By Published On: 22. März 2019Categories: Gesundheit, Psychologie, Wirtschaft

Den Ausdruck „Genuss“ verknüpfen die meisten Menschen automatisch mit leiblichen Freuden wie Essen und Trinken. Weiterhin kommen noch andere Auslöser für Genussmomente in Frage, angefangen bei kleinen alltäglichen Dingen wie einer heißen, entspannenden Dusche.  In der Fachliteratur findet sich darüber hinaus keine vereinheitlichende Definition, da zum einen fast alles zum Genuss werden kann und dieser zum anderen individuell von der persönlichen Einstellung, Moral und Erfahrung des Einzelnen beeinflusst wird.[1] Im Zuge einer Publikationsreihe zum Thema Genuss erfolgte eine Leserbefragung „Was ist für Sie Genuss?“ durch den Spektrum-Verlag mit sehr widersprüchlichen Rückmeldungen von gedankenlos bis bewusst, von spontan bis kontrolliert, von ausschweifend bis reduziert. Trotzdem kann Genuss zusammenfassend als die generelle Fähigkeit beschrieben werden Dinge bewusst wahrzunehmen und aus diesem sinnlichen Erlebnis positive Emotionen abzuleiten.[2] Ausgehend von diesem Verständnis stellt Genuss also einen für alle Menschen erstrebenswerten Zustand dar, dessen erfolgreiche Umsetzung zudem noch erlernbar ist, zum Beispiel über das Genusstraining nach Kaluza.[3] Die Wirksamkeit eines solchen Trainings konnte hinsichtlich des subjektiv empfundenen Wohlbefindens nachweislich zur Steigerung des Genusses und der Sinnhaftigkeit beitragen.[4]

Wenn nun aber schon Trainingsmethoden für Genuss entwickelt wurden, stellt sich somit die Frage, ob wir wirklich noch genießen können? Grundlegend wird der sogenannten deutschen Wohlstandsgesellschaft unterstellt, dass die beinahe zwanghafte Mäßigung im Hinblick auf Genuss ein charakteristisches Krankheitssymptom der Epoche darstellt.[5]  Die Studie „ Die Unfähigkeit zu genießen – die Deutschen und der Genuss“ aus dem Jahr 2012 zeichnet ein entsprechend unerfreuliches Bild. Zwar macht für 91% der deutschen Bevölkerung Genuss das Leben lebenswert, jedoch geben 46% ebenso an, dass der vorherrschende stressige Alltag den Genuss stark erschwert. Besonders auffällig hierbei ist die Altersverteilung, denn speziell den jüngeren Befragten scheint es zunehmend schwerer zu fallen Dinge zu genießen. Dies steht im direkten Zusammenhang damit, dass viele Menschen nur noch deutlich vermindert dazu in der Lage sind loszulassen (51%) und somit nur schwerlich eine Atmosphäre entstehen kann die Genussmomente zulässt (65%). Das Motto „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ liefert einen weiteren in der deutschen Mentalität verankerten Aspekt, laut der genannten Studie gaben 81% der Befragten an, dass sie Genuss nur dann vollständig auskosten können, wenn zuvor eine entsprechend belohnenswerte Leistung erbracht wurde. Diese Ergebnisse scheinen insoweit überraschend vor dem Hintergrund, dass sich der Trend aufgrund von Erholungsbedürftigkeit in Richtung einer genussvollen Lebensweise mit einer erfüllenden Bedürfnisbefriedigung entwickelt. Das wachsende Angebot an Genussmöglichkeiten in Verbindung mit dem Wellness-Boom und dem enormen Wunsch nach Entschleunigung sorgt zunehmend für eine Art Genuss-Druck, welcher dazu führt, dass dieser wiederum an Wert verliert.[6] Trotz dessen darf die vielseitige Wirksamkeit von wahrem Genuss nicht unterschätzt werden, besonders in Verbindung mit Selbstwert, Zufriedenheit und Gesundheit.

Das Genuss folglich auch einem therapeutischen Zweck dienen kann beweist zum Beispiel die sogenannte euthyme Therapie, die als methodisches Element die „Kleine Schule des Genießens“ beinhaltet.[7] Hierbei werden im Sinne der Selbstfürsorge basale Verhaltensweisen in Verbindung mit psychologisch relevanten Mechanismen eingeübt. Diese unterstützen die differenzierte Wahrnehmung positiver Sinneseindrücke durch die Fähigkeit störende Gedanken auszublenden und somit die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Zwecks Vereinfachung wurden entsprechend acht Genussregeln (ursprünglich sieben) formuliert, die auch in anderen Therapiekonzepten Anwendung finden:

Die Regeln sollen dem Anwender vermitteln, dass Genuss kein Tabu ist und selbstauferlegte Genuss-Verbote überwunden werden müssen, um im Alltag eine gesunde Balance bezüglich der genussvermittelten Entschleunigung, Selbstfürsorge und Achtsamkeit entsprechend der individuellen Vorlieben zu schaffen. Ein möglicher Anwendungsbereich umfasst beispielsweise Stressbewältigungstrainings, wie „Gelassen und sicher im Stress“ nach Kaluza. Hier werden über eine breite Palette an Maßnahmen individuelle Kompetenzen zur Stressbewältigung geschult und somit die körperliche und psychische Gesundheit gefördert. Dieses Training integriert sechs Basismodule (Entspannungs-, Mental- und Problemlösetraining etc.) inklusive des Genusstrainings und darüber hinaus fünf weitere Ergänzungsmodule wie Sport oder Zeitmanagement.

Nimmt man die vorliegenden Ergebnisse zusammen, entsteht der Anschein, dass die Menschen ein echtes Problem mit Genuss besitzen. Allerdings ist unklar ob die Fähigkeit zum Genuss gänzlich verloren gehen kann oder nur durch die dauernde Reizüberflutung in Verbindung mit einer sehr schnelllebigen Welt überdeckt wird. Einen Hoffnungsschimmer stellen natürlich die zuvor beschriebenen ausgeklügelten Genusstrainings dar, jedoch stellt sich die Frage, ob gerade jüngere Menschen nicht auch über einfachere Mittel und Wege wieder mehr Freude an Genuss empfinden können. Nur weil man eine längere Zeit kein Fahrrad mehr gefahren oder geschwommen ist, hat man diese Fähigkeiten nicht gänzlich verlernt. Sie schlummern unter der Oberfläche und können ohne großen Aufwand wieder aktiviert werden. In ähnlicher Art könnte es auch mit dem Genuss funktionieren, wenn man seinen Alltag bewusster wahrnimmt und dabei Zeit für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse im Sinne einer ausgewogenen Work-Life-Balance einräumt.

 

[1] Bencsik, A.: 2002 11f

[2] Landeberg, L. K./ Lang, J./ Schmitz, B.:  2018. 51f.

[3] Kaluza, G.: 2015

[4] Landeberg, L. K./ Lang, J./ Schmitz, B.:  2018. 59f.

[5] Menkens, S.: 2012

[6] Bläsing, S.: 2012

[7] Vgl. mit Lutz, R.: 2002.  und Koppenhöfer, E.: 2004.

 

Titelbild zu „Können wir heutzutage noch richtig genießen?“

Eigene Darstellung aus den Quellen:

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Literatur zu „Können wir heutzutage noch richtig genießen?“

Bencsik, A.: Fantasievoll genießen – Lebensfreude im Alltag. Herder Verlag. Freiburg im Breisgau. 2002

Bläsing, S.: Medizinische und psychologische Betrachtung von Genuss und Sucht. Fachbereich Sozialwesen Universität Kassel. 2012

Kaluza, G.: Stress und Stressbewältigung. Erfahrungsheilkunde EHK. 63 (5). Karl F. Haug Verlag. MVS Medizinverlag Stuttgart. 2014. 261-267

Kaluza, G.: Gelassen und sicher im Stress – Das Stresskompetenz-Buch. 5. Auflage. Springer. Berlin. 2014

Kaluza, G.: Stressbewältigung – Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. 3. Auflage. Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg. 2015.

Koppenhöfer, E.: Kleine Schule des Genießens. Pabst Science Publisher. Lengerich. 2004

Landeberg, L. K./ Lang, J./ Schmitz, B.: Lebenskunst, Sinn und Genuss trainieren. Interventionsstudie mit Online-Tagebuch zur Steigerung des subjektiven Wohlbefindens. In: Brohm-Badry, M./ Peifer, C./ Franz, V. (Hrsg.): Positiv-Psychologische Entwicklung von Individuum, Organisation und Gesellschaft. Nachwuchsforschung der DGPPF. Band I. Pabst Science Publisher. Lengerich. 2018. 50-60.

Lönneker & Imdahl – Rheingold Salon:

online abgerufen über die Rheingold Salon-Homepage: (06.03.2019)

http://www.rheingold-salon.de/wp-content/uploads/2018/03/Text_DiageoPernodRicardGenussstudie_Reader_2012-05-22-1.pdf

Lutz, R.: Kleine Schule des Genießens. PiD – Psychotherapie im Dialog. 3 (2). Georg Thieme Verlag Stuttgart. New York. 2002. 179-183

Menkens, S.: Wie wir verlernt haben, das Leben zu genießen. Welt am Sonntag Ausgabe vom 27.05.2012. Axel Springer SE. Berlin. 2012

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