Flüstern, schmatzen, knistern – wer sich in die Tiefen der „ASMR“-Welt vorwagt, findet ein Sammelsurium an kuriosen Videos. Es werden Haare gekämmt, Ohren geputzt, Seifen geschnitten. Klingt langweilig? Ist es auch. Trotzdem ist „ASMR“ aktuell in den USA auf Platz 2 der Top Youtube Searches 2022 (Kaushal, 2022). Warum?
Ein wohliger Schauer
ASMR ist die Abkürzung für Autonomous Sensory Meridian Response (Barratt & Davis, 2015, S. 1). Eine klinisch anmutende Bezeichnung, jedoch ohne theoretische Fundierung und wissenschaftlicher Aussagekraft. Diejenigen, die ASMR-Inhalte konsumieren, beschreiben die Erfahrung häufig als einen „wohligen Schauer“ im Bereich der Rücken- und Nackenpartie oder als ein angenehmes „Kribbeln im Kopf“ (Stangl, 2022). Sie kommt in Wellen und verursacht einen tranceähnlichen Zustand, der von Gefühlen der Euphorie und Entspannung begleitet wird (Poerio, 2020). Manche sprechen sogar von einem „Kopforgasmus“ (Stangl, 2022) – der jedoch nichts mit sexueller Erregung zu tun hat. Hervorgerufen wird das Phänomen durch bestimmte visuelle und/oder auditorische Reize, auch „Triggers“ genannt (Barratt & Davis, 2015, S. 1).
Mehr als eine Laune des Internets
Das erste Video, das sich als ASMR-spezifisch einordnen lässt, wurde im Jahr 2009 auf dem YouTube-Kanal „WhisperingLife ASMR“ veröffentlicht und enthält eine etwa dreiminütige Flüstersequenz. Heute haben die beliebtesten „ASMRtists“ Abonnentenzahlen im Millionenbereich (Williams, 2019). ASMR wirkt auf den ersten Blick wie eine Laune des Internets, doch das Phänomen ist im Prinzip keine neue Erscheinung. In Umfragen berichten Personen, dass sie ihre ersten ASMR-Erfahrungen bereits in der Kindheit gemacht haben, z. B. beim „Läuse-Check“ in der Schule oder bei Ratespielen, in denen man sich gegenseitig mit dem Finger Buchstaben auf den Rücken malt (Poerio, 2020). Doch gingen sie davon aus, dass a) entweder nur sie selbst oder b) auch alle anderen derartige Gefühle verspüren würden. „Unbeabsichtigtes“ ASMR wird auch häufig dem TV-Künstler Bob Ross zugeschrieben, dessen sanft gesprochene Worte und Pinselstriche auf manche Zuschauer eine entspannende Wirkung haben (Richard, 2015).
Was sagt die Wissenschaft?
Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, doch vorläufige Untersuchungen deuten darauf hin, dass es sich keineswegs um ein ausgedachtes Phänomen handelt. ASMR scheint bei denjenigen, die nach eigener Auskunft dafür empfänglich sind, tatsächlich physiologische Reaktionen hervorzurufen wie z. B. eine niedrigere Herzfrequenz oder eine höhere Hautleitfähigkeit (Poerio, Blakey, Hostler & Veltri, 2018). Auch neurologische Bildgebungsverfahren liefern erste Hinweise: Eine Studie zeigt bei ASMR-empfänglichen Personen während des Konsums eine signifikante Aktivierung von Gehirnregionen, die mit Emotion, Empathie und Bindungsverhalten in Verbindung stehen (Lochte, Guillory, Richard & Kelley, 2018). Ein anderer Ansatz deutet darauf hin, dass Menschen, die ASMR-Erfahrungen machen, im Vergleich zu denen, die nicht dazu in der Lage sind, eine erhöhte funktionelle Konnektivität zwischen Bereichen im okzipitalen, frontalen und temporalen Kortex aufweisen (Smith, Fredborg & Kornelsen, 2016). ASMR scheint demnach mit der Verschmelzung mehrerer Ruhezustandsnetzwerke verbunden zu sein. Spannende Unterschiede zeigen sich außerdem auf persönlichkeitspsychologischer Ebene: ASMR-empfängliche Personen erzielen in Persönlichkeitsfragebogen höhere Werte in den Eigenschaften Offenheit (für Erfahrungen) und Neurotizismus (Fredborg, Clark & Smith, 2017). Letzteres geht häufig mit einer erhöhten Anfälligkeit für negative emotionale Zustände wie Depression und Ängstlichkeit einher (Greer, 2022).
