„Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur; in Salben und Pillen steckt keine“. (Arthur Schopenhauer)
In seinem 2015 erschienenen Buch „Der Biophilia-Effekt – Heilung aus dem Wald“ beschreibt der Biologe Clemens G. Arvay wie man Schopenhauers Zitat umsetzen kann: Die Heilung bzw. Linderung von Krankheiten mithilfe der Natur. Zunächst klingt das nach viel Esoterik und wenig fundierter wissenschaftlicher Erkenntnis, allerdings wird, vor allem bei Kindern, bereits seit längerem in Therapien mit Tieren gearbeitet, mit deren Hilfe der Heilungsprozess beschleunigt werden kann. Der Mensch ist als Teil der Natur eng mit dieser verbunden und das nicht nur bezogen auf die Fauna, sondern auch auf die Flora. Und so kann Arvay in seinem Buch auch wissenschaftliche Untersuchungen aufführen, die seine Thesen stützen.
Was ist Biophilia?
Biophilia bzw. Biophilie stammt aus dem Altgriechischen. Bios bedeutet Leben und philia heißt übersetzt Liebe. Wörtlich übersetzt steht Biophilia folglich für die Liebe zum Lebendigen. Der Begriff wurde in den 1960er Jahren von Erich Fromm eingeführt, einem deutsch-US-amerikanischen Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen. Biophilia geht einher mit dem Wunsch nach Wachstum, Leben zu erhalten und mehr dem SEIN, als dem HABEN oder BESITZEN. Biophile Menschen orientieren sich eher am „Großen Ganzen“ als an Einzelteilen. Das Gegenstück zur Biophilie ist die Nekrophilie, die in Destruktivität mündet. Im Jahr 1984 veröffentlichte der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson das Buch „Biophilia“. Er versteht Biophilia als angeborene Affinität eines jeden Menschen gegenüber der Natur und anderen Lebewesen. Daraus leitet er seine Biophilia-Hypothese ab, die besagt, dass der Mensch ein biologisch begründetes inhärentes Interesse an der Natur und anderen Lebewesen besitzt und damit auch an der Erhaltung der Artenvielfalt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Mensch evolutionsbiologisch das gleiche Ökosystem mit anderen Lebewesen teilt und deshalb mit ihnen verbunden ist. Diese Hypothese ist aber nicht unumstritten und empirisch kaum belegt. Dennoch macht sie durchaus Sinn, denn schließlich sind wir tatsächlich nicht in Beton aufgewachsen, sondern zwischen Wäldern und Wiesen, was eine angeborene Nähe zur Natur durchaus logisch erscheinen lässt.
Der Biophilia-Effekt
Der Hintergrund ist die ganzheitliche Betrachtung des Menschen – eine Sichtweise, die zunehmend auch in der Medizin Einzug hält. Diese berücksichtigt, dass der Mensch stark mit seiner Umwelt verknüpft ist und sein Inneres wiederum von hochkomplexen Vorgängen gesteuert wird. Der Mensch funktioniert als biopsychosoziales System und für Krankheiten gibt es in der Regel nicht die eine klare somatische Ursache. Dies impliziert wiederum, dass die Umwelt bzw. die Natur einen Einfluss auf den Gesundheitszustand hat.
Arvay bezieht das direkt auf die Kraft der Bäume. Der Eine oder Andere hat sicher schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ein Spaziergang im Wald gut tut und entspannt. Aber dies gilt bereits, wenn man im Wald steht und nur atmet. Der Grund hierfür liegt in der „Kommunikation“ der Pflanzen. Pflanzen „kommunizieren“ über Moleküle, bzw. chemische Substanzen, etwa um sich vor einem Schädling zu „warnen“ oder Nutztiere anzulocken. Pflanzen verfügen über ein großes Repertoire an diesen sekundären Pflanzenstoffen, den sogenannten Terpenen. Diese entfalten dabei ganz unterschiedliche Wirkungen. Hält sich der Mensch nun in einem Wald auf, nimmt er viele dieser Duftstoffe über die Atmung auf. Einige Terpene wiederum unterstützen das Immunsystem, denn sie helfen bei der Aktivierung von natürlichen Killerzellen. Killerzellen sind Lymphozyten, die der Abwehr von Virusinfektionen dienen. In Kombination mit unserer Vorstellungskraft ergibt sich so ein doppelter Effekt, denn mit unserer Phantasie können wir beeinflussen, wie wir uns fühlen. Diese Kraft des Unbewussten wurde bereits von Sigmund Freud untersucht. Demzufolge fühlen wir uns besser, wenn wir uns eine blühende Wiese oder einen Wald „nur“ vorstellen. Diese Kombination wirkt sich in erster Linie auf die Gesundheitsförderung bzw. Gesundheitsvorsorge aus. Aber wie sieht es mit der positiven Wirkung auf bereits bestehende Krankheiten aus?
Bäume als Krankheitsheiler?
Arvay beschreibt, dass in Japan „Waldbaden“ (Shinrin-yoku) bereits seit längerem wissenschaftlich untersucht wird, weshalb hier einige Studien zu diesem Thema entstanden sind. So haben japanische Forscher mithilfe einer Untersuchung an Diabetikern herausgefunden, dass der Aufenthalt im Wald den Blutzuckerspiegel senkt. Bewegung ist zwar bei Diabetes generell empfehlenswert, aber bereits das bloße Sein im Wald hat die gleiche Wirkung. Dies liegt wiederum an den gasförmigen sekundären Pflanzenstoffen in der Luft, die über die Atmung aufgenommen werden und einen positiven Effekt auf den Blutzuckerspiegel haben.
