Das Thema der ADHS gewinnt in der heutigen Zeit zunehmend an Bedeutung in den Medien, der Presse und Öffentlichkeit und nicht selten fällt dabei der Begriff der „Modediagnose“. Aktuell geht die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung von einer weltweit epidemiologischen Prävalenz von ca. 5% im Kindes- und Jugendalter aus. Damit gehört sie zu den häufigsten psychischen Störungen. Hingegen geht man für das Erwachsenenalter von einer Prävalenz von ca. 2,5% aus (Brotzmann, 2023).
Die Fragestellung, ob ADHS eine Modediagnose ist, ist oftmals Gegenstand kontroverser Diskussionen. Manche Menschen behaupten, dass die zunehmende Häufigkeit von ADHS-Diagnosen auf einen Überdiagnose-Trend zurückzuführen ist, andere hingegen sehen ADHS als echte neurologische Störung an, die unterdiagnostiziert wird. Wie realistisch ist eine ernsthafte Diagnose von ADHS im Erwachsenalter?
Was ist ADHS?
Die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) ist eine in der Kindheit beginnende ätiologisch heterogene Störung. Sie ist durch das Symptom-Trias Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet. Wobei sich die Symptome im Erwachsenalter mit der Ausreifung des Gehirns verändern, es kommt zu einem Symptomwandel. So kann die Hyperaktivität sich zu innerer Unruhe formen und die Impulsivität sich in Vermeidungsverhalten modifizieren. Weitere kennzeichnende Symptome können gestörtes Zeitmanagement, desorganisierter Lebensstil, Störungen der Affekt- und Emotionsregulation sein (Roll, 2014, S. 67). Bisher sind die genauen neurobiologischen Ursachen noch unbekannt. Allerdings konnte bereits in vielen Forschungsbereichen der funktionellen und strukturellen Bildgebung, Neuropsychologie und Biochemie hypothetische Modelle zur Pathophysiologie entwickelt werden (Banaschewski et al., 2004). Trotz einer relevanten Bedeutung existieren bisher keine generellen Leitlinien zur Diagnose, Symptomerfassung und Therapie. Meist wird Leitlinien-orientiert vorgegangen.
Diagnostik von ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter
Primär sollten die aktuellen Symptome gemäß eines Diagnosesystems wie der ICD-10 oder DMS-5 erfasst werden. Zur Diagnosestellung wird in allen Leitlinien und Diagnosesystemen ein ADHS in der Kindheit vorausgesetzt. Aufgrund dessen sollte bei einem fehlenden Nachweis eine ausführliche Anamnese betreffend des körperlichen und intellektuellen Entwicklungsverlaufes, früherer Symptome und der damit verbundenen Beeinträchtigungen erfolgen. Geburtskomplikationen (z.B. Sauerstoffmangel) oder Entwicklungsverzögerungen (z.B. verzögerter Erwerb von Fähigkeiten wie Laufen und Sprechen) können bereits Hinweise für ein kindliches ADHS sein. Zusätzlich wird eine Fremdanamnese (z.B. durch die Eltern, alte Schulzeugnisse) empfohlen da das Erinnerungsvermögen an die Kindheit oftmals eingeschränkt ist. Es existieren zur Diagnostik von ADHS in der Kindheit evaluierte Fragebögen, einer davon ist der WURS-k. Dieser stellt ein validiertes deutschsprachiges Selbstbeurteilungsinstrument dar. Für eine strukturierte Fremdanamnese kindlicher ADHS-Symptome wird der Elternbeurteilungsbogen nach Wender verwendet (Groß et al., 2015, S. 1174).
Therapieansätze im Erwachsenenalter
Nach den NICE-Leitlinien gilt eine medikamentöse Therapie als primärer Ansatz. Jedoch wird eine Kombinationsbehandlung aus pharmako- und psychotherapeutischen Maßnahmen empfohlen. Wenn die Symptomatik in mindestens einem Lebensbereich deutlich oder in mindestens zwei Lebensbereichen leicht ausgeprägt ist, wird eine medikamentöse Behandlung eingeleitet. Es sollten vor Beginn Faktoren wie Verträglichkeit, Nebenwirkungen, Präferenzen, Komorbiditäten und eine mögliche Gefahr des Missbrauchs geklärt werden (Groß et al., 2015, S. 1175). Als psychotherapeutische Maßnahmen haben sich in Abhängigkeit von anderen Komorbiditäten kognitive-behaviorale, dialektisch-behaviorale und achtsamkeitsbasierte Konzepte als effektiv erwiesen (Groß et al., 2015, S. 1176).
