By Published On: 13. Dezember 2024Categories: Gesundheit, Literaturempfehlungen, Psychologie, Soziales

von Sabine Kuegler–  Eine Buchempfehlung, die Betrachtung eines Bestsellers und das Streben nach individuellem Glück aus psychologischer Sicht (Teil II)

Einleitung

Nach Teil I der Literaturempfehlung und den einleitenden Themen des Buches bzw. der Rahmenhandlung, befasst sich Teil II mit dem Jagdtrieb des Menschen, dem Umgang der Eingeborenen mit dem Tod, Naturmedizin und Sagenwesen. Auch die Thematik der Dschungelmythologie ist ein immer wiederkehrendes Motiv der Handlung und der dort lebenden Menschen. Entweder sind die Sagen meisterhaft mit der Geschichte und der Suche nach dem Sinn des Lebens verwoben – oder der tiefe Urwald wird tatsächlich von seltsamen Wesen bevölkert.

Der Dschungel, sexualisierte Jagd und die Genderfrage

Obwohl der Sexualtrieb einer der stärksten biologischen Triebe überhaupt ist (Myers et DeWall, 2023, S. 468), wird diese in dem Buch nur abstrakt vermittelt. Dafür wird zwischen Sexualität und dem Jagen, dem Jagdtrieb, Parallelen gezogen und letzteres immer wieder ausufernd dargelegt. Es ist eine Tatsache, dass die Jagd eine Dominanz und Kolonisierung der Tierwelt, gleichzeitig auch eine starke Urinstinktbefriedigung darstellt (Lendjel, 2017, S. 172-179). Die Jagd wird von Kuegler auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen, geradezu mit Sex gleichgesetzt und das persönliche Empfinden der Tötungshandlung, als ein orgasmusähnlicher Zustand beschrieben. Als etwas, wovon sie dauerhaft fantasiert und ihren eigenen Jagdtrieb als beinahe nicht unterdrückbar darstellt. Die Jagd übernimmt in der Erzählung nicht nur eine übergreifende Rahmenhandlung, sondern wird ihr auch das stimulierende, befriedigende und positive Sexempfinden zugesprochen. Neutral hingegen, klingen die Beschreibungen der diversen Sexualpraktiken innerhalb der Ehe und der koitalen Dorfgemeinschaft der Stämme. Stark negative Sexualität wird in den Erzählungen zu Sexualstörungen und sexuellem Missbrauch dargestellt. Nach Myers et DeWall (2023) sind die vier Haupttriebe des Menschen die Quellen seiner Motivation: Hunger, Sex, Zugehörigkeit und Erfolg. Diese treffen durch die Beschreibung der Jagdszenen, der Kollektiverfahrungen und der Wichtigkeit von Nahrung im Urwald, durchaus vollständig auf Kuegler zu. Dass selbst im tiefsten und abgelegensten Dschungeldorf, offensichtlich Sex nicht nur säugetierähnliche Paarung bedeutet, es also auch um Libido und Lust geht, überrascht nicht. Dass die verschiedenen Stämme ihre sexuellen gesellschaftlichen Normen dermaßen divergierend ausleben, schon etwas mehr. Hier reicht die Palette von absoluter Monogamie, über Liebesmagie und außerehelichen Arrangements, bis hin zu Sex-Kommunen, wo jede Frau -und nur die Frauen- sich jeden Mann im Dorf für ein oder mehrere Nächte aussuchen können (zum Sexualtrieb der Menschen, vgl. ua. Rost, 2006, S. 185-218).

Kuegler selbst wurde im Zuge des Aufwachsens zuerst vom Stamm als Junge eingestuft und erst bei der Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale zur Frau umgestuft. Somit durfte sie ab ihren späteren Teenagerjahren auf Grund einer strikten Geschlechtertrennung nicht mehr an Jagden teilnehmen. Dies ist der Grund laut der Autorin, weshalb ihr Jagdinstinkt in ihrer Kindheit überhaupt geweckt worden war und schließlich aber niemals richtig befriedigt werden konnte. In diesem Teil der Erzählung verschwimmen nicht nur die kulturellen sondern auch die genderspezifischen Identitäten Kueglers. Schließlich ist im Urwald das Jagen streng an die männliche Bevölkerung und innerhalb dessen, an den Beruf der Jäger gebunden.              

Der Umgang mit dem Tod, Menschenfleisch und Hexenzauberei

Manche Kapitel sind gänzlich unerwartet: beispielsweise jenes über Kueglers Erfahrungen während dem katastrophalen Tsunami. Es ist beindruckend und fürchterlich zugleich. Die Beschreibungen einer gewissen dunklen Versuchung, dort im Kampf gegen die Urgewalten der Natur, sich einfach in die Wogen und somit dem sicheren Tod fallen zu lassen, lässt einen erschaudern.

