Es ist beinahe schon banal geworden festzustellen, dass wir uns in ständiger Krise befinden. Ich möchte sie einmal unter dem Gesichtspunkt der Finanzmärkte betrachten und wie in diesem Zusammenhang die Psychologie der Massen genutzt werden kann. Dabei möchte ich eine Dynamik beschreiben, wie finanzstarke Akteure die statistischen Effekte der Psyche ausnutzen können, solange sie beinahe irrational besonnen bleiben.
Aktienwerte am Beispiel von Apple
Bringen wir das technische gleich hinter uns. Ich verspreche, es wird spannend. Nehmen wir einmal an, ich habe Aktien und möchte deren Wert steigen sehen. Bei Anlagen gilt in der Regel: hohe Renditen bedeuten ein hohes Risiko. Das möchte ich natürlich nicht, aber vielleicht könnte ich ein Mittel finden, den Wert meiner Aktien kurz vor dem Verkauf zu erhöhen. Eine Möglichkeit wäre doch, den Wert der Aktie in Augen der anderen Anleger als höher darzustellen, als er bisher wahrgenommen wird. Ich werde unten erklären, warum das keine gute Idee ist, aber eigentlich geschehen solche Veränderungen ständig auf natürliche Weise. Dazu ein Beispiel von Anfang 2024: Apple verkündet, seine langjährigen Bemühungen zur Produktion von Automobilen zu beenden (Binns, 2024). Der Aktienpreis stieg daraufhin, da Anleger das Projekt von Apple sowieso nicht für lukrativ hielten. Damit ist Apple jetzt aus Anlegersicht mehr wert, da verfügbares Kapital sinnvoller eingesetzt werden kann.
Ein wichtiger Effekt: die Effizienzmarkthypothese
Da ich von dieser Information gehört habe, könnte ich natürlich denken, „Apple ist nun mehr wert? Da kaufe ich lieber schnell noch Aktien“. Allerdings wäre ein solcher Kauf naiv, denn der neue Wert des Unternehmens ist längst in den neuen Aktienpreis eingerechnet. Es ist der Job von Finanzanalysten und Tradern, möglichst schnell mit hohen Summen auf solche Ereignisse zu reagieren. Das sehe ich daran, dass der Kurs sich kurz nach Pressemitteilung schon verändert hat (Cohan, 2024). So werden neue Ereignisse oder Informationen immer mit geringer Zeitverzögerung in den Preis einbezogen, sodass lahme Anleger wie ich nicht überproportional davon profitieren können. Die These, dass Preise bereits alle verfügbaren Informationen widerspiegeln, wird als „Effizienzmarkthypothese“ (EFH) bezeichnet (Logue, 2003).
Legale und illegale Vorgehensweisen beim Aktienhandel
Die absichtliche Irreführung von Anlegern hinsichtlich des Aktienwertes, z. B. durch Verbreitung von Falschinformationen, ist verboten und unterliegt empfindlichen Strafen. So viel zu meiner Idee, den Aktienwert kurz vor dem Verkauf zu erhöhen. Und warum kauft ein Apple-Mitarbeiter nicht kurz vor der Pressemitteilung viele Aktien und verkauft sie danach wieder? Ganz einfach, das wäre Insiderhandel – also das Ausnutzen von Informationen, die für andere Personen noch nicht zugänglich sind – und ist auch illegal. Was hingegen nicht verboten ist, ist die Analyse von öffentlich zugänglichen Informationen. Wie eben beschrieben, führen Informationen häufig zum Kauf oder Verkauf von Aktien. Das Problem ist jedoch auch für jeden professionellen Analysten: das Risiko ist groß, dass er sich mit seiner Einschätzung täuscht, selbst bei einer schnellen Reaktion.
Psychologie im Aktienhandel
Der Preis einer Aktie wird nicht direkt vom tatsächlichen Unternehmenswert bestimmt, sondern davon, wie er von Menschen wahrgenommen wird (Gupta & Chen, 2020). Die Psychologie unter anderem die Wahrnehmung von Informationen und die daraus abgeleiteten Handlungsentscheidungen. Viele Personen haben vielleicht auch darauf gewettet, dass es für Apple gut wäre, weiter an ihrem Automobil-Projekt zu festzuhalten und sind nun der Meinung, das Unternehmen wurde im Anschluss überbewertet. Der Wert eines Unternehmens ist nicht in Stein gemeißelt, sondern vielmehr eine Spekulation auf Basis des kollektiven Geistes aller am Markt teilnehmenden Menschen, einschließlich Ökonomen mit ihren Berechnungen. Die Grundannahme der EFH, auf die sich Ökonomen stützen ist jedoch, dass Menschen rational handeln (Logue, 2003). Was passiert also, wenn Menschen aufhören rational zu handeln?