Fazit
ADHS ist eine Störung, die bereits im Kindes- und Jugendalter ihren Ursprung hat. Die Symptome können bei ca. 60% der Betroffenen über das 18. Lebensjahr hinaus bestehen. Mit einer sorgfältigen Diagnostik basierend auf klinischen Interviewverfahren, bei denen man Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen erfasst und Erhebungen von Screening-Bögen kann man ADHS valide diagnostizieren. Auch im Erwachsenenalter ist ADHS eine psychische Erkrankung und nicht nur eine Modediagnose. Um diese zu bestätigen, bestehen zahlreiche genetischer, epigenetische, anatomische und funktionell bildgebende Befunde auf neuronaler Ebene (Roll, 2014, S. 69).
ADHS kommt in der Tat häufig vor, führt zu krankheitswertigen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen und stellt einen Risikofaktor für andere psychische Störungen wie Angststörungen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen dar (Ebert et al., 2003, S. 939). Allerdings wird der Begriff ADHS in unserer heutigen Gesellschaft auch ohne gesicherte Diagnose leichtfertig verwendet. Dabei ist eine adäquate Diagnose eine relevante Voraussetzung für die Therapie. Ebenso besteht die Vermutung, dass ADHS zu häufig diagnostiziert wird. Dies konnte durch eine Studie verschiedener Ärzt*innen nachgewiesen werden. Es wurden 473 deutschen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten vier verschiedenen Fallgeschichten mit Patient*innen im Kindesalter vorgestellt. Sie sollten für diese Patient*innen eine Diagnose und Therapie erstellen. Unter diesen vier Fällen bestand nur ein Fall der mit Hilfe von geltenden Leitlinien und Kriterien eindeutig als ADHS diagnostizierbar war. Dabei wurde eine ADHS-Diagnose von 16,7% der Therapeuten bei Fallgeschichten gestellt, bei denen es sich nicht um ADHS-Fallgeschichten handelte. Dies wurde von den Autoren als Überdiagnose gewertet. Durch die Studien konnte gezeigt werden, dass ADHS auch dann diagnostiziert wird, wenn nicht die Diagnosekriterien erfüllt sind. Die Ursache wird darin vermutet, dass einem heuristischen Vorgehen gefolgt wird, die für Denk- und Wahrnehmungsfehler anfälliger sind, anstatt die systematisch geforderten ICD-Kriterien abzuklären. Ebenso besteht die Hypothese, dass die Diagnose ADHS schneller gestellt wird, um Patienten und Angehörige zu entlasten (MS, 2012, S.277). Therapeut*innen sollte sich bewusst sein, dass die Anwendungen von Heuristiken problematisch sein können und sich an diagnostischen Kriterien mit standardisierten Befragungsinstrumenten orientiert werden sollten.
Bildnachweis
Titelbild: https://www.pexels.com/de-de/foto/text-das-bewusstsein-psychiatrie-psychische-gesundheit-8378728/
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Die Wender-Utah-Rating-Scale zeigen explizit die adulten ADHS-Kriterien (Tabelle übernommen, Quelle: Groß et al., 2015, S. 1173)
Tabelle 2: Verfügbare Fragebogenverfahren zur ADHS-Diagnosestellung (Tabelle übernommen, Quelle: Groß et al., 2015, S. 1173)
Literaturverzeichnis
Banaschewski, T., Roessner, V., Uebel, H., & Rothenberger, A. (2004). Neurobiologie der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Kindheit und Entwicklung, 13(3), 137–147. https://doi.org/10.1026/0942-5403.13.3.137
Brotzmann, M. (2023). Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom. In P. Weber (Hrsg.), Transition bei neurologischen Erkrankungen: Medizinische Herausforderungen im Lebenszyklus neuropädiatrischer Patienten (S. 203–216). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65724-9_21
Deutsches Ärzteblatt: Archiv „ADHS: Zu häufig diagnostiziert“ (Ausgabe Juni (2012).
Groß, S., Figge, C., Matthies, S., & Philipsen, A. (2015). ADHS im Erwachsenenalter: Diagnostik und Therapie. Nervenarzt, 86(9), 1171–1180. https://doi.org/10.1007/s00115-015-4328-3
Roll, S. C. (2014). ADHS im Erwachsenenalter — Mode oder reale Diagnose? DNP – Der Neurologe und Psychiater, 15(2), 66–70. https://doi.org/10.1007/s15202-014-0612-5