Wie Gemeinschaften mit den sterblichen Überresten ihrer Toten umgehen, offenbart vieles über die Gesellschaft, ihre Normen und Bräuche. Die Erzählungen über den Umgang der einzelnen Urwald-Stämme mit dem Tod, ergeben einen faszinierenden Blick auf verschiedenste archaische Rituale und Ahnenkulte. So begräbt beispielsweise einer der Stämme ihre Toten nicht, sondern bahrt sie in ihren Hütten auf und wartet, bis der Leichnam eigenständig verwest. Viel mehr noch, wird neben der Leiche gegessen, gelebt, geschlafen und jeden Tag mit der austretenden Leichenflüssigkeit der eigene Körper eingerieben. So soll die Erinnerung, die Kraft, das Wissen etc. des Ahnen auf den jeweiligen Menschen übergehen. Selbstredend ist der Verwesungsprozess von unsäglichem Gestank begleitet.

Bei einem Nachbarstamm, so erzählt Kuegler, habe sie eine angebliche Hexe regelmäßig besucht und von ihr gelernt. Die Zauberin war eine alte Frau, die etwas abseits der Dorfgemeinschaft lebte, Kräuter und Heilpflanzen sammelte und auch über Begegnungen mit den Geistern des Waldes berichtete. Als aber Unglück über das Dorf hereinbrach, wurde auf Weisung des Häuptlings und zum Abwenden des Unheils, die arme Frau an einen Stein gebunden und einfach im Fluss versenkt.

Der Geschmack von Menschenfleisch ist ein weiteres zentrales Motiv des Buches und wurde in den Artikeln der diversen Zeitungen- im Sinne des Marketings- auch sehr ausführlich verbreitet. Es wurde der Anschein erweckt, als ob die Autorin selber Menschenfleisch gegessen habe. Allerdings ist das Sujet des Kannibalismus eher eine Randnotiz und Kuegler hat auch niemals in zubereitetes menschliches Fleisch gebissen. Sie erzählt lediglich eine Anekdote, dass sie indigene Waldbewohner trafen, welche von ihren direkten Vorfahren berichteten: Diese hätten Menschenfleisch konsumiert. Entweder wurden die getöteten Feinde verspeist (Übergang der Stärke auf den Sieger) oder die natürlich Verstorbenen (Übergang der Weisheit auf die Nachfahren) oder im Rahmen von besonderen Opfergaben. Die weiteren Details über die diversen Geschmacksrichtungen sind teilweise recht grausam erläutert und gehen bei einem europäischen Leser vermutlich deutlich über die annehmbaren Geschmacksgrenzen hinaus.

Sämtliche Dschungelstämme glauben in irgendeiner Form an ein Leben nach dem Tod- allerdings nicht im Sinne einer modernen Religion. Die Ahnen kehren als Geister zurück und leben fortan als Geisterwesen im Dorf und im Wald. Der Ahnenkult und die Vorstellung von der Seele sowie deren Entfliehen aus dem sterbenden Körper (vgl. Hellerich, 2022, S.167-174), geht mit der Geschichte des modernen Menschen einher und dürfte ca. 15.000 Jahre alt sein (Hinterhuber, 2001, S. 5-17).     

Mythologie, Legenden, Sagen

Nachvollziehbarerweise sind, in Analogie zu den anderen indigenen Bevölkerungen auf der Welt, auch die Urwaldstämme eng mit ihren eigenen Mythologien und ihrer Ethnogenese verbunden. Auch der Aberglaube spielt eine wichtige Rolle in der archaischen Gesellschaft (vgl. bspw. Reslökken, 2024, S. 193-214) und verliert sich mehr und mehr im Zuge der Zivilisierung. Kuegler berichtet von Sagenfiguren der jeweiligen Stämme. Zuerst sind es lediglich Erzählungen oder Märchen, welche ihr erzählt werden. Später sind es schon bedeutend greifbarere Geschichten, wo bspw. eine nahe Verwandte Geschlechtsverkehr mit einem Zwergenwesen aus den Berghöhlen hat. Mit jedem Kapitel, in dem Kuegler tiefer in den Dschungel vordringt, werden auch die Sagengestalten greifbarer. Schließlich erwacht sie selber in einer Nacht unter dem freien Himmel und erschaudert, als sie hinter sich, eine seltsame Tier-Mensch-Gestalt wortlos stehen sieht. Sie beschreibt das Wesen als einen Art Menschen mit verlängerten Gliedmaßen, der sie lange anblickt. Als Leser denkt man sofort an einen Menschenaffen, aber diese Vermutung schließt Kuegler selber aus: unfähig vor Angst zu schreien, berichtet sie erst bei Tagesanbruch ihren Jagdgefährten. Diese kennen das Wesen, hätten es schon oft gesehen und es wäre harmlos- jedenfalls sei es kein Affe und auch kein sonstiges Tier. Aberglaube und mit diesem gekoppelten Tierwesen, finden sich auf unzählige Weise in den jeweiligen Mythologien der verschiedenen Völker. Sie werden zu einem Teil der nationalen Identität oder Kultur. Und auf gewisse Art, entstehen immer weitere neue Sagen und Legenden, sogar in den Großstadtdschungeln unserer überbevölkerten westlichen Welt (vgl. Liese, 2023, S. 351-369).

Naturmedizin oder lieber Naturkosmetik?

