Seit einer Stunde rührt Lisa in dem Becher mit Magerjoghurt. Hin und wieder führt sie eine kleine Löffelspitze davon in den Mund. Eine größere Mahlzeit erlaubt sie sich nicht. Nach dem Essen betrachtet sich Lisa kritisch im Spiegel. Obwohl die junge Frau nur 38 kg wiegt, fühlt sie sich dick und unförmig. Vielleicht war ein ganzer Becher Joghurt doch zu viel? Sollte sie ihr Sportpensum noch weiter erhöhen? Ständig kreisen Lisas Gedanken um Fragen wie diese.
Zahlen
Wie 1,1 Prozent der Frauen in Deutschland leidet Lisa an Anorexia nervosa, besser bekannt als Magersucht (Focus, 2012). Diese Störung wurde in den letzten Jahren mit zunehmender Häufigkeit diagnostiziert: Allein im Jahr 2017 kamen 7.800 neue Fälle hinzu (Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, 2019a). Betroffen sind besonders Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren (Petermann, Maercker, Lutz & Stangier, 2011, S. 96). Wie gefährlich Lisas Erkrankung ist, zeigt sich daran, dass im Jahr 2017 insgesamt 46 Personen an den Folgen von Anorexie gestorben sind (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2019b). Wodurch eine Anorexie gekennzeichnet ist, in welchen Symptomen sie sich äußert, welche Ursachen ihr zugrunde liegen und welche Therapiemethoden existieren, ist Thema dieses Beitrags. Abschließend erhalten Angehörige und Betroffene weiterführende Informationen.
Symptome
Das Störungsbild der Anorexia nervosa zeichnet sich dadurch aus, dass Betroffene wie Lisa die Nahrungs- und Kalorienzufuhr einschränken, selbst Erbrechen auslösen, Abführmittel missbrauchen oder übermäßig Sport treiben, um trotz bestehendem Untergewicht ihr Körpergewicht weiter zu verringern (Caspar, Pjanic & Westermann, 2018, S. 91; Jacobi & de Zwaan, 2011, S. 1055). Medizinisch wird von einer Anorexie gesprochen, wenn der Body Mass Index bei 17,5 oder darunter liegt. Dass sich Lisa trotz ihres starken Untergewichts vor jeder Gewichtszunahme fürchtet und sich aufgrund einer gestörten Selbstwahrnehmung beim Anblick ihres ausgemergelten Körpers noch immer als zu dick empfindet, sind weitere typische Symptome einer Magersucht (Jacobi & de Zwaan, 2011, S. 1055).
Die gestörte Körperwahrnehmung anorektischer Patientinnen kann durch eine experimentell nachgewiesene Veränderung der Verarbeitung visuell-propriozeptiver Signale erklärt werden (Zopf, Contini, Fowler, Mondraty & Williams, 2016, S. 473). Zusätzlich ist das Selbstwertgefühl Betroffener stark an ihr Körpergewicht geknüpft (Jacobi & de Zwaan, 2011, S. 1055)
Auch auf der körperlichen Ebene spürt Lisa die Folgen der Anorexie: Seit einem Jahr ist ihre Menstruation aufgrund einer verminderten Ausschüttung des weiblichen Hormons Östrogen komplett ausgeblieben (Jacobi & de Zwaan, 2011, S. 1055). Als weitere Folgen der Magersucht können u. a. Herz- und Nierenschäden entstehen (Schuck & Schneider, 2019, S. 9).
Ursachen
Die Ursachen einer Anorexie sind vielfältig: Das sogenannte biopsychosoziale Modell geht von einem Zusammenspiel aus genetischen, psychischen, sozialen und kulturellen Entstehungsfaktoren aus (Caspar et al., 2018, S. 96). So orientieren sich zahlreiche junge Frauen an dem in unserem Kulturkreis dominierenden Schlankheitsideal (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 330). Kritik an körperlichen Rundungen oder dem Essverhalten sowie schlankheitsorientierte Familienmitglieder oder sexuelle Übergriffe stellen weitere Risikofaktoren dar (Caspar et al., 2018, S. 96). Auch belastende Familienverhältnisse und Lebenskrisen können das Auftreten einer Anorexie begünstigen ebenso wie eine perfektionistische und leistungsorientierte Persönlichkeit oder ein vermindertes Selbstwertgefühl (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 330). Im Fall von Lisa entwickelte sich ihre Essstörung in der Pubertät, als sie für ihre entstehenden körperlichen Rundungen von ihren Mitschülerinnen gehänselt und von ihrer Mutter kritisiert wurde.
