By Published On: 23. Juni 2023Categories: Wiki

Der Künstler Stephen Wiltshire (*1974) ist bekannt für seine detailgetreuen Zeichnungen von Metropolen wie London, Tokio oder New York, die er nach einmaligen Helikopterflügen rein aus dem Gedächtnis erstellt. Bereits als Achtjähriger fertigte der als autistisch diagnostizierte Künstler seine erste Auftragsarbeit für die britische Premierministerin an. Jedoch lernte er erst mit neun Jahren richtig zu sprechen (Stephen Wiltshire Ltd, 2022). Stephen Wiltshire ist ein sogenannter Savant. Savants sind Menschen, die über außergewöhnliche Begabungen in engumschriebenen Teilgebieten verfügen, welche in starkem Kontrast zur allgemeinen Erscheinung und Leistungsfähigkeit der Person stehen (Treffert, 2015, S. 308). Das seltene Phänomen des Savant-Syndroms tritt in Kombination mit schweren Entwicklungsstörungen sowie Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns auf und ist entweder angeboren oder durch Hirnverletzungen bzw. Schädigungen des zentralen Nervensystems erworben (Onin, Hanoglu & Yulug, 2022, S. 1).

Begriffsherkunft

„Savant“ kann mit „gelehrte Person“ umschrieben werden (Treffert, 2015, S. 310) und geht auf Edouard Séguin (1812-1880) zurück, der in Publikationen von 1866 und 1867 erstmalig die Ausdrücke „savant“ bzw. „idiot savant“ verwendete. Dennoch wird der Terminus „idiot savant“ meist John Langdon Down zugeschrieben (Eling, 2019, S. 159), da jener 1887 im British Medical Journal eine Beschreibung des Phänomens vorlegte (Down, 1887, S. 256–257). Während damals das Wort „Idiot“ zur Beschreibung eines niedrigen IQs gebräuchlich war, hat sich heutzutage die Bezeichnung „Savant-Syndrom“ durchgesetzt. Zum einen ist die Mehrheit der Savants nur leicht retardiert und zum anderen wurde das Konzepts auf Personen im IQ-Normbereich (Bölte, Uhlig & Poustka, 2002, S. 291) und höher ausgedehnt (Treffert, 2015, S. 310).

Savant-Skills und ihre Ausprägungen

Savant-Skills treten meist unerwartet sowie ohne jegliches Training im Alter von ca. 4 bis 8 Jahren auf (Bölte et al., 2002, S. 291) und zeigen sich typischerweise in einem der folgenden Bereiche: Musik, Kunst, Mathematik, räumlich-schematisches Vorstellungsvermögen oder Kalenderberechnen. Vereinzelt wird auch von Fähigkeiten in anderen Gebieten berichtet (vgl. Tabelle). In der Regel liegt nur eine einzige Fähigkeit (Inselbegabung/„island of genius“) vor und mehrere Begabungen sind selten. Alle Savant-Skills gehen jedoch immer mit einem enormen Erinnerungsvermögen einher (Treffert, 2014, S. 564).

Savant-Skills in unterschiedlichen Fachgebieten
Musik·       Absolutes Gehör, bzw. exaktes Tonhöhengedächtnis
·       Musikstücke werden nach einmaligem Hören genau reproduziert, ohne eine musikalische Ausbildung erhalten zu haben
Kunst·       Malen/Zeichnen detailgetreuer, photographisch wirkender Bilder mit exakter Perspektive
·       Stilistisch als eigenwillig und unflexibel beschrieben
Mathematik·       Schnelles Multiplizieren oder Wurzelziehen
·       Berechnen von mehrstelligen Primzahlen
·       Fähigkeiten meist paradoxer Art, da andererseits einfachste mathematische Aufgaben nicht bewältigt werden
Räumlich-
schematische Vorstellung
·       Reparatur und Konstruktion komplexer Maschinen, Motoren, etc. ohne Vorkenntnisse
·       Überragende räumliche Orientierung
·       Berechnen von Wegstrecken
Kalenderberechnen·       Exakte Angabe des Wochentags für ein beliebiges Datum
·       Häufiger Savant-Skill, in der Allgemeinbevölkerung quasi unbekannt
Gedächtnis·       Originalgetreue Wiedergabe von trivialen Daten und Fakten, z. B. Fahrplänen, Telefonnummern, Wortlisten
·       Herausragende Kenntnisse in spezifischen Wissensgebieten, z. B. Statistik, Geschichte
·       Häufig spezielles Interesse am jeweiligen Wissensbereich
Hyperlexie·       Frühes und exaktes Lesen (unter 6 Jahren) ohne Textverständnis
Sprachen·       Multilingualismus bzw. Mehrsprachigkeit
·       Polyglottismus bzw. Vielsprachigkeit
Sensorik·       Außergewöhnliche Unterscheidungsfähigkeiten für sensorische Reize, wie Gerüche oder Berührungen
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bölte et al., 2002, S. 292-295; Treffert, 2015, S. 309