Rationale und irrationale Akteure
Wenn Angst aufkommt, etwa durch eine Krise, kann sich die Lage ändern, denn in Angst getroffene Entscheidungen gelten nicht als rational, wenn es präzise Berechnungen als alternative gibt. Berechnungen auf Basis der EFH müssen also modifiziert werden, wenn ängstliche Akteure am Markt mitspielen. Mit Modellen, die dies berücksichtigen, lässt sich deshalb eine Menge Geld verdienen. Nicht umsonst erhielten Kahneman und Smith den Wirtschaftsnobelpreis für ihre „Prospect Theory“ (Nobel Prize Outreach AB, 2002). Diese Theorie beschreibt die Irrationalität, die in Kauf- und Verkaufsentscheidungen einfließt, insbesondere das Phänomen von Verlustaversion. Ökonomen müssen die passenden statistischen Kennzahlen einfach in ihre Berechnungen einbeziehen. Rationale Akteure mit solchen Modellen haben damit in Krisen, die eine Verlustaversion auslösen, einen Vorteil gegenüber den Massen.
Große Krisen manipulieren auch rationale Marktteilnehmer
Je stärker eine Krise auf die Psyche der Menschen wirkt, desto weniger rationale Akteure bleiben übrig, denn auch große Anleger oder Entscheider unterliegen letztlich Gefühlen. Die resilientesten bleiben zwar am längsten rational, Rationalität kehrt sich jedoch irgendwann um: bei drohender Katastrophe, die den Akteur selbst betrifft, kann es äußerst irrational werden, die eigene Angst stark zu „ignorieren“ und analytisch zu bleiben. Und Organisationen bestehen auch nur aus Menschen mit verschiedenen Temperamenten. Während der Corona-Pandemie, bei der es kaum „außenstehende“ Betrachter gab – schien der Aktienkurs der gesamten Wirtschaft einzubrechen (Statista, 2024). Die enorme Absenkung der Bewertung vieler großer Aktien-Indizes war eine Mischung aus Analysen und Panikverkäufen durch einen Herdentrieb. Unternehmen weltweit waren nicht wirklich plötzlich 35–40% weniger Wert, wie sich an der Erholung klar zeigte. Der Crash kann daher als eine Risiko-Überbewertung auf Basis der unverhältnismäßigen Verlustaversion interpretiert werden, und zwar auf einer bis dato unvergleichbaren Größenordnung, die auch Großanleger betroffen hat. Niemand konnte vorhersagen, was passiert, weil es für die Größenordnung kein eigenes Berechnungsmodell gab. Der Kauf breit gestreuter Aktien während der größten Panik kurz nach Beginn der Pandemie war somit nur besonders besonnenen Anlegern vorbehalten.
Legale Manipulation durch vermeintlich verständliche Panik
Die panische Berichterstattung der Pandemie ist so flächendeckend aufgetreten, dass nicht von einer illegalen Manipulation gesprochen werden kann. Und dennoch gab sicher es eine Reihe besonnener Experten, die großen Anlegern und Händlern beratend zur Seite standen. Ihr Rat könnte sein: die Reaktion der Bevölkerung nutzen und vielleicht sogar anzufeuern.
Fazit
Meine Befürchtung ist, dass Krisen an sich zu einem Geschäftsmodell werden, das keiner Regulierung unterliegt. Insiderinformationen, einseitige Manipulation oder andere illegale Tätigkeiten liegen nicht vor oder wären nicht nachweisbar, da das Überbewerten von Krisen in der öffentlichen Meinung als verständliche Reaktion gedeutet wird. Ich sehe eine fantastische Gelegenheit zur Rendite, auf Kosten der Gesellschaft.
Abbildungsverzeichnis
Beitragsbild: Finanzchart, Abgerufen am 15.12.2024 unter https://pixabay.com/de/photos/verwischen-diagramm-rechner-daten-1853262/
Literaturverzeichnis
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Cohan, P. (28. Februar 2024). forbes.com. Abgerufen am 2. August 2024 von https://www.forbes.com/sites/petercohan/2024/02/28/apple-stock-up-on-killing-2000-employee-electric-vehicle-project/
Gupta, R., & Chen, M. (25. August 2020). Sentiment Analysis for Stock Price Prediction. 2020 IEEE Conference on Multimedia Information Processing and Retrieval (MIPR), S. 213-215.
Logue, A. C. (1. November 2003). cfainstitute.org. Abgerufen am 17. August 2024 von https://rpc.cfainstitute.org/research/cfa-digest/2003/11/the-efficient-market-hypothesis-and-its-critics-digest-summary
Nobel Prize Outreach AB. (2. Oktober 2002). nobelprize.org. Abgerufen am 17. August 2024 von https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/2002/9238-pressemitteilung-der-schwedischen-reichsbank-in-erinnerung-an-alfred-nobel-gestifteten-preis-fur-wirtschaftswissenschaften-des-jahres-2002/
Statista. (2. Januar 2024). statista.com. Abgerufen am 14. Dezember 2024 von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1124368/umfrage/entwicklung-und-crash-des-dax-aufgrund-der-corona-krise-2020/