Es ist unausweichlich, unsere Billionen von Zellen altern, bis der gesamte Körper daran stirbt. Doch warum ist es so herausfordernd, Trauer zu begegnen? Wieso entsteht häufig eine große Hilflosigkeit, die stumm werden lässt, anstatt Trauer als etwas Natürliches, was uns Menschen in vielfältigsten Facetten im Leben begegnet, zu begreifen und anzunehmen? Vielleicht hilft eine Betrachtung von Trauer, um sich diesem Thema nähern zu können und es etwas greifbarer zu erleben. Jeder Mensch ist im privaten und vielleicht auch im beruflichen Kontext, wie bspw. im beratenden und therapeutischen Setting, mit Trauer konfrontiert. Zur Auseinandersetzung mit Trauer gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Tod (Vogel, 2022, S. 7). Dennoch scheinen Tod und Trauer in der hiesigen Gesellschaft ein Tabuthema zu sein. Diese Tabuisierung bedeutet für Betroffene, alleine gelassen zu werden (Böhmer & Steffgen, 2021, S. 4). So existieren auch verschiedene mitunter falsche Annahmen über Trauer, die eine Verwurzelung in der Gesellschaft haben. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwer es Menschen im eigenen Umfeld fällt, Trauernden zu begegnen und einen offenen Umgang mit Tod und Trauer zu erlangen. Die Hinwendung zu diesem essenziellen Thema des Lebens birgt die Möglichkeit, eigene Ängstlichkeit und Hilflosigkeit zu reduzieren. Mit diesem Blog möchte ich eine vorsichtige Annäherung an das Thema Trauer ermöglichen.
Definition von Trauer
Was ist eigentlich Trauer? Trauer wird zunächst als eine Reaktion auf einen bedeutsamen Verlust und ein Prozess im Finden eines Umgangs mit diesem verstanden. Sie ist damit fester Bestandteil des Lebens (Münch, 2020, S.18). In der englischen Sprache gibt es drei Begriffe für Trauer mit unterschiedlichen Bedeutungen:
- grief: Gefühl, der Schmerz nach dem Verlust, innerpsychische Reaktionen
- mourning: die Zeit der Trauer
- bereavement: der Prozess des Beziehungsverlustes oder der Beziehungsänderung
In der deutschen Sprache wird in der heutigen Zeit, die geprägt ist durch die Individualisierung, vor allem der Gefühlsteil mit dem Wort Trauer angesprochen. So bezeichnet Trauer Gefühlzustände und Verhaltensweisen nach einem Verlust (oder auch bei drohendem Verlust). Dieser kann sich auf Personen oder Objekte beziehen. Verlust bezieht sich in der Regel auf Bezugspersonen, kann sich jedoch auch auf Teile des Selbst, Körperteile, Teile der eigenen Biografie oder Gegenstände beziehen und eine tiefe Trauer auslösen. Anders als früher sind in der westlichen Gesellschaft die Gefühle von Trauernden heute nicht mehr rituell eingebunden. Der Trauerprozess findet im trauernden Individuum statt und der gesellschaftliche Lauf wird nicht gestört (Feldmann, 2010, S. 242-244). Dieses Paradigma der postmodernen beschleunigten Gesellschaft mit weitreichender Dynamisierung von Zeitstrukturen und stetigen Veränderungen zeichnet sich durch eine Übertragung dieser Sichtweise auf alle Lebensbereiche aus. Bezogen auf Trauerprozesse bedeutet das, dass diese nach Möglichkeit schnell verlaufen sollten, um nicht als störend wahrgenommen zu werden. Ausgehend von dieser Sichtweise wird deutlich, dass Trauer nicht als rein innerpsychisches Phänomen betrachtet werden darf, sondern soziale und gesellschaftliche Bedingungen ausserhalb des innerpsychischen Erlebens immer berücksichtigt werden sollten (Münch, 2020, S. 8) . Dabei gibt es keine „normierte“ Trauer. Es entstehen durch überkulturelle und kulturspezifische Elemente Unterschiede im Trauerverhalten (Feldmann, 2010, S. 242-244). So gibt es übergreifend sog. Basisgefühle bzw. Basishandlungen, die aber sozial und kulturell geformt werden.
Wichtig erscheint auch ein Blick auf Tabubereiche des Trauerns. Dazu gehört das Auftreten unpassender Gefühle beim Tod einer Bezugsperson, wie Freude, Erleichterung oder Befreiung und die Interpretation des Todes als positives Ereignis für den Toten bzw. für die Überlebenden. War die verstorbene Person Anlass von Konflikten, Identitätsproblemen oder wurde sie als Last empfunden, war der Trauerprozess evtl. bereits vor Eintritt des Todes abgeschlossen, so kann Erleichterung nach dem Tod empfunden werden. Dieses Gefühl kann als abweichend oder unpassend wahrgenommen werden, was bei den Trauernden Schuldgefühle oder geheuchelte Reaktionen hervorrufen kann (Feldmann, 2010, S. 244-245). Trauern ist ein natürlicher Vorgang und ein angeborenes Bewältigungsformat. Denn Trauern ist zugleich Ausdruck des Verlustes als auch die Bewältigung desselben (Znoj, 2005, S. 2). „Trauern“ entspricht auch nicht dem Gefühl der Traurigkeit. Trauernde sind nicht immer in der Lage, sich traurig zu fühlen und das eigene Erleben wird dann als diskrepant zu den eigenen Vorstellungen und gesellschaftlichen Erwartungen erlebt. Wichtig ist es, festzuhalten, dass es keine genormte Trauerreaktion gibt (Znoj, 2005, S. 3-4).