ASMR als therapeutische Maßnahme
Auch wenn ASMR (noch) nicht sonderlich gut erforscht ist, zeichnen sich erste vielversprechende Zusammenhänge ab, die sich möglicherweise auch im therapeutischen Kontext nutzen lassen. Ein potenzieller Einsatzzweck ist unter anderem die Behandlung von Schlafproblematiken: Umfragen haben zumindest gezeigt, dass ASMR-Inhalte insbesondere in der Zeit vor dem Schlafen gehen konsumiert werden, in der Erwartung dadurch schneller zu entspannen und besser einzuschlafen (Breus, 2019). Dies könnte auf eine stressmindernde Wirkung und/oder Verbesserung der allgemeinen Stimmungslage zurückzuführen sein (Breus, 2019). Ein Blick in die Kommentarspalten von ASMR-Channels reflektiert jedenfalls genau das: Menschen nutzen ASMR-Content, um abzuschalten, dem Gedankenkarussell zu entfliehen und generell Symptome zu managen, die häufig mit Stress, Depression oder Ängsten in Verbindung gebracht werden. Eid, Hamilton & Greer haben eine Studie durchgeführt, in deren Rahmen insgesamt 64 Testpersonen (36 davon ASMR-empfänglich, 28 nicht ASMR-empfänglich) ein fünfminütiges ASMR-Video anschauten (2022). Zuvor wurden die individuellen Ausprägungen von Neurotizismus sowie chronischer und gegenwärtiger Angstlevel erfasst. Letzteres wurde nach dem Konsum des Videos erneut gemessen. Die ASMR-empfänglichen Proband*innen zeigten zunächst in allen drei Bereichen höhere Werte als die nicht empfängliche Kontrollgruppe. Nach der entsprechenden Intervention berichten diejenigen, die für ASMR-Erfahrungen zugänglich sind, von einem signifikant niedrigeren gegenwärtigen Angstlevel, während die restlichen Teilnehmer*innen keine Veränderungen feststellen können. Die Studienlage ist noch dünn und die Untersuchungen umfassen bisher nur sehr kleine Stichproben, doch Forschungen wie diese geben Hinweise darauf, dass ASMR-Inhalte dabei helfen könnten, stress- und/oder angstbedingte Symptome zu lindern.
Fazit
ASMR kann keine Depressionen, Angststörungen oder Schlafprobleme dauerhaft heilen. Die aktuelle (wenn auch sehr junge) Forschung hinterlässt jedoch einen optimistischen Eindruck, dass ASMR beim Symptommanagement in einem entsprechenden Kontext nützlich sein kann. Ob es sich als valide therapeutische Maßnahme eignet bleibt noch offen. Letztendlich handelt es sich bei ASMR immerhin um eine mehr oder weniger „unfreiwillige“ physische und psychische Reaktion, die weder gelernt noch trainiert werden kann (Wu, 2019). In jedem Fall haben wir es hier mit einem höchst spannenden psychologischen Phänomen zu tun, das gleichzeitig Entspannung sowie Erregung auslösen kann und sich sowohl auf physiologischer als auch auf neurologischer Ebene manifestiert.
Quellen:
Barratt, E. L & Davis, N. J. (2015). Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR): a flow-like mental state. PeerJ 3:e851. doi:10.7717/peerj.851
Breus, Michael J. (2019). Can ASMR Help You Sleep Better? The sleep benefits ASMR can provide. Abgerufen am 26.08.2022. Verfügbar unter https://www.psychologytoday.com/us/blog/sleep-newzzz/201906/can-asmr-help-you-sleep-better
Eid, C. M., Hamilton, C. & Greer, J. M. H. (2022). Untangling the tingle: Investigating the association between the Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR), neuroticism, and trait & state anxiety. PLoS ONE, 17(2), e0262668. doi:10.25398/rd.northumbria.16654846
Fredborg, B., Clark, J. & Smith, S. D. (2017). An Examination of Personality Traits Associated with Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR). Front. Psychol. 8:247. doi:10.3389/fpsyg.2017.00247
Greer, J. (2022). ASMR is linked to anxiety and neuroticism, our new research finds. Abgerufen am 26.08.2022. Verfügbar unter https://theconversation.com/asmr-is-linked-to-anxiety-and-neuroticism-our-new-research-finds-175903
Kaushal, N. (2022). Top YouTube Searches in 2022. Zugriff am 30.07.2022. Verfügbar unter https://www.pagetraffic.com/blog/top-youtube-searches/
Lochte, B. C., Guillory, S. A., Richard, C. A. H. & Kelley, W. M. (2018). An fMRI investigation of the neural correlates underlying the autonomous sensory meridian response (ASMR). Bioimpacts, 8(4), S. 295-304.
Poerio, G. (2020). ASMR: what we know so far about this unique brain phenomenon – and what we don’t.Abgerufen am 20.08.2022. Verfügbar unter https://theconversation.com/asmr-what-we-know-so-far-about-this-unique-brain-phenomenon-and-what-we-dont-135106
Poerio, G., Blakey, E., Hostler, T. J. & Veltri, T. (2018). More than a feeling: Autonomous sensory meridian response (ASMR) is characterized by reliable changes in affect and physiology. PLoS ONE, 13(6), e0196645. doi:10.1371/journal.pone.019664
Richard, Dr. (2015). History of ASMR: the early ASMR-type videos (podcast episode #3). Abgerufen am 23.08.2022. Verfügbar unter https://asmruniversity.com/2015/10/30/history-asmr-videos/
Smith, S., Fredborg, B. & Kornelsen, J. (2016). An Examination of the Default Mode Network in Individuals with Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR). Social Neuroscience, 12(4). doi:10.1080/17470919.2016.1188851
Stangl, W. (2022). Autonomous Sensory Meridian Response – ASMR. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Abgerufen am 20.08.2022. Verfügbar unter https://lexikon.stangl.eu/12815/autonomous-sensory-meridian-response-asmr.
WhisperingLife ASMR (2009). Whisper 1 – hello! Abgerufen am 20.08.2022. Verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=IHtgPbfTgKc
Williams, A. (2019). The 5 most popular ASMR channels on YouTube. Abgerufen am 22.08.2022. Verfügbar unter https://www.dexerto.com/entertainment/top-5-most-popular-asmr-channels-on-youtube-1117662/
Wu, J. (2019). What Is ASMR? Most people aren’t affected by ASMR. But what does it mean for those who are? Abgerufen am 26.08.2022. Verfügbar unter https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-savvy-psychologist/201910/what-is-asmr
Bildquelle:
Grabowska, K. (2021). ASMR – YouTuber – Hobby. Abgerufen am 31.08.2022. Verfügbar unter https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-kopfhorer-audio-gerat-6920032/