By Published On: 6. Dezember 2019Categories: Gesundheit, Pädagogik, Wirtschaft

Perfektionismus beschreibt die Überzeugung von Individuen, dass es im Leben perfekte Zustände gibt, die es zu erreichen gilt.[1] Shafran, Egan und Wade (2018) definieren Perfektionismus als Gruppe von „beliefs that perfection can, and should be, attained“.[2] Die Überzeugung treibt Perfektionisten dazu an in bestimmten oder gar allen Lebensbereichen erfolgsorientiert und möglichst fehlerlos zu handeln.

 

Zusätzlich handeln sie häufig aktivitätsorientiert und werden als „Workaholics“ beschrieben, indem sie sich ständig in Bewegung halten.[3] Die perfektionistischen Verhaltensweisen können als eine Art Persönlichkeitseigenschaft verstanden werden, die hauptsächlich durch das Erziehungsverhalten der Eltern geprägt wird. Dieser Umstand erklärt auch, warum nicht alle Menschen gleichermaßen perfektionistisch veranlagt sind. Bei Perfektionisten werden kognitive Schemata aktiviert, die sich aus einer Vielzahl an Verarbeitungsmustern, Bewertungen und Überzeugungen zusammensetzen, die bereits bei kleinsten Auslösebedingungen aktiviert werden.

Perfektionismus muss nicht immer negative Auswirkungen haben, kann sogar motivierend wirken und Individuen eine positive Orientierung verleiten. Aus diesem Grund wird das Perfektionsstreben erstmal als neutrale Haltung verstanden, die nicht klinisch relevant ist. Erst, wenn sich das perfektionistische Handeln in extrem hohen und starren Maßstäben als eine Art Grundmuster über das Erleben und Verhalten einer Person legt und bei Nichterfüllung mit abwertenden Selbstvorwürfen einhergeht, kann vom sogenannten „klinischen Perfektionismus“ gesprochen werden. Die drei Bausteine sind folglich: Hohe und starre Ansprüche sowie ein erfolgsabhängiger Selbstwert. Der klinische Perfektionismus stellt an sich jedoch keine eigenständige Diagnose dar, fungiert aber ein Persönlichkeitsstil und Vulnerabilitätsfaktor, der psychische Störungen oder körperliche Erkrankungen begünstigen kann.[4]

 

Extrem hohe Maßstäbe

 

Die extrem hohen Maßstäbe von klinischen Perfektionisten, etwa die Überzeugung bei der Arbeit keine Fehler machen zu dürfen, sind für Außenstehende meist schwer nachzuvollziehen und werden als übertrieben und unerreichbar eingestuft.[5] Dennoch wird auch in der klinischen Psychologie über die positiven und negativen Seiten des Perfektionismus und der Frage diskutiert ab wann die Maßstäbe einer Person übertrieben sind und bis wann sie sich positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirken. So ist Bonelli (2014) der Überzeugung, dass ein Mensch mehr erreichen wird im Leben, wenn er sich seine Ziele möglichst hochlegt. In diesem Zusammenhang gilt es in einer Psychotherapie herauszufinden welches subjektive Optimum eine betroffene Person versucht zu erreichen und vor allem nach unrealistischen Überzeugungen zu suchen.[6] Trotz dessen beschäftigen sich nur wenige therapeutische Interventionen mit den extrem hohen Ansprüchen klinischer Perfektionisten, da eine Beurteilung schnell als wertend eingestuft werden kann.[7]

 

Starre Maßstäbe

 

Die starren Maßstäbe eines Perfektionisten äußern sich nach Shafran et al. (2018) in Sätzen wie „Ich hätte es früher bemerken müssen“ oder „Man muss sich an die Regeln halten, egal unter welchen Umständen.“ Das Wort „darf“ wird dabei durch „muss“ oder „sollte“ ersetzt.[8] Diese fast tyrannische Selbstbeziehung führt zu starken unangenehmen Emotionen, die für Betroffene sehr belastend sein können, vor allem, wenn die Wünsche oder Maßstäbe wenig durch eigenes Bemühen beeinflusst werden können. Ellis fordert daher perfektionistische Maßstäbe als flexibles Ziel zu sehen, jedoch nicht als starre Forderung ohne Alternativen „Go desire – but don’t insist“[9]

