 [3] Quintigliano, M., Trentini, C., Fortunato, A., Lauriola, M., & Speranza, A. M. (2021). Role of Parental Attachment Styles in Moderating Interaction Between Parenting Stress and Perceived Infant Characteristics. Frontiers in Psychology, 12 [4] Brewin, C. R., & Andrews, B. (2017). Creating Memories for False Autobiographical Events in Childhood: A Systematic Review. Applied Cognitive Psychology, 31(1), 2–23 [5] Green, A. (2019). Grandparents, communicative memory and narrative identity. Oral History, 47(1), 81–91 [6] Jawaid, A., & Mansuy, I. M. (2019). Inter- and transgenerational inheritance of behavioral phenotypes. Current Opinion in Behavioral Sciences, 25, 96–101 [7] Salonen, M., Vapalahti, K., Tiira, K., Mäki-Tanila, A., & Lohi, H. (2019). Breed differences of heritable behaviour traits in cats. Scientific Reports, 9(1), Art. 1Titelbild
„Angst vor Kirschblüte“; eigene Darstellung; mit ChatGPT erstellt