Fast jede Frau hat es schon einmal erlebt: Sie geht die Straße entlang und plötzlich reißt sie ein lautes Pfeifen oder ein anzüglicher Kommentar aus ihren Gedanken. Das sogenannte Catcalling ist ein Problem, welches in der Gesellschaft noch lange nicht genug Aufmerksamkeit erreicht hat. Viele Menschen wissen gar nicht, dass so etwas überhaupt passiert und wie unangenehm und beängstigend es für die Betroffenen sein kann. Die Objectification Theory von Fredrickson und Roberts (1997) liefert einen theoretischen Hintergrund zu der Rolle des weiblichen Körpers in unserer Gesellschaft.
Objectification Theory
In unserem soziokulturellen Kontext kommt es, sei es bei Begegnungen auf der Straße oder aber auch in den (visuellen) Medien oftmals zu einer Sexualisierung des weiblichen Körpers: Frauen werden auf der Straße angestarrt, müssen anzügliche Kommentare oder Pfeifen, und im schlimmsten Fall sogar körperliche Belästigung ertragen. In der Werbung gilt das Motto „Sex sells“, es werden also oft sexualisierte und objektifizierende Bilder von Frauen verwendet, um die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf sich zu ziehen. Manchmal wird der Kopf der Frau sogar ganz abgeschnitten, sodass nur noch der Körper zu erkennen ist. In Musikvideos, Zeitschriften, Kunst und sogar in der TV-Zeitschrift finden sich sexualisierte Bilder von Frauenkörpern, die angestarrt und beurteilt werden. Frauen werden also objektifiziert, das heißt, ihr Körper wird von ihnen als Person, ihren Interessen und ihrer Persönlichkeit, getrennt (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 175-176).
Daher ist es kein Wunder, dass durch die Tatsache, dass der weibliche Körper unter einer dauerhaften Beobachtung und Beurteilung steht, viele Frauen und Mädchen beginnen, auch sich selbst zu objektifizieren (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 173). Bereits junge Mädchen internalisieren die Beobachterperspektive auf ihren Körper, die gesellschaftlich vorgelebt wird. Mädchen lernen schon früh, wie wichtig ihr physisches Erscheinungsbild ist; und auch, dass es wichtiger ist als das von Männern. Attraktive Frauen haben im beruflichen Kontext und auch in anderen Lebensbereichen erhebliche Vorteile (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 178). Während übergewichtige Frauen häufig benachteiligt werden, gibt es bei übergewichtigen Männern keinen solchen Effekt. Es wird vermutet, dass diese Dauerbeobachtung des eigenen Körpers zu Scham- und Angstgefühlen führt und dadurch einen Grund für mentale Gesundheitsprobleme wie Depressionen und Essstörungen darstellen kann (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 173).
Das Schamgefühl kann entstehen, wenn Frauen ihren eigenen Körper mit dem kulturellen Ideal vergleichen, welches sie auch selbst internalisiert haben, und dabei ihrer Meinung nach schlecht wegkommen. Insbesondere die Tatsache, dass der Körper einer Frau sich in den verschiedenen Lebensphasen konstant entwickelt und verändert, kann zu diesem Faktor kontribuieren. Während Männer und Frauen im Kleinkindalter, dem frühen Kindesalter und dann wieder im fortgeschrittenen Alter eine ähnliche Körperfettverteilung haben, ist diese von der Pubertät bis ins mittlere Alter sehr unterschiedlich, da Frauen im gebärfähigen Alter wesentlich mehr Fett in ihren Hüften und Oberschenkeln haben (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 193-194). Das Angstgefühl kommt von der Tatsache, dass sexuelle Objektifikation ein Kernfaktor für sexuelle Gewalt ist. Es herrscht oft der Gedanke, dass eine Frau durch knappe Kleidung geradezu nach sexueller Gewalt „fragt“ oder sich zu „provokativ“ anzieht (Fredrickson & Roberts, 1997, S. 182-183).