Das Savant-Syndrom kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Am häufigsten werden Teilleistungsfähigkeiten („splinter skills“) beobachtet. Dies sind moderate Formen der Inselbegabung wie die obsessive Beschäftigung mit einem bestimmten Sachgebiet oder ein exaktes Erinnerungsvermögen für (Trivial-)Wissen. Talentierte Savants („talented savants“) hingegen verfügen über spezifisch und nuanciert ausgeprägte Fähigkeiten innerhalb eines Fachgebietes, die im Hinblick auf die übergeordneten Beeinträchtigungen bemerkenswert, im Vergleich zu neurotypischen Personen jedoch höchstens durchschnittlich sind. Savants, deren spezielle Fähigkeit als außergewöhnlich und normativ herausragend beschrieben werden kann, werden als geniale Savants („prodigious savants“) bezeichnet. Hiervon sind weltweit nur ca. 100 Fälle dokumentiert (Bölte et al., 2002, S. 291–292; Treffert, 2015, S. 308–309).

Savant-Syndrom, Autismus und Intelligenz

Savants sind nicht grundsätzlich autistisch und nicht alle Autist:innen sind inselbegabt. Laut Treffert (2015) treten bei ca. 10% der Personen im Autismus-Spektrum Inselbegabungen in einem Teilbereich auf. Bei anderen Beeinträchtigungen, wie geistigen Behinderungen und Hirnverletzungen, zeigt sich ein Savant-Syndrom jedoch nur bei weniger als 1% der Betroffenen. Da Autismus statistisch seltener ist als jene anderen Beeinträchtigungen, ergibt sich, dass ca. 50% der Savants autistisch sind und 50% eine andere Beeinträchtigung aufweisen (Treffert, 2015, S. 308). Diesbezüglich ist die Datenlage aber noch unzureichend. Andere Forschende berichten, dass bis zu 37% der Personen im Autismus-Spektrum über Savant-Skills verfügen und Hughes et al. (2018) sehen Hinweise dafür, das Savant-Syndrom als Untergruppe von Autismus zu definieren (Hughes et al., 2018, S. 1, S.16).

Eine bekannte Kontroverse in der Psychologie ist die Frage, ob sich geistige Fähigkeiten in einem einzigen Intelligenzwert ausdrücken lassen oder multiple Intelligenzen, z.B. musikalischer, räumlicher, oder körperlich-kinästhetischer Art, existieren (Myers, 2014, S. 401–403). Treffert (2014) sieht im Savant-Syndrom ein starkes Argument für die Theorie multipler Intelligenzen, da hier intelligente Fähigkeiten in einem Inselbereich gemeinsam mit zum Teil schweren Behinderungen auftreten. Wenn multiple Einschränkungen, bspw. des Sprach- und Sehvermögens, vorliegen, sodass weder verbale noch non-verbale IQ-Tests eingesetzt werden können, ist eine genaue IQ-Messung zudem erschwert. Viele Savants haben zwar einen IQ unter 70, doch das Savant-Syndrom geht nicht notwendiger Weise mit einem niedrigen IQ einher. Es sind auch überdurchschnittliche IQs von 125 und höher dokumentiert (Treffert, 2014, S. 568).

Erklärungsmodelle

Bisher existiert keine Hypothese, die die Entstehung aller Savant-Fälle erklärt. Autismus-Spektrum-Störungen und das Savant-Syndrom weisen ein ähnliches Geschlechterverhältnis auf; wobei Männer ca. 4-6 mal häufiger betroffen sind als Frauen. Dies wird durch die neurotoxische Wirkung eines zu hohen fötalen Testosteronspiegels in der Schwangerschaft erklärt, wofür männliche Föten ein höheres Risiko als weibliche tragen (Treffert, 2015, S. 310–311).