 

Erfolgsabhängiger Selbstwert

 

In der klinischen Psychologie sprechen Experten von einem sogenannten „bedingten Selbstwert“, wenn dieser allein von äußeren Bedingungen oder Umständen abhängt. Normalerweise stellt der bedingte Selbstwert eine von drei Komponenten des Selbstwertes dar. Bei klinischen Perfektionisten fungiert er jedoch als alleiniger Hauptbestandteil und birgt dadurch die Gefahr, dass das positive Selbstbild durch ein Nichterreichen der eigenen Maßstäbe maßgeblich leidet. Betroffene werten sich schonungslos ab und können auch Teilerfolge nicht gewinnbringend verbuchen. Dieser erfolgsbedingte Selbstwert wird häufig mit Depressionen in Verbindung gebracht.[10]

 

Mögliche Ursachen

 

Wie bereits eingangs erwähnt spielen frühindliche Erziehungserfahrungen bei der Entstehung und Aktivierung perfektionistischer Handlungen eine Rolle. Dazu gehören vor allem elterliche Vernachlässigung, die Imitation perfektionistischer Erziehungsmethoden der Eltern oder die Überversorgung, die ebenso zu einer ausgeprägten Sorge um Fehler oder negativen Konsequenzen führen kann.[11] In der empirischen Literatur lässt sich jedoch bestätigen, dass das alleinige Perfektionsstreben der Eltern nicht ausreicht, um einen klinisch relevanten Perfektionismus entstehen zu lassen. Erst, wenn die perfektionistische Erziehung mit einem Mangel an Anerkennung oder übermäßiger Kritik einhergeht, bekommt das Kind vermittelt, dass nur perfekte Handlungen belohnenswert sind und schließen somit die Selbstwertkomponente des klinischen Perfektionismus in ihr Selbstbild mit ein.[12] Flett ergänzt, dass auch ängstliche, stark einmischende oder emotionslose Bezugspersonen die Ausbildung von Perfektionismus bei Kindern begünstigen können.[13] Die Ergebnisse werden von McArdle (2009) untermauert. Die Wissenschaftlerin konnte zeigen, dass selbst bei perfektionistischen Elternteilen die gleichzeitige Anerkennung und Akzeptanz als protektiver Faktor für Kinder wirkt. Neben der elterlichen Faktoren spielen auch kindliche Faktoren und Umweltbedingungen eine Rolle. Zu den kindlichen Faktoren gehört die genetische Disposition, die etwa das Temperament des Kindes beeinflusst. Zusätzlich reagieren Kinder unterschiedlich auf perfektionistische Erziehung ihrer Eltern. Während die einen die von außen gesetzten Erwartungen internalisieren, rebellieren andere Kinder und setzen sich eigene, realistischere Ziele. Zu den Umweltbedingungen zählen andere Bezugspersonen, etwa die Großeltern oder Erzieher, die einen großen Einfluss auf das Kind ausüben können.[14] Aber auch kulturelle Prägungen fördern Perfektionismus. So ist dieser in individualistischen Kulturen häufiger zu finden, da der Druck größer ist Erfolge im Leben zu erreichen.[15]

 

Direkte Folgen von Perfektionismus

 

Klinischer Perfektionismus kann sich sowohl körperlich, als auch psychisch auswirken. Zu den bedeutsamsten Symptomen gehören die Ausprägung unangenehmer Gefühle, Grübeleien und blockierten Handlungen, die sich in der Störungsgenese von Zwangsstörungen, sozialen Phobien, Depressionen und Essstörungen wiederfinden lassen. Perfektionismus gehört sogar zu einer von sechs Domänen für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Zwangsstörung, die sich in drei große Gruppen unterteilen lassen: Der übermäßigen Verantwortlichkeit und Überschätzung von Gefahren, der geringen Toleranz gegenüber Ungewissheiten und Perfektionsstreben sowie der Überbewertung der eigenen Gedanken.[16] Betroffene verspüren insbesondere bei Reinigungs- und Kontrollzwängen den Drang die auferlegten Handlungen und Rituale perfekt auszuführen und befürchten negative Konsequenzen, wenn sie diesen Maßstäben nicht gerecht werden können. Dadurch wird deutlich, dass der Perfektionismus bei Zwängen nicht ausschließlich selbstwertbedingt ist, sondern ebenso eine katastrophisierende Komponente besitzt.[17]

Studien konnten zeigen, dass 77% der Sozialphobiker und 49% der Panikerkrankten auch unter Perfektionismus leiden.[18] Betroffene zweifeln an ihren eigenen Handlungen und sorgen sich um Fehler. Zudem haben sie den eigenen festen Anspruch keine Spur von Angst zu haben. In Bezug auf Essstörungen und Depressionen, konnte nachgewiesen werden, dass Perfektionismus den therapeutischen Erfolg behindern kann.[19]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der klinische Perfektionismus durchaus Teil einer psychischen Störung sein kann, sich jedoch je nach Erkrankung in ganz unterschiedlicher Ausprägung zeigt. Auch haben Studien gezeigt, dass nicht zwingend alle Erkrankte unter Perfektionismus leiden und somit jeder Patient individuell begutachtet werden muss.

 

Therapie des klinischen Perfektionismus

 

Die Therapie des klinische Perfektionismus kann am erfolgsversprechensten an den hohen Maßstäben und an dem erfolgsabhängigen Selbstwert ansetzen. Dafür sollten sich Betroffene zunächst über ihre eigenen perfektionistischen „Should Statements“ bewusst werden und anschließend kritisch hinterfragen. Dabei können sich Patienten fragen was die Vor- und Nachteile ihrer selbstauferlegten Maßstäbe sind. In einer Umfrage von Slaney und Ashby (1996) unter klinischen Perfektionisten waren 23% davon überzeugt nur positive Vorteile aus ihrem Perfektionsstreben zu ziehen. 32% konnten gemischte Konsequenzen erkennen und 12% gingen von überwiegend negativen Konsequenzen aus. Die Ergebnisse belegen wie schwer es für Betroffene ist die Folgen ihrer tyrannischen Maßstäbe zu erkennen. Sofern auch nach kritischer Überprüfung noch die positiven Vorteile für den Betroffenen überwiegen, können die Konsequenzen noch einmal in kurz- und langfristige Folgen unterteilt werden. Während der klinische Perfektionismus zwar mittelfristig die Leistung steigern kann, folgen auf Dauer Erschöpfung, beständiges Unbehagen und psychische Probleme.[20]

 

Abbildung: Vor- und Nachteile des klinischen Perfektionismus[21]

 

Eine weitere Methode, die die Bedeutung der eigenen Ansprüche herausarbeiten kann, ist die sogenannte „Übertreibungsübung“. Hier nehmen sich Betroffene vor an einem Wochentag alle Handlungen in allen Lebensbereichen auf perfekte Art und Weise und fehlerlos zu absolvieren. Am Abend folgt die kritische Reflexion, indem sich die Patienten hinterfragen wie es wäre genauso ein ganzes Jahr lang zu leben. Im Gegensatz zur Übertreibungsübungen kann auch die Gegenprobe erfolgreich sein, indem die Patienten an einem Wochentag entscheiden ihre Ansprüche in einzelnen Bereich aufzuweichen und anschließend ebenfalls ihr Befinden reflektieren. Perfektionisten profitieren zudem von der Methode des Perspektivwechsels. Besonders eindringlich kann es beispielsweise sein sich in die eigenen Kinder hineinzuversetzen. Würde der Patient wollen, dass sich diese genau die gleichen hohen Maßstäben auferlegen? Zu guter Letzt sollten sich Betroffene ihre eigenen Fehler bewusst machen und die Folgen realistisch bewerten. Sofern dies schwer fällt, können auch Freunde oder der Bekanntenkreis aushelfen. Sofern die Perfektionisten ihre rigiden Maßstäbe bereits aufgeweicht haben, profitieren sie von der aktiven Einübung von flexiblen Perfektionsstreben, indem die Aufgaben des Tages in wichtige und unwichtige Leistungen eingeteilt werden. Ein flexibler Perfektionist schafft es sich allein bei den wichtigen Dingen eine perfektionistische Ausübung anzueignen und bei unwichtigeren Dingen, etwa dem Rasenmähen oder dem Hausputz, eine nicht perfekte Ausübung zuzugestehen.[22]

 

Fußnoten

 

[1] Spitzer (2016, S. 26)

[2] Shafran, Egan und Wade (2018, S. 11)

[3] Sturman, Flett, Hewitt und Rudolph (2009, S. 215)

[4] Spitzer (2016, S. 27)

[5] Spitzer (2016, S. 28)

[6] Bonelli (2014, S. 104)

[7] Spitzer (2016, S. 28)

[8] Shafran et al. (2018, S. 150)

[9] Ellis (2001, S. 103)

[10] Spitzer (2016, S. 30)

[11] Flett, Molnar, Nepon und Hewitt (2012, S. 566)

[12] Spitzer (2016, S. 34)

[13] Flett et al. (2012, S. 569)

[14] McArdle (2009, S. 598)

[15] Spitzer (2016, S. 35-36)

[16] Wheaton, Abramowitz, Berman, Riemann und Hale (2010, S. 950)

[17] Spitzer (2016, S. 49; 55)

[18] Lundh, Saboonchi und Wångby (2008, S. 347)

[19] Chik, Whittal und O’Neill (2008); Egan, Wade, Shafran und Antony (2016)

[20] Slaney und Ashby (1996)

[21] Spitzer (2017, S. 72)

[22] Spitzer (2017, S. 67-79)

 

Literatur

 

Bonelli, R. M. (2014). Perfektionismus: Wenn das Soll zum Muss wird: Pattloch eBook.

Chik, H. M., Whittal, M. L. & O’Neill, M. L. (2008). Perfectionism and treatment outcome in obsessive-compulsive disorder. Cognitive Therapy and Research, 32(5), 676-688.

Egan, S. J., Wade, T. D., Shafran, R. & Antony, M. M. (2016). Cognitive-behavioral treatment of perfectionism: Guilford Publications.

Ellis, A. (2001). Overcoming Destructive Beliefs, Feelings, and Behaviors: New Directions for Rational Emotive Behavior Therapy: Prometheus Books.

Flett, G. L., Molnar, D. S., Nepon, T. & Hewitt, P. L. (2012). A mediational model of perfectionistic automatic thoughts and psychosomatic symptoms: The roles of negative affect and daily hassles. Personality and Individual Differences, 52(5), 565-570.

Lundh, L.-G., Saboonchi, F. & Wångby, M. (2008). The role of personal standards in clinically significant perfectionism. A person-oriented approach to the study of patterns of perfectionism. Cognitive Therapy and Research, 32(3), 333-350.

McArdle, S. (2009). Exploring the development of perfectionistic cognitions and self-beliefs. Cognitive therapy and research, 33(6), 597.

Shafran, R., Egan, S. & Wade, T. (2018). Overcoming Perfectionism: A self-help guide using scientifically supported cognitive behavioural techniques: Little, Brown Book Group.

Slaney, R. B. & Ashby, J. S. (1996). Perfectionists: Study of a criterion group. Journal of Counseling & Development, 74(4), 393-398.

Spitzer, N. (2016). Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen: Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung. Berlin Heidelberg: Springer.

Spitzer, N. (2017). Perfektionismus überwinden: Müßiggang statt Selbstoptimierung: Springer Berlin Heidelberg.

Sturman, E. D., Flett, G. L., Hewitt, P. L. & Rudolph, S. G. (2009). Dimensions of perfectionism and self-worth contingencies in depression. Journal of Rational-Emotive & Cognitive-Behavior Therapy, 27(4), 213.

Wheaton, M. G., Abramowitz, J. S., Berman, N. C., Riemann, B. C. & Hale, L. R. (2010). The relationship between obsessive beliefs and symptom dimensions in obsessive-compulsive disorder. Behaviour Research and Therapy, 48(10), 949-954.

 

Bildquelle Titelbild:

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/niemand-ist-perfekt-motivation-4393573/)

 

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