Therapie
Dank dem Einsatz einer Freundin hat Lisa zugestimmt, sich einer Therapie zu unterziehen. Behandelt wird eine Anorexie in erster Linie mit Hilfe von Psychotherapie, welche ambulant oder in einer Klinik erfolgen kann. Dabei hat sich eine individuell angepasste kognitive Verhaltenstherapie bewährt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich gut belegt ist. Bei stark untergewichtigen Betroffenen besteht das primäre Ziel aufgrund der bestehenden Lebensgefahr in einer Stabilisierung des Gewichts (Caspar et al., 2018, S. 97). Ergänzend können eine ärztliche Behandlung, Ernährungsberatung, Familientherapie oder der Einsatz von Antidepressiva angezeigt sein (Caspar et al., 2018, S. 97; Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 330-331). Die therapeutische Beziehungsgestaltung ist bei der Behandlung der Anorexia nervosa von zentraler Bedeutung, da sich die Betroffenen in einem inneren Konflikt zwischen der in der Therapie angestrebten Gewichtszunahme und der Angst vor derselben befinden (Caspar et al., 2018, S. 98).
Hife
Haben Sie die Vermutung, dass eine Ihnen nahestehende Person an Magersucht leidet, empfiehlt es sich, die Person offen darüber anzusprechen. Hilfreich sind dabei Verständnis und das Formulieren von Ich-Botschaften. Auf Vorwürfe und Beschuldigungen sollte hingegen verzichtet werden. Bestätigt sich Ihre Vermutung, seien Sie für die betroffene Person da und sichern Sie ihr Ihre Unterstützung zu. Bieten Sie ein offenes Ohr für Gespräche an, motivieren Sie vorsichtig zur Wahrnehmung von Beratungsangeboten und zur Aufnahme einer Therapie (BZgA, o. D.c).
Als erste Informationsstelle für Betroffene und Angehörige kann z. B. die Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, o. D.a) dienen. Diese Seite verweist auch auf persönliche Beratungsangebote vor Ort und bietet sowohl telefonische als auch Online-Beratung an (BZgA, o. D.b).
Fazit
Wie die Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt, besteht ein gutes Informations- und Beratungsangebot für Betroffene und Angehörige. Weiterer Handlungsbedarf kann in der Etablierung eines durch körperliche Vielfalt geprägten Schönheitsbilds und der Förderung eines positiven Selbstbilds gesehen werden, da das in den Medien vorherrschende Schlankheitsideal einen Risikofaktor für die Entstehung von Anorexie darstellt (Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 330).
Literatur
BZgA (o.D.). Essstörungen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Abgerufen am 20.05.2020. Verfügbar unter https://www.bzga-essstoerungen.de/
BZgA (o.D.). Essstörungen: HILFE FINDEN. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Abgerufen am 20.05.2020. Verfügbar unter https://www.bzga-essstoerungen.de/hilfe-finden/welche-beratung-gibt-es/online-beratung/
BZgA (o.D.). Essstörungen: WAS KÖNNEN ANGEHÖRIGE & ANDERE TUN? Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Abgerufen am 20.05.2020. Verfügbar unter: https://www.bzga-essstoerungen.de/was-koennen-angehoerige-andere-tun/
Caspar, F., Pjanic, I. & Westermann, S. (2018). Klinische Psychologie. Wiesbaden: Springer.
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Jacobi, C. & de Zwaan, M. (2011). Essstörungen. In H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (2. Aufl, S. 1053-1082). Berlin, Heidelberg: Springer.
Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor (4. Aufl.). Berlin: Springer.
Petermann, F., Maercker, A., Lutz, W. & Stangier, U. (2011). Klinische Psychologie – Grundlagen. Göttingen: Hogrefe.
Schuck, K. & Schneider, S. (2019). Entwicklung und Prävention von Essstörungen und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. Psychologie und Psychotherapie, 67 (1), S. 9-17).
Zopf, R., Contini, E., Fowler, C., Mondraty, N. & Williams, M. A. (2016). Body distortions in Anorexia Nervosa: Evidence for changed processing of multisensory bodily signals. Psychiatry Research, 245, S. 473-481.
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