Ein zweiter Punkt, bei dem laut Arvay der Wald seine lindernde Wirkung entfaltet, ist Stress. Stress ist eine Hauptursache für vielfältige Krankheitsbilder (Depressionen, Reizdarmsyndrom etc.). Außerdem wird ein möglicher Zusammenhang von Stress mit dem Ausbruch von Krebserkrankungen untersucht. Stress ist vor allem durch drei „Stresshormone“ messbar: Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin. Alle drei Hormone reduzierten sich bei Untersuchungspersonen, deren Stresspegel vor und nach dem Ausflug in den Wald gemessen wurde, nach dem Aufenthalt im Wald in erheblichem Maße. Die Natur hat folglich „entstressende“ Wirkung, während dies bei einem Stadtausflug nicht festgestellt werden konnte. Diese Wirkung führten die japanischen Wissenschaftler auf psychologische Ursachen und die Terpene in der Luft zurück. In diesem Zusammenhang konnte zudem festgestellt werden, dass Waldluft den Parasympathikus aktiviert. Seine Aktivierung dient der Entspannung, der Regeneration und der Erholung.
Auch auf Patienten mit Herz- und Kreislauferkrankungen wirkt Waldluft positiv. So bewirken aromatische Substanzen in der Luft eine Senkung des Blutdrucks, ähnlich wie beim Einatmen von bestimmten ätherischen Ölen, nur in wesentlich umfangreicherem Maße. Außerdem bewirkt der Aufenthalt im Wald – im direkten Vergleich zum Aufenthalt in der Stadt – eine gleichmäßiger bleibende Herzfrequenz. Der Körper produziert in der Natur vermehrt das als Anti-Stresshormon bekannte DHEA (Dehydroepiandrosteron).
Bereits 1984 veröffentlichte Roger S. Ulrich eine Studie, in der er den Einfluss des Ausblicks aus dem Fenster eines Krankenhauszimmers beschreibt. Er fand heraus, dass die Patienten, die ins Grüne blickten, weniger und geringer dosierte Schmerzmittel benötigten und auch weniger unter postoperativen Komplikationen litten als vergleichbare Patienten, die auf eine Hauswand blickten. Arvay führt die schmerzlindernde Wirkung auf zwei Faktoren zurück. Befindet sich der Mensch draußen – unter natürlichem Licht – wird die Ausschüttung von Serotonin verstärkt. Serotonin bewirkt Gelassenheit und Zufriedenheit und hemmt gleichzeitig Angstgefühle, Aggressionen und die Weiterleitung von Schmerzimpulsen. So sind Depressionen auch auf einen Mangel an Serotonin zurückzuführen. Der zweite Faktor, der wohl auch bei den „Fenster-Patienten“ gewirkt hat, ist Ablenkung. Die Umleitung der Aufmerksamkeit und Stressreduktion wirkt schmerzlindernd. Hierfür genügt bereits das Betrachten eines Bilds der Natur, wodurch die Aufmerksamkeit vom Schmerz weg hin zu einer positiven Phantasie gelenkt wird. Diese Erkenntnis wird bereits in Form der Gartentherapie eingesetzt. Aber auch in der Geriatrie wird sie eingesetzt, indem man Senioren Zeit in Gärten verbringen lässt, aufgrund dessen diese weniger Antidepressiva und Schmerzmedikamente benötigen. Natur kann demzufolge auch eine schmerzlindernde Wirkung haben.
Mein persönlicher Biophilia-Effekt
Es ist ein schöner Gedanke, dass die Natur uns hilft, unser Immunsystem zu stärken und vorhandene Krankheiten oder Schmerzen zu lindern, auch wenn mir nicht alles plausibel erscheint, was Arvay in seinem Buch beschreibt und erklärt. So ist die Wirkung von Aufmerksamkeitsablenkung bekannt, hat aber nicht unbedingt direkt etwas mit der Natur zu tun. Ablenkung bei Schmerzen funktioniert ganz individuell auch mit anderen positiven Bildern, Phantasien oder Tätigkeiten – ohne dabei abstreiten zu wollen, dass ein Naturbild tatsächlich auch wirken kann. Zudem steht die Wissenschaft in Bezug auf die „Interaktion“ zwischen Mensch und Pflanze erst am Anfang. Vieles erscheint mir zunächst noch mysteriös, wie etwa die „Anti-Krebs-Terpene“ in der Waldluft.
Aber bereits beim Lesen bekam ich große Lust auf einen Ausflug ins Grüne, um neue Kraft zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Allein diese Gedanken haben zu meinem Wohlbefinden in den letzten Tagen beigetragen. Dass die Natur sich positiv auf meinen Gemütszustand auswirkt, konnte ich selbst schon oft genug feststellen. Umso spannender ist es, dass nun versucht wird, dieses Gefühl des positiven Effekts auf eine wissenschaftlich fundierte Basis zu stellen. In Kombination mit Bewegung ist die positive Wirkung der Natur auf gestresste Menschen zudem bereits gut erforscht und anerkannt. Beispielsweise befinden sich Kurorte tendenziell an Seen, in den Bergen oder am Meer. Biophilia ist für mich ein inspirierendes Thema, das Arvay zusätzlich mit Praxistipps versehen hat. Damit kann jeder die Theorie direkt in die Tat umsetzen und die Heilkraft der Natur selbst auf sich wirken lassen, frei nach Bernhard von Clairvaux: „Glaube mir, denn ich habe es erfahren, du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern; Bäume und Steine werden dich lehren, was du von keinem Lehrmeister hörst.“
Quellen:
Arvay, C.G.: Der Biophilia-Effekt: Heilung aus dem Wald. Wien. 2015.
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Wilson, E.O.: Biophilia. Cambridge. 1984.
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