By Published On: 10. Dezember 2021Categories: Wiki

Den Begriff Bulimie, auch Ess-Brech-Sucht genannt, haben wohl die meisten schon einmal gehört. Wie bei der Anorexia nervosa handelt es sich hier um eine Essstörung, wobei die Bulimia nervosa (BN) durch Essanfälle gekennzeichnet ist, bei denen die Betroffenen große Mengen an meist hochkalorischen Nahrungsmitteln verzehren. Anschließend werden Maßnahmen ergriffen, um einer Gewichtszunahme gegenzusteuern.¹ Diese gegenregulatorischen Maßnahmen werden unterschieden in „purging“ und „nicht-purging“. Während mit Purging (Englisch für reinigend) Maßnahmen beschrieben werden, die dazu führen, dass etwas den Körper verlässt, z.B. durch selbstinduziertes Erbrechen oder den Gebrauch von Abführmitteln, zählen zu Nicht-Purging-Verhaltensweisen exzessives Sporttreiben oder die Einnahme von Appetitzüglern.² Besonders gefährlich ist das sog. Insulin-Purging („Erbrechen über die Niere“).

Diabetes mellitus

Bei etwa 8% der deutschen Bevölkerung liegt ein Diabetes mellitus (DM) vor, wobei 90% davon an einem Typ-2-Diabetes mellitus (Typ-2-DM) leiden. Der Typ-1-Diabetes mellitus (Typ-1-DM) ist gekennzeichnet durch einen konsekutiven absoluten Insulinmangel und hat seinen Manifestationsgipfel vornehmlich in der Pubertät und frühen Adoleszenz. Patienten mit Typ-1-DM müssen mehrfach täglich Blutglukoseselbstkontrollen durchführen. Der Typ-2-DM hingegen stellt als Folge einer Insulinresistenz vornehmlich bei Adipositas eine Erkrankung der Lebensmitte dar. Die Behandlung des DM erfordert in jedem Fall ein hohes Maß an Motivation und Selbstmanagement, da die Patienten ihre Therapie im Alltag eigenverantwortlich durchführen.

Bulimia nervosa und Typ-1-Diabetes

Die lebenslange Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln, Gewichtsregulation und körperlicher Aktivität kann letztendlich die Entwicklung einer Essstörung bahnen. So ist die Frage einer überzufällig häufigen Komorbidität von Typ-1-DM und Essstörungen, vor allem der BN, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Bei fast allen Typ-1-Diabetikern beginnt die Essstörung nach der Manifestation der DM, da viele Betroffenen nach der Diagnosenstellung durch Rehydratation und anabole Stoffwechsellage an Gewicht zunehmen und zum Teil ein höheres Gewicht als vor der Manifestation erreichen.³ Ohne das Hormon Insulin, welches dafür sorgt, dass der über die Nahrung aufgenommene Zucker in die Zellen transportiert und dort verwertet wird, kommt es zum Anstieg des Blutzuckers. Ab einer bestimmten Konzentration (Nierenschwelle) werden Blutzuckermoleküle und damit auch Kalorien und Flüssigkeit über die Nieren ausgeschieden („Erbrechen über die Nieren“). Viele Typ-1-Diabetikerinnen sind sich dessen bewusst und fest entschlossen, dünn zu bleiben, sodass sie ihr Insulin vorsätzlich zu niedrig dosieren oder gar komplett weglassen, um nicht zuzunehmen.⁴

In Bezug auf die Pathogenese kann die Essstörung zum einen eine individuelle Antwort auf den Stress einer chronischen Erkrankung mit unangemessenen Bewältigungsstrategien darstellen. Zum anderen kann auch die deutliche Gewichtszunahme nach der Diagnose das labile Selbstwertgefühl begünstigen und somit ein restriktives Essverhalten verstärken. Durch die bewusste Reduktion der Insulindosis („Insulin-Purging“) kann eine drastische Gewichtsabnahme induziert werden.

„Insulin-Purging“

Bei Typ-1-Diabetikerinnen ist „Insