Wie entwickelt sich die Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern? Inwieweit sind Kinder von Geburt an an ihre Eltern gebunden? Oder muss sich die Bindung zwischen Eltern und Kind, wie die Bindung zwischen Erwachsenen, erst aufbauen und wachsen? Dieser Beitrag setzt sich schwerpunktmäßig zunächst mit der ethnologischen Bindungstheorie von John Bowlby auseinander und geht anschließend auf die unterschiedlichen Bindungsmuster ein.
Die Entwicklung von Bindungen
Bindung wird in der Entwicklungspsychologie als „zeitliches und räumlich überdauerndes emotionales Band eines Kindes zu seiner Bezugsperson“[1] definiert.
Die psychoanalytischen und behavioristischen Bindungstheorien sahen einen engen Zusammenhang zwischen dem Füttern des Säuglings und der Entwicklung von Bindung. Dabei nahm die Psychoanalyse an, dass Bindungsaufbau zwischen dem Säugling und der Bezugsperson im Kontext der Fütterungssituation entsteht. Die Behavioristen gehen dahingegen davon aus, dass der Säugling den Spannungsabbau, welchen er in der Fütterungssituation erlebt, mit dem Geruch der Bezugsperson, deren liebevollen Berührungen etc. assoziiert und daher für diese eine Vorliebe entwickelt.[2]
Die ethnologische Bindungstheorie von John Bowlby versteht Bindung im Evolutionskontext, welcher das Überleben der eigenen Spezis sicherstellen soll und ein Primärbedürfnis des Menschen darstellt.[3] Um sein Bedürfnis nach Bindung zum Ausdruck zu bringen, setzt der Säugling unterschiedliche Signalverhaltensweisen (Weinen, Lächeln, Blickkontakt und frühkindliche Imitation) ein.[4]
Bowlby differenziert zwischen dem Bindungssystem aufseiten des Säuglings und dem Fürsorgesystem aufseiten der Bezugsperson.[5]
Die Aufgabe des Bindungssystem ist es, in Situationen, in welchen der Säugling Unsicherheit verspürt, wieder Sicherheit und Schutz durch die räumliche Nähe zur Bezugsperson herzustellen. Das Fürsorgesystem hat die Aufgabe, die Bedürfnisse des Säuglings nach Nähe und Sicherheit durch geeignete Fürsorgehandlungen zu befriedigen. Dafür greift die Bezugsperson auf ihre frühere Fürsorgeerfahrung zurück und wählt die passende Fürsorgehandlung aus.[6]
Bowlby unterscheidet in seiner Bindungstheorie folgende vier normative Phasen des selektiven Bindungsaufbaus:[7]
Erste Phase: Die „Vorphase der Bindung“ umfasst den Zeitraum nach der Geburt bis zur sechsten[8] oder zwölften Woche[9]. In dieser Zeit erkennt der Säugling die Mutter zwar am Geruch und an der Stimme, ist jedoch noch nicht an sie gebunden, sondern lässt sich auch von anderen Menschen beruhigen. In diesem Zeitraum besteht somit noch keine personenspezifische Bindung.[10]
Zweite Phase: Die „beginnenden Bindungsphase“ schließt sich an die Vorphase an und dauert bis zum sechsten bis achten Lebensmonat. Das Kind beginnt zunehmend eigene Reaktionen auf vertraute Personen zu entwickeln und beginnt spezifische Erwartungen an das Verhalten der Bezugspersonen auszubilden.[11]
Dritte Phase: Die Phase der „eindeutigen Bindung“ dauert bis das Kind eineinhalb bis zwei Jahre alt ist. In diesem Zeitraum entsteht die spezifische Bindung zur Bezugsperson. Das Kind zeigt nun Trennungsangst, wenn es von seiner Bezugsperson getrennt wird und Fremdenangst gegenüber sonstigen Personen. Anders als in den Phasen zuvor, lässt sich das Kind nicht mehr einfach von anderen Erwachsenen beruhigen.[12]
Vierte Phase: Die „reziproke Beziehung“ stellt die letzte Bindungsphase in Bowlbys Modell dar und beginnt ab dem 18. bis 24. Monat. Zu dem Zeitpunkt verfügt das Kind bereits über die kognitiven Fähigkeiten, die Faktoren zu verstehen, welche Einfluss auf die Anwesenheit und Abwesenheit der Eltern haben und zunehmend ein Verständnis für die dahinterstehenden Zusammenhänge zu entwickeln.[13]
Eine stabile Bindung zwischen Eltern und Kind ist nach Bowlbys Modell also nicht von Geburt an gegeben, sondern wird über Jahre hinweg aufgebaut.
Die Qualität von Bindung
Um die Qualität der Eltern-Kind-Bindung zu messen, wurde von Mary Ainsworth der „Fremde-Situations-Test“ entwickelt, welcher in der Regel mit Kindern im Alter zwischen 12 und 18 Monaten durchgeführt wird.[14] Dieser Test besteht aus mehreren Episoden, wobei der Schwerpunkt auf den Trennungs- und Wiedervereinigungsepisoden liegt. Das von den Kindern gezeigte Bindungsverhalten wurde anschließend einer von vier Bindungskategorien zugeordnet.[15]
Typ A – sichere Bindung: Es zeigt Kummer bei der Trennung von der Bezugsperson und sucht bei der Wiederkehr deren Nähe und Kontakt. Die Bezugsperson stellt für die Kinder eine sichere Ausgangsbasis dar, um die Welt zu erkunden und bei Verunsicherungen Schutz zu suchen.[16]
Typ B – unsicher-vermeidende Bindung: Das Kind zeigt weder Kummer bei der Trennung von seiner Bezugsperson noch große Freude über deren Wiederkehr. Es fehlt die von der Bezugsperson ausgehende Sicherheit.[17]
Typ C – unsicher-ambivalente Bindung: Das Kind sucht zwar die Nähe zur Bezugsperson vor der Trennung, es reagiert auf die Rückkehr jedoch wütend oder ärgerlich. Dieses widersprüchliche Verhaltensmuster spricht dafür, dass das Kind wechselnde Erfahrungen mit der Zuwendung und Zuverlässigkeit der Bezugsperson gemacht hat.[18]
Typ D – desorganisierte-desorientierte Bindung: Das Kind zeigt ein widersprüchliches und wechselhaftes Verhalten, welches zu keinem der drei anderen Bindungsmustern passt. Ursächlich für dieses Bindungsverhalten können sowohl negative Interaktionserfahrungen als auch eine individuelle genetische Disposition sein.[19]
Neben den soeben dargestellten Bindungskategorien hat die Wissenschaft vier Kriterien herausgearbeitet, die Auswirkung auf die Bindungssicherheit des Kindes haben. Dazu gehört die Gelegenheit eine enge Beziehung einzugehen, die Qualität der Fürsorge, das Temperament des Säuglings sowie der familiäre Kontext.[20]
Für Eltern ist das eigene Kind selbstverständlich das meist geliebte Wesen unter der Sonne. Über diese unerschütterliche Zuneigung hinaus haben Forscher Wege gefunden, die Beziehung zwischen Kindern und Eltern in ihren unterschiedlichen Qualitäten und ihrer Entwicklung zu beschreiben. Das Wissen über die dazu dokumentierten Zusammenhänge kann uns eine bessere Einschätzung dieser komplexen Thematik ermöglichen. Fehlentwicklungen können so einfacher erkannt werden und mit gezielten Maßnahmen korrigiert werden, um ein gesundes Heranwachsen zu sichern.
[1] Pinquart, Schwarzer, & Zimmermann, 2019, S. 199.
[2] Berk, 2011, S. 259.
[3] Suess, 2001, S. 40.
[4] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 122.
[5] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 120.
[6] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 121.
[7] Bowlby, 1969, S. 265.
[8] Berk, 2011, S. 260.
[9] Pinquart, Schwarzer, & Zimmermann, 2019, S. 199.
[10] Berk, 2011, S. 260.
[11] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 124.
[12] Berk, 2011, S. 261.
[13] Berk, 2011, S. 262.
[14] Ainsworth, 1979, S. 933.
[15] Ainsworth, 1979, S. 934.
[16] Berk, 2011, S. 263.
[17] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 126.
[18] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 127.
[19] von Gontard, 2019, S. 115.
[20] Berk, 2011, S. 265.
Literaturverzeichnis
Ainsworth, M. S. (1979). Infant–mother attachment. American Psychologist, S. 932–937.
Berk, L. E. (2011). Entwicklungspsychologie. München: Pearson Studium.
Bowlby, J. (1969). Attachment and loss . New York: Basic Books.
Lohaus, A., & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor . Berlin, Heidelberg: Springer.
Pinquart, M., Schwarzer, G., & Zimmermann, P. (2019). Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe.
Suess, G. (2001). Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung – Die Chancen des Anfangs. (A. Schlippe, G. Lösche, & C. Hawellek, Hrsg.) Münster: Votum-Verlag.
von Gontard, A. (2019). Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern : ein praxisorientiertes Lehrbuch. Stuttgart : W. Kohlhammer.
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