Einleitung
Das Stockholm-Syndrom ist ein Begriff, welches vor allem stark in den Medien diskutiert wird. Aber was ist das Stockholm-Syndrom genau? Wie lässt es sich erklären und die Entwicklung des Stockholm-Syndroms sinnvoll oder gefährlich? Ein Versuch auf Antworten für diese Fragen soll im folgenden Beitrag unternommen werden.
Hintergrund des Begriffs
Die beobachteten psychischen Folgen bei den Geiselopfern einer Geiselnahme 1973 in Schweden wurden nachfolgend vor allem in den Medien als „Stockholm-Syndrom” beschrieben. Am 23. August 1973 zerriss das ohrenbetäubende Feuern einer Maschinenpistole die routinierte Geschäftigkeit der Sveriges Kreditbank in Stockholm, Schweden. Ein schwer bewaffneter Mann stürmte die Bank mit dem Ruf: „The party has just begun.“ Über einen Zeitraum von 131 Stunden wurden vier junge Bankangestellte in Geiselhaft genommen (Lüdke & Clemens, 2001). Obwohl sich diese jungen Menschen in ständiger Gefahr und Angst befanden, machten sie später deutlich, keinen Hass gegenüber den Bankräubern zu empfinden. Sie setzten sich für ihre Geiselnehmer ein, baten um Gnade bei der Polizei und besuchten sie sogar im Gefängnis (Warmbach, 2010, S. 188). Es wurde angenommen ein bis dahin noch unbekanntes psychologisches Phänomen zu beobachten, welches seit diesem Bankraub als das „Stockholm-Syndrom“ bezeichnet wurde.
Was ist das Stockholm-Syndrom?
Das Stockholm-Syndrom wird beschrieben als einen Prozess, in dem Geiseln eine positive emotionale Beziehung zu ihren Geiselnehmern aufbauen. Oft wird dabei eine Vorwurfshaltung gegenüber der Polizei oder Befreiern eingenommen. Die Opfer machen ihnen potenziell Vorwurfe, sie nicht schnell genug befreit zu haben oder nicht in erster Linie an ihrer Rettung interessiert zu sein (Völker & Dahms, 2016, S. 193). Der Begriff ist allerdings irreführend, da es sich nicht um ein tatsächliches Syndrom handelt. Dieses ist definiert als Kombination aus bestimmten Symptomen, welche gehäuft gemeinsam auftreten und auf eine bestimmte Störung hinweisen (Oxford University Press, 2003). Vielmehr wird es das Stockholm Syndrom als Effekt bzw. Auswirkung einer Geiselnahme auf das Opfer diskutiert. Auch ist an dieser Stelle anzumerken, dass nicht jedes Geiselopfer das Stockholm-Syndrom entwickelt. Zudem wird eine Diagnose des Stockholm-Syndroms in keinem internationalen Klassifikationssystem beschrieben und ist auch keine validierte Krankheit (Namnyak, Tufton, Szekely, Toal, Worboys, & Sampson, 2008, S.1). Obwohl der Begriff nur selten in der akademischen Forschung verwendet wird, taucht er immer wieder in den Medien auf, nicht nur im Zusammenhang mit Geiselnahmen, sondern auch in anderen Zusammenhängen, z.B. mit der häuslichen Gewalt. Wie kann es also sein, dass Opfer von Gewalt Sympathie zu ihren Tätern entwickeln?
Wie lässt sich das Stockholm Syndrom erklären?
Für das Auftreten des Stockholm Syndroms gibt es eine Vielzahl möglicher Ursachen. Oft wird das Stockholm Syndrom wird als ein unbewusster psychologische Schutzmechanismus erklärt, in der extreme Existenzangst abgewehrt wird (Lüdke & Clemens, 2001). Die Entwicklung einer positiven emotionalen Beziehung zum Geiselnehmer erhöht in der Regel die Überlebenswahrscheinlichkeit für die Geisel und sorgt für Erleichterung in der Situation. Daher ist es aus ihrer Sicht rational und lebensnotwendig, sich mit ihren Tätern zu solidarisieren (Warmbach, 2010, S. 189). Es wird zudem spekuliert, dass dieser Schutzmechanismus zu einer Akzeptanz der Situation führt, den Trotz und die Aggression gegenüber dem Geiselnehmer einschränkt und somit das Überleben wiederrum sichert (Namnyak et al., 2008, S. 2). Einige Theorien postulieren, dass die Hoffnung auf Flucht ebenfalls eine Ursache sein könnte. Starke Erregungszustände, die durch Angst verursacht werden, können als Bindung fehlinterpretiert werden. Indem diese Gefühle als Zuneigung interpretiert werden, gibt dies der Geisel Hoffnung und damit mögliche Fluchtwege (Namnyak et al., 2008, S. 4). Letztlich kann das Stockholm Syndrom auch durch ein erzwungenes Bindungstraume entstehen. Die Opfer sind in der Situation der Gefangenschaft Gefühlen wie Hilflosigkeit, Ohnmacht und Kontrollverlust ausgesetzt. Ein erzwungenes Bindungstraume ist gekennzeichnet durch eine erzwungene Nähe und eine paradoxe Dankbarkeit („Es hätte schlimmer kommen können“). Die Parteinahme und Identifizierung mit dem Täter kann demnach als Versuch der Reparation des zerstörten Selbstverständnisses, insbesondere der Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverteidigung, erklärt werden. Das kann zu einer Selbstaufgabe zugunsten des Täters führen mit Übernahme von Weltbild, Ideologie, etc. des Täters, um so besser geschützt überleben zu können (Lüdke & Clemens, 2001).
