By Published On: 19. August 2024Categories: Psychologie

Was war Traum und was war Realität? Wie lange war ich weg? Ist das wirklich so passiert und was wurde mit mir gemacht? Diese Fragen stellen sich Überlebende nach dem traumatischen Aufenthalt auf einer Intensivstation. Vage Erinnerungsfetzen und delusionale Bilder an traumatische Ereignisse zwischen künstlichem Koma und maschineller Beatmung prägen diese Zeit.

Dank der Fortschritte in der Intensivmedizin überleben immer mehr Menschen lebensbedrohliche kritische Erkrankungen. Im Anschluss leiden Überlebende meist unter körperlichen Einschränkungen, langfristigen kognitiven und psychischen Problemen sowie Einbußen in ihrer Lebensqualität und gesellschaftlichen Teilhabe (Albert et al. 2023, S. 7). Insgesamt stellen die Folgen diese Personen vor große Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in ihr normales Leben (Hiser et al. 2023, S. 7). Zwischen 50 und 70 Prozent der Überlebenden leiden innerhalb der ersten sechs Monate nach ihrer Entlassung an einem „Post Intensive Care Syndrom (PICS)“ (Nwangene 2024, S. 200).

PICS: Definition und Symptome

PICS wurde als das Auftreten oder die Verschlechterung von körperlichen, kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen definiert, die nach einer intensivmedizinischen Behandlung auftreten und auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bestehen bleiben. Zusätzlich kann der Begriff PICS auch auf die Erfahrungen eines betroffenen Familienmitglieds (PICS-F) erweitert werden. PICS ist kein medizinisches Diagnosekriterium, sondern ein Konzept zur Sensibilisierung und Aufklärung über post-intensivmedizinische Störungen (Hiser et al. 2023, S. 1). Zum PICS gehören eine Sammlung häufig auftretender Symptome (Kaiser 2020, S. 253): Rund 81 Prozent erleiden somatische Beschwerden, wie Fatigue, Muskelschwäche, Dyspnoe oder Schmerzen, die ihre Alltagsfähigkeit beeinträchtigen. Ein Drittel der Betroffenen leidet zudem an kognitiven Symptomen, welche die Konzentration, das Gedächtnis, die Verarbeitung sowie das Ausführen von Funktionen beeinträchtigen. Die psychischen Symptome können zunächst denen eines Delirs ähneln und umfassen Agitation, Wut, Unruhe, depressive Stimmung bis hin zu Bewusstseinsstörungen. Weitere Symptome, welche sich später bemerkbar machen sind Angstzustände, Schlafstörungen, Depressionen und Ängstlichkeit (45,4 Prozent) sowie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie Flashbacks, starke Angst oder sexuelle Dysfunktion (44 Prozent) (Kaiser 2020, S. 255–256).

Risikofaktoren

Die Risikofaktoren für Entwicklung eines PICS sind multifaktoriell: Prädisponierende Faktoren, die Einfluss auf die Psyche der Betroffenen haben sind vor allem bestimmte Vorerkrankungen, durchlebte Delirien, Alkohol- und Medikamentenabusus und höheres Alter. Endogene Faktoren sind Krankheiten und Einflüsse auf Wahrnehmung und Verarbeitung der Realität. Dazu gehören metabolische (z.B. Elektrolytverschiebungen), hypoxische (z.B. „acute respiratory distress syndrome“ oder Reanimation) und toxische Faktoren (z.B. Sepsis). Die exogenen Faktoren sind die Prägung durch die Umgebung, wie Medikamentenentzug, sensorische Überladung, Lärm, Licht, Schmerz, Schlafmangel, Immobilität und Kommunikationsunfähigkeit (Kaiser 2020, S. 254–255). All diese Risikofaktoren begünstigen auch die Entstehung eines akuten Delirs, welches bei 80 Prozent der maschinell beatmeten Personen auf Intensivstationen beobachtet werden kann. Durch das Delir geht noch eine zusätzliche Desorientierung einher (Albert et al. 2023, S. 12).