Die Autorin nimmt überraschenderweise keinerlei Naturmedizin aus dem Dschungel mit sich mit, obwohl sie viele verschiedene ausprobierte. Nicht mal von jenen wurden Proben genommen, die irgendeine Art von Wirkung zeigten. Aber dafür findet sie auf einer Insel bei einem Eingeborenenstamm eine Naturkosmetik, welche den Frauen wunderschöne Haut zaubert. Interessanterweise versucht sie genau dieses Rezept nachzubilden, was ihr auch gelingt und erfindet für die Creme einen wohlklingenden Namen. Dieser ist auch bereits als preisgekrönte Erfindung eines Werbeunternehmens rechtlich geschützt; das Dschungeldesign der Verpackung bildet einen ästhetischen Zusammenhang zwischen dem angedachten Produkt und dem Buch. Es stellt sich somit die berechtigte Frage, ob die literarische Beschreibung nicht erneut Marketing auf hohem Level ist. Die Antwort wird vermutlich in naher Zukunft auf den Regalen der Naturläden zu finden sein.

Fazit

Das Sujet der unentdeckten Naturmedizin und der einfach lebenden, aber weisen Naturvölker ist nichts Neues (vgl. bspw. Giannis, 2023, S. 1-20) und wurde in etlichen Filmen, Romanen, Sachbüchern, Artikeln ausufernd behandelt. Trotz überbordender Themenvielfalt ist das Buch spannend zu lesen. Es fällt allerdings schwer, sich zu entscheiden, ob alles tatsächlich wirklich wie beschrieben stattgefunden hatte. Aber vielleicht bietet gerade diese ab und zu nicht plausibel wirkende Geschichte, jene manchmal beinahe märchenhafte Entfaltung, welche wir als moderne Menschen Europas schon längst vergessen haben. Dass der Dschungel mit Sicherheit Überraschungen verschiedener Art bereit hält, ist leicht vorstellbar. Ganz kann Kuegler der Naturmensch, die „weiße Eingeborene“ und die auf sie auf tragische Art in Europa einprasselnden negativen Eindrücke nicht abgekauft werden- dafür war sie dann doch zu sehr mit dem modernen Leben, mit der Schule in einer Stadt, mit Motorbooten und Helikoptern schon als Kind vertraut. Über die aktuellen biologischen, zoologischen und ethnologischen sowie sozialen Status Quo des Urwaldes und seiner Bewohner zu erfahren, ist aber der tatsächliche Gewinn für den Leser dieses Buches.

Ihre persönliche Suche nach Glück, erfüllte sich für Kuegler. Glücks- und Emotionsforschung ist ein fester Bestandteil der modernen Psychologie und ergibt sich grundsätzlich dadurch, dass die innere und äußere Welt des menschlichen Individuums deckungsgleich ist, keine Disharmonie und kein innerer Konflikt vorliegt. Glück kann immer nur aus dem eigenen Empfinden heraus wirken und ist nur kurzfristig durch äußere Reize auslösbar. Die schon angeführte Maslow´sche Bedürfnispyramide ist in ihrer wirkenden Gesamtheit, auch gleichzeitig einer der Wege zum persönlichen Glück, welches auf verschiedenen Ebenen mehrdimensional in jedem Individuum verankert ist. Alleine schon der Begriff Glück, bedeutet für jeden Menschen etwas anderes (Vedder, 2024, S. 139-151).

Bei Kuegler ist es die Erkenntnis, dass Glück immer individuell definiert werden muss, sich auf unterschiedlichste Arten zeigen kann- und dass Glück manchmal gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen und in geografischen und kulturellen Strukturen durchaus nebeneinander, parallel existieren kann.                  

Literatur:

Giannis, Athanassios (2023): Curare: Der fliegende Tod. Naturstoffe im Dienste der Medizin. Springer Verlag, Berlin.

Hellerich, Gert (2022): Das ewige Leben. Weiterleben der Verstorbenen im Gedächtnis ihrer Mitmenschen. Frank Timme Verlag, Berlin.

Hinterhuber, Hartmann (2001): Die Seele. Natur- und Kulturgeschichte von Psyche, Geist und Bewusstsein. Springer, Wien.

Myers, David et DeWall, Nathan (2023): Quellen der Motivation: Hunger, Sex, Zugehörigkeit und Erfolg. Springer, Berlin.

Liese, Lea (2023): Tier-Mensch-Begegnungen in modernen Sagen. Animal-Human Encounters in Urban Legends. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Volume 53/2023. Springer, Heidelberg.

Reslökken, Amund (2024): Die Seele der Arktis: David Cranz´ Bericht über die Religion oder den Aberglauben der Grönländer und seine Auswirkungen auf die Beschreibungen der Religion in Grönland im neunzehnten Jahrhundert. Springer, Berlin.

Rost, Wolfgang (2006): Elixiere des Lebens. Emotionen. Springer, Berlin.

Vedder, Günther (2024): Glück und Glückskompetenz. In: Genkova, Petia [Hrsg.]: Handbuch Globale Kompetenz. Springer, Wiesbaden. [S. 139-151]

Titelbildquelle:

Eigene Fotografie/ Darstellung des Buches (2024)

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