Ist das Entwickeln des Stockholm-Syndroms überlebensnotwendig?
Die Hemmung, andere Menschen zu töten, schwächt sich mit zunehmender Distanz zum Opfer ab. Mit dem Begriff Distanz ist allerdings nicht die räumliche Entfernung gemeint, sondern die Beziehung zwischen Opfer und Täter (Völker & Dahms, 2016, S.194). Macht es also Sinn für Opfer von Geiselnahmen das Stockholm Syndrom zu entwickeln? Um die Überlebenschancen zu erhöhen, ja. Die Verringerung der Distanz zu den Geiselnehmern durch Bekundung von Akzeptanz ihrer Ansichten, Solidaritätsbekundungen und eine längerfristige positive Beziehung zu den Geiselnehmern sollten angestrebt werden, um das Auftreten des Stockholm-Syndroms zu verstärken und das persönliche Risiko zu vermeiden (Völker & Dahms, 2016, S. 197). Allerdings kann das Entwickeln des Stockholm-Syndroms auch gefährlich sein, wenn der Täter in jeglicher Hinsicht unterstützt wird und es zu Kommunikationsverweigerung gegenüber der Polizei kommt. Zudem sollte beachtet werden, dass es bislang keine standardisierte Intervention gibt, die Geiselopfern gleich hilft und gleichzeitig effektiv die Entstehung eines Stockholm-Syndroms verhindert (Lüdke & Clemens, 2001).
Fazit
Das Stockholm-Syndrom beschreibt ein Phänomen, bei dem Geiseln Sympathie und eine positive Beziehung zu ihren Geiselnehmern entwickeln. Allerdings handelt es sich dabei um kein validiertes Syndrom und wird auch in keinem internationalen Klassifikationssystem, wie dem ICD beschrieben. Es lässt sich also festhalten, dass es sich um ein eher von den Medien geprägtes Phänomen handelt. Trotzdem wurde die Entwicklung des Stockholm-Syndroms in vergangenen Fällen oft beobachtet. Es kann als unbewussten Überlebensmechanismus gesehen werden, welches den Opfern hilft ein Verhalten an den Tag zu leben, welches das Risiko in dieser lebensbedrohlichen Lage minimiert. Welche Folgen das Entwickeln des Stockholm-Syndrom hat, ist bisher jedoch unklar. Das wichtigste in einer solchen Situation ist es aber in erster Linie, die Geiseln sicher aus Geiselnahme zu befreien und dafür kann das Entwickeln einer positiven Beziehung zum Geiselnehmer tatsächlich sinnvoll sein.
Literatur
Lüdke, C., & Clemens, K. (2001). Abschied vom Stockholm-Syndrom. Psychotraumatologie, 2(02), 12. https://doi.org/10.1055/s-2001-15743
Namnyak, M., Tufton, N., Szekely, R., Toal, M., Worboys, S. & Sampson, E.L. (2008). ‘Stockholm syndrome’: psychiatric diagnosis or urban myth? Acta Psychiatrica Scandinavica, 117(1), S. 4-11. https://doi.org/10.1111/j.1600-0447.2007.01112.x
Oxford University Press. (2003). Oxford concise colour medical dictionary, 3rd edition. Oxford: Oxford University Press
Völker, B., Dahms, P. (2016). Psychologische Aspekte bei Geiselnahmen. Organisationsberat Superv Coach 23, 189–199. https://doi.org/10.1007/s11613-016-0461-5
Wambach, A. (2010). Die kollektive Verdrängung als soziologisches Phänomen. Dissertation. Universität Wien. Verfügbar unter: http://othes.univie.ac.at/12948/1/2010-10-15_0108437.pdf [Zugriff am 07.10.2021]
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