Modelle der Trauer
Die Antwort auf die relevante Frage, wie ein Verlust verarbeitet werden kann, ermöglicht Halt und Orientierung. So wurden in der Vergangenheit verschiedene Konzepte und Theorien entwickelt. Einige davon gelten mittlerweile als veraltet, wie bspw. das Konzept, dass Trauer in Phasen verläuft und diese Phasen zur Trauerbewältigung durchlebt werden müssen. Die hier implizierte Annahme, dass zur Überwindung von Trauer und einer erfolgreichen Neuanpassung der Verlust in verschiedenen Phasen „durchgearbeitet“ werden muss, findet laut Znoj (Znoj, 2005, S. 5) keine empirische Unterstützung. Die biologische Perspektive, die impliziert, dass eine Trauerreaktion biologisch angelegt ist, konnte durch Befunde in der Primatenforschung belegt werden. Eine solche biologische Anlage für das Trauern hätte sich nicht durchgesetzt, wenn sie nicht adaptiv für das langfristige Überleben einer Spezies wäre. Unter der biologischen Perspektive wird Trauer als Nebenwirkung einer adaptiven Eigenschaft angesehen, die es ermöglicht, soziale Verbände auch bei zeitlicher oder räumlicher Trennung aufrechtzuerhalten. Dabei hängt die Intensität der Trauerreaktion von der Qualität der Beziehung zur verstorbenen Person ab (Znoj, 2005, S. 7). Das von Stroebe und Schut (Schut, 1999) entwickelte Modell, dass Trauer als dualen Prozess begreift, kontrastiert die Grundannahme anderer Modelle des „Durcharbeitens“ der Trauer. Es ist vielmehr einerseits darauf ausgerichtet, den Verlust zu integrieren und auf der anderen Seite sich neuen Aufgaben zu stellen. Dieser Prozess ist ein oszillierender Prozess zwischen diesen Polen (Znoj, 2012, S. 26-28). Dabei setzen sich Trauernde emotional und gedanklich mit dem Verlust auseinander, kümmern sich aber gleichzeitig um Anforderungen aus der Umwelt bzw. orientieren sich auf neue Lebensziele. Dieses kann gleichzeitig oder oszillierend stattfinden. Nach dem dualen Prozessmodell der Trauer hängt die erfolgreiche Adaption von einer gelungenen Balance zwischen den Polen ab.
Abb. 1: Duales Prozessmodell der Trauerbewältigung nach Stroebe und Schut
Fazit
Aus eigener Erfahrung und auch im Austausch mit weiteren Betroffenen erachte ich den bewussten Blick auf das Thema, wie wir als Gesellschaft Trauer und Trauernden begegnen, als bedeutsam und notwendig. Trauernde benötigen individuell angemessene Unterstützungsstrukturen und soziale Netze, um einen Umgang mit dem Verlust zu finden. Dazu gehört auch qualitativ gute Forschung zu Trauer, die interdisziplinär angelegt werden sollte. Als besonders wichtig empfinde ich die Etablierung einer gesellschaftlichen Kultur, die Trauernden wertschätzende Unterstützung bietet und den Mut hat, dem Thema Tod und Trauer offen zu begegnen, um der eigenen Hilfslosigkeit und Scheu, die Trauernden gegenüber empfunden wird, etwas entgegensetzen zu können (Münch, 2020, S. 114).
Literaturverzeichnis
Böhmer, M. & Steffgen, G. (Hrsg.). (2021). Trauer an Schulen: Basiswissen und Hinweise zum Umgang mit Sterben und Tod. Berlin [Heidelberg]: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62759-4
Feldmann, K. (2010). Tod und Gesellschaft: sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick (2., überarb. Aufl.). Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwissenschaften.
Münch, U. (2020). Anhaltende Trauer: wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden (Edition Leidfaden). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schut, M. S., Henk. (1999). THE DUAL PROCESS MODEL OF COPING WITH BEREAVEMENT: RATIONALE AND DESCRIPTION. Death Studies, 23(3), 197–224. https://doi.org/10.1080/074811899201046
Vogel, R. T. (2012). Todesthemen in der Psychotherapie (Psychotherapie) (2., erweiterte und überarbeitete Auflage.). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Znoj, H. (2005). Ratgeber Trauer: Informationen für Betroffene und Angehörige (Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie). Göttingen Bern Wien Toronto: Hogrefe.
Znoj, H. (2012). Trauer und Trauerbewältigung: psychologische Konzepte im Wandel (Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik) (1. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Abbildungen
Titelbild: geralt (2022), Zugriff am 04.02.2024, verfügbar unter: https://pixabay.com/de/illustrations/denkprozess-gehirn-verhältnis-7450508/
Abb. 1: Duales Prozessmodell der Trauerbewältigung nach Stroebe und Schut, Quelle: Znoj, 2005, S. 11