Typischerweise geht das Savant-Syndrom mit starken Veränderungen des Hirnstoffwechsels einher, welche zu kritischen Veränderungen des Gehirnnetzwerkes führen. Die Entwicklung von Savant-Skills wird zum einen über die Hemmung linksseitiger Hirnaktivitäten und eine daraus folgende erhöhte Aktivität der rechten Hirnhälfte erklärt. Ergänzend wird angenommen, dass Savants verstärkt neuronale Schaltkreise der niederen Ebene nutzen, die für das prozedurale Gedächtnis zuständig sind (cortico-striataler Schaltkreis), da das semantische Gedächtnis der übergeordneten Ebene (cortico-limbischer Schaltkreis) geschädigt ist (Onin et al., 2022, S. 1–3). Hiermit lässt sich auch begründen, weshalb Savant-Skills zwar ausgereift aber zugleich stark begrenzt und automatisiert sind (Treffert, 2015, S. 311).

Fazit und Ausblick

Die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Savants rufen in immer wieder Erstaunen, Bewunderung und öffentliches Interesse hervor. Dabei werden jedoch häufig Mythen zur Parallelität von Autismus und Hochbegabung oder der Nähe von Genie und Wahnsinn verbreitet. Die Erforschung des Phänomens kann einen wesentlichen Beitrag leisten, solchen Mythen angemessen zu begegnen (Bölte et al., 2002, S. 296). Des Weiteren erhoffen sich Forschende von der Untersuchung der Besonderheiten von Savants ein besseres Verständnis des Gehirns und menschlicher Fähigkeiten im Allgemeinen (Treffert, 2015, S. 312). Die Seltenheit des Savant-Syndroms erschwert jedoch seine Erforschung, denn es gilt dabei die Wünsche der Betroffenen zu respektieren und ihre Rechte zu schützen. Zukünftig könnten hier nicht-invasive Techniken der Neuromodulation an Bedeutung gewinnen. Mittels Transkranialer Magnetstimulation ist es bereits teilweise gelungen, bei neurotypischen Personen temporär savantähnliche Fähigkeiten wie eine höhere Zeichengenauigkeit oder Kalenderberechnen hervorzurufen (Onin et al., 2022, S. 2).


Literaturverzeichnis

Bölte, S., Uhlig, N. & Poustka, F. (2002). Das Savant-Syndrom: Eine Übersicht. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 31(4), 291–297. https://doi.org/10.1026/0084-5345.31.4.291

Down, J. L. (1887). Lettsomian Lectures on Some of the Mental Affections of Childhood and Youth. British Medical Journal, 1(1362), 256–259. https://doi.org/10.1136/bmj.1.1362.256

Eling, P. (2019). Developmental cognitive deficits: A historical overview of early cases. A History of Neuropsychology, 44, 141–163. https://doi.org/10.1159/000494961

Hughes, J. E. A., Ward, J., Gruffydd, E., Baron-Cohen, S., Smith, P., Allison, C. et al. (2018). Savant syndrome has a distinct psychological profile in autism. Molecular Autism, 9(53), 1–18. https://doi.org/10.1186/s13229-018-0237-1

Myers, D. G. (2014). Intelligenz. In D. G. Myers (Hrsg.), Psychologie (3. Auflage, S. 399–436). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-40782-6_11

Onin, I., Hanoglu, L. & Yulug, B. (2022). The Savant Syndrome: A Gift or A Disability? A Deeper Look into Metabolic Correlates of Hidden Cognitive Capacity. Accessed 20.11.2022. Retrieved from https://www.eurekaselect.com/article/122419

Stephen Wiltshire Ltd (Hrsg.). (2022). Stephen Wiltshire -Biography. Zugriff am 21.11.2022. Verfügbar unter: https://www.stephenwiltshire.co.uk/biography

Treffert, D. A. (2014). Savant syndrome: Realities, myths and misconceptions. Journal of Autism and Developmental Disorders, 44(3), 564–571. https://doi.org/10.1007/s10803-013-1906-8

Treffert, D. A. (2015). Savants and Savant-Syndrom – eine außergewöhnliche Erscheinung. In G. Theunissen, W. Kulig & V. Leuchte (Hrsg.), Handlexikon Autismus-Spektrum. Schlüsselbegriffe aus Forschung, Theorie, Praxis und Betroffenen-Sicht (S. 308–312). Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag.


Bildquelle

Titelbild: Gehirn-Puzzelsteine; Quelle: istock.com/designer491, Stock-Fotografie-ID:1197104185, Verfügbar unter: https://www.istockphoto.com/de/foto/gehirn-aus-holzpuzzles-psychische-gesundheit-und-probleme-mit-dem-ged%C3%A4chtnis-gm1197104185-341668477?phrase=Gehirn%2Bpuzzel

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