Gegenwind
Besonders in den letzten Jahren nimmt der Protest gegen das Catcalling zu. In dem Video „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“ ließ sich die Schauspielerin Shoshana Roberts dabei filmen, wie sie 10 Stunden lang in neutraler Kleidung und neutralem Gesichtsausdruck durch New York läuft. Das Video zeigt, wie sie in Form von Pfeifen, anzüglichen Kommentaren und Anmachsprüchen ca. 108 Mal belästigt wird. Einmal wird sie sogar über fünf Minuten lang von einem Mann verfolgt (Tagesspiegel, 2014).
Aber solche Situationen finden nicht nur in den USA statt. Die Niederländerin Noa Jansma machte einen Monat lang Selfies mit den Männern die sie auf der Straße belästigten und lud diese auf Instagram hoch, um Aufmerksamkeit für das Thema Catcalling zu schaffen. In dem Monat kamen insgesamt 20 Bilder zustande, wobei Noa Jansma zwei der Bilder wieder löschen musste und nach eigenen Angaben noch nicht einmal jeden Mann fotografiert hat, da sie sich in einigen Momenten nicht sicher genug dafür fühlte (SüddeutscheZeitungMagazin, 2017). Viele Männer wissen noch nicht einmal, dass Frauen ein solches Verhalten Tag für Tag tolerieren müssen. Da sie selbst weniger stark betroffen sind, ist ihnen manchmal sogar unklar, ab wann ein solches Verhalten als Belästigung wahrgenommen wird (SüddeutscheZeitungMagazin, 2017).
Ein großes Problem ist außerdem, dass bereits extrem junge Mädchen davon betroffen sind. Die Influencerin Luise Morgenreyer berichtet in einem Interview, dass sie Catcalling schon erfährt, seitdem sie 13 Jahre alt ist. Damals habe sie die Kommentare und Sprüche gar nicht verstanden und erst als sie älter wurde verstand sie, dass sie sich das nicht gefallen lassen muss. Sie berichtet außerdem, dass bei vielen Passanten die Zivilcourage fehlt. Es sei ihr noch nie passiert, dass Passanten eingeschritten wären, und etwas gesagt hätten (Zeit Campus, 2020).
Fazit
Das Catcalling, sowie eine generelle Übersexualisierung des weiblichen Körpers ist in unserer Gesellschaft sehr präsent. Viele Frauen und Mädchen legen dadurch einen übertrieben großen Fokus auf ihr physisches Aussehen, sodass mentale Probleme wie Depressionen oder Essstörungen entstehen können. Vielen Menschen ist das Catcalling gar nicht so bewusst und sie erkennen es häufig nicht, sodass es in vielen Situationen an Zivilcourage fehlt. Da aber aus vermeintlich harmlosen Anmachsprüchen aber auch schnell mal unbehagliche und gefährliche Situationen entstehen können, ist es umso wichtiger, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen, damit im Ernstfall geholfen werden kann.
Literaturverzeichnis
Fredrickson, B. L/ Roberts, T. (1997), Objectification Theory. Toward Understanding Women’s Lived Experiences and Mental Health Risks. Psychology of Women Quarterly, Jg. 21, Nr. 2., S. 173-332.
Zeit Campus (2020), „Seitdem ich zwölf bin, werde ich auf der Straße sexualisiert“. Zugriff am 04.12.2023. Verfügbar unter https://www.zeit.de/campus/2020-10/catcalling-sexuelle-belaestigung-frauen-sexismus/komplettansicht.
Tagesspiegel (2014), Video „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“: Der ganz normale Sexismus in den USA. Zugriff am 04.12.2023. Verfügbar unter https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/der-ganz-normale-sexismus-in-den-usa-6914281.html.
Süddeutsche Zeitung Magazin (2017), „Wir müssen das nicht hinnehmen“. Zugriff am 04.12.2023. Verfügbar unter https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesellschaft-leben/wir-muessen-das-nicht-hinnehmen-84084.
Titelbild: Foto von Tuba Nur Dogan: https://www.pexels.com/de-de/foto/haustier-fenster-katzchen-katze-18896527/