Die Gesellschaft wird zunehmend offener und toleranter gegenüber Sexualität, doch das Thema Sexualität von Menschen mit Behinderungen, insbesondere in Wohnheimen, bleibt von vielen Herausforderungen und Tabus geprägt. Menschen mit Behinderungen sind oft auf Unterstützung angewiesen, um ihre Sexualität auszuleben. 1 Dennoch haben sie das gleiche Bedürfnis nach Sexualität wie Menschen ohne Behinderung und sollten gemäß dem Grundgesetz gleichbehandelt werden. Sie haben das Recht, ihre Sexualität zu erleben und als individuelle, sexuelle Wesen in der Gesellschaft anerkannt zu werden. 2 In diesem Beitrag wird die gegenwärtige Lage in Wohnheim für Menschen mit Behinderung erörtert und die wesentlichen Aspekte dieses sensiblen Themas beleuchtet.
1 Vgl. Ortland (2016), S.12
2 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019); Ortland (2020), S.19-20; Jennessen et al. (2020), S.23-24
Sexualität: Jeder hat ein Recht darauf
Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind im Bereich der Entwicklung, Selbstbestimmung und der damit verbundenen Entfaltung der Persönlichkeit in zahlreichen Gesetzen verankert.
Diese Gesetze bedeuten in der Konsequenz ebenfalls die selbstbestimmte Sexualität. Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2, GG), wozu auch Sexualität und Partnerschaft gehören. Diese Aspekte sind essenziell für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und umfassen Themen wie Intimsphäre, sexuelle Identität, die Wahl des Partners, Sexualaufklärung und den Kinderwunsch. Sexualität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, und ein erfülltes Sexualleben trägt erheblich zum Wohlbefinden und zur inneren Balance eines Menschen bei. 3
3 Vgl. pro familia (2024); Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019); Stiftung Liebenau Teilhabe (2017), S.5; Jennessen et al. (2020), S.27-28
Herausforderungen und Barrieren
Ein selbstbestimmtes Leben ist für Menschen mit Behinderungen in vielerlei Hinsichten erschwert und begrenzt. Ursachen dafür sind die Behinderungen selbst
(z.B. Mobilitäts- und/oder Kommunikationseinschränkungen aber auch größtenteils das gesellschaftliche Umfeld (z.B. Eltern, Betreuer*innen) und die Strukturen in den Einrichtungen. Faktoren, welche ein selbstbestimmtes Sexualleben in Wohnheimen erschweren:
- Fremdbestimmung durch: Einrichtungsvorgaben, Betreuende oder auch Familienangehörige (z.B. durch subjektive Wert- und Normvorstellungen, religiöse Werte und persönliche Erfahrungen des Umfelds)
- Mangelnde Privatsphäre und Intimität (z.B. kein Anklopfen vor Betreten des Zimmers)
- Fehlende Aufklärung und sexuelle Bildung
- Vorurteile, Vorstellungen und Tabuisierung des Themas durch das Umfeld („Behinderte Menschen dürfen keine Kinder kriegen“, daher kein Sex)
- Überbehütung durch Betreuungspersonen
- Strukturelle und räumliche Barrieren in Einrichtungen (z.B. Zwei-/Mehrfachbettenzimmer, Duschen ohne Vorhänge/Kabine, Toiletten nicht abschließbar)
- mangelnde zeitliche und personelle Ressourcen
- unzureichende bzw. fehlende fachliche Kompetenzen
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4 Vgl. Ortland (2016), S.16-20, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2020), S.18-20, Jerosenko & Stiftung Leben pur (2021), S.8-9; Jennessen et al. (2020), S.23-24
Unterstützungsmöglichkeiten für sexuelle Selbstbestimmung in Wohnheimen
- Umfassende sexuelle Bildung für Menschen mit Behinderung (z.B. Bereitstellen von Medien, Verhütung, Schwangerschaft, Kinderwunsch, Körperwahrnehmung)
- Beratung und Unterstützung bei individuellen sexuellen Bedürfnissen (sowohl für Bewohner als auch deren Umfeld)
- Sensibilisierung und Schulung des Betreuungspersonals sowie Eltern/Angehörige (z.B. Bewusstsein der Vorbildfunktion; Toleranz gegenüber individuellen sexuellen Wünschen und Ausrichtungen; Bereitschaft und Unterstützung in Form einer passiven Assistenz)