Das Intensivtagebuch

Es gibt verschiedene Maßnahmen zur Vorbeugung und Behandlung des PICS, darunter frühzeitige Rehabilitation und Mobilisierung, geringe oder keine Sedierung, Delirmanagement, Einbeziehung von Angehörigen und das Führen von Intensivtagebüchern. Die Grundidee hinter Intensivtagebüchern ist simpel: Während der schweren Erkrankung wird für die betroffene Person von medizinischem Personal und Angehörigen ein Tagebuch geführt. Dies ermöglicht es der Person, das Tagebuch nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt alleine oder in therapeutischem Setting zu lesen, um Erinnerungslücken zu schließen und die Erfahrungen zu verarbeiten (Nydahl und Kuzma 2021, S. 210–211). Auch im Falle von Todesfällen kann das Tagebuch für Angehörige unterstützend sein (Trettner und Hammermüller 2015, S. 261). Das gesamte interdisziplinäre Behandlungsteam sollte sich daran beteiligen. Die Einträge sollten respektvoll, ehrlich und detailliert sein. Der erste Eintrag sollte eine Zusammenfassung der Ereignisse enthalten, die zur Aufnahme und Behandlung geführt haben, während folgende Einträge Veränderungen, Rückschritte, Fortschritte und das alltägliche Leben der Person, auch über Fotos, dokumentieren (Trettner und Hammermüller 2015, S. 259–260). Durch das Lesen des Tagebuchs können die Betroffenen ihre Erlebnisse besser nachvollziehen und die Zeit der Bewusstlosigkeit rekonstruieren. Die Einträge können dazu beitragen, Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und posttraumatische Stressreaktionen zu verringern (Trettner und Hammermüller 2015, S. 259).

Fazit und Ausblick

Die Einführung von Intensivtagebüchern fördert einerseits die Bewältigung des meist traumatischen Aufenthaltes auf einer Intensivstation für die einzelne Person, um die psychischen Folgen eines PICS zu reduzieren. Andererseits leistet dieser individuelle und personenzentrierte Ansatz einen Beitrag zur Humanisierung der Intensivmedizin durch die langfristige Perspektive und die Berücksichtigung persönlicher psychosozialer Aspekte (Nydahl und Kuzma 2021, S. 214). Forschungsarbeiten haben sich qualitativ und quantitativ mit Intensivtagebüchern befasst, aber die Evidenz für ihre Nützlichkeit ist insgesamt noch begrenzt. Aktuelle Metaanalysen zeigen jedoch, dass Personen, die Intensivtagebücher erhalten, weniger Angst und Depressionen erleben und eine verbesserte Lebensqualität zeigen (Trettner und Hammermüller 2015, S. 261). In Zukunft wird weitere Forschung in Medizin und Pflege erforderlich sein, um dieses Krankheitsbild und die Wirksamkeit von Interventionen, wie das Intensivtagebuch, angemessen zu verstehen.

Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Bild von Parentingupstream (2015). In Pixabay. Verfügbar unter: https://pixabay.com/de/photos/krankenhaus-arbeit-lieferung-mama-840135/.

Literaturverzeichnis

Albert, Monika; Brinkmann, Sabine; Diserens, Karin; Dzialowski, Imanuel; Renner, Caroline (2023): S2e-LL- Multimodale Neurorehabilitationskonzepte für das Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS). In: Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation e.V. (DGNR) (Hg.): Leitlinien für die Neurorehabilitation. 2. Aufl. Online verfügbar unter https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/080-007.html.

Hiser, Stephanie L.; Fatima, Arooj; Ali, Mazin; Needham, Dale M. (2023): Post-intensive care syndrome (PICS): recent updates. In: Journal of intensive care 11 (1), S. 1–10. DOI: 10.1186/s40560-023-00670-7 .

Kaiser, Samira (2020): Hintergründe und Konsequenzen des PICS auf der Intensivstation. In: intensiv 28 (05), S. 252–264. DOI: 10.1055/a-1204-6616 .

Nwangene, Nkiruka Lauretta (2024): Mitigating Challenges to Effective Management of Post-Intensive Care Syndrome (PICS). In: Asian J. Med. Health. 22 (6), S. 198–206. DOI: 10.9734/ajmah/2024/v22i61037 .

Nydahl, P.; Kuzma, J. (2021): Tagebücher für kritisch kranke Patienten. In: Medizinische Klinik, Intensivmedizin und Notfallmedizin 116 (3), S. 210–215. DOI: 10.1007/s00063-021-00801-8 .

Trettner, Franziska; Hammermüller, Sören (2015): Besser verarbeiten. In: intensiv 23 (05), S. 258–261. DOI: 10.1055/s-0041-105615 .    

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