- Schaffung und Achtung von Privatsphäre (z.B. Einbettzimmer, Anklopfen, Absperrbare Zimmer)
- Entwicklung von einheitlichen Richtlinie im Umgang mit Sexualität (Konzept)
- Offener Dialog über sexuelle Bedürfnisse und Wünsche (z.B. Hilfebedarf erkennen und handeln)
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5 Vgl. Jerosenko & Stiftung Leben pur (2021), S.10-12; Stiftung Liebenau Teilhabe (2017), S.10; Jennessen et al. (2020), S.24-25
Einrichtungskonzept für Wohnheime
Ein öffentliches Konzept mit sexualfreundlichen Aspekten in Einrichtungen mit sexualfreundlichen Elementen kann helfen einen klaren Orientierungsrahmen zu schaffen und gleichzeitig Schutz zu gewährleisten. Mögliche Inhalte könnten sein:
- Förderung von Kontakten und der Gestaltung von Paarbeziehungen anstelle von Vermeidung
- Eine Definition von Sexualität im Kontext von Behinderungen
- Detaillierte Anleitungen zum Schutz der Intimsphäre
- Handlungsleitfaden (klare Wege und Zuständigkeiten)
- Transparenter und konsequenter Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen auf allen Ebenen
- Unterstützung zur Sexualität
- Prinzipien der Selbsthilfe; Informationen zur Selbstbefriedigung
- Angebote zur sexuellen Assistenz (sowohl passive als auch aktive Unterstützung sowie externe Angebote)
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6 Vgl. Jerosenko & Stiftung Leben pur (2021) S.12; Hohmann (2021), S.15-18
Fazit
Sexualität ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis und ein Menschenrecht, das auch für Menschen mit Behinderungen gilt. Wohneinrichtungen müssen Rahmenbedingungen schaffen, die ein selbstbestimmtes Sexualleben ermöglichen, was einen offenen und respektvollen Umgang mit dem Thema sowie konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation erfordert. Nur so kann das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für alle Menschen, unabhängig von Behinderungen, verwirklicht werden.
Nachweise
Titelbildquelle:
„Sexuelle Selbstbestimmung“ (Eigene Fotografie).
Literaturverzeichnis:
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019), Liebe und Sexualität, in: https://www.einfach-teilhaben.de/DE/AS/Themen/LiebeSexualitaet/liebesexualitaet_node.html, abgerufen am 28.10.24.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2020), Die Sexual-Aufklärung für Menschen mit Behinderungen. Köln
Hohmann, C. (2021), Sexualfreundliche Schutzkonzepte für Einrichtungen der Behindertenhilfe, in: https://www.paritaet-hessen.org/fileadmin/redaktion/bilder/Kacheln_und_Slider/Vortrag_Sexualfreundliche_Konzepte_f%C3%BCr_Einrichtungen_der_Behindertenhilfe.pdf, abgerufen am 28.10.24
Jennessen, S., Ortland, B., Römisch, K. (2020), Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Qualifizierung von Mitarbeitenden und Bewohnerinnen und Bewohnern in Wohneinrichtungen, in: https://www.sexualaufklaerung.de/fileadmin/user_upload/03_Rewiks/Grundlagen_schwSp/ReWiKs_Grundlagen_SchwSp.pdf, abgerufen am 28.10.24.
Jerosenko, A. & Stiftung Leben pur (Hrsg.). (2021), FOKUS SEXUALITÄT bei Menschen mit Komplexer Behinderung, in: https://www.stiftung-leben-pur.de/fileadmin/Webdata/Uploads/Empfehlungen/slp_empfehlung-sexualitaet_02.21.pdf, abgerufen am 28.10.24.
Stiftung Liebenau Teilhabe (2017), Leitlinien zum Umgang mit Sexualität und Behinderung, in: https://www.stiftung-liebenau.de/fileadmin/benutzerdaten/teilhabe/pdf/Ueber_uns/teilhabe-leitlinien-sexualitaet-behinderung-2017.pdf, abgerufen am 28.10.24.
Ortland, B. (2016), Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe, Stuttgart: Kohlhammer.
Ortland, B. (2020), Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik (2. Aufl.), Stuttgart: Kohlhammer.
pro familia (2024), Sexualität und Behinderung, in: https://www.profamilia.de/themen/sexualitaet-und-behinderung/, abgerufen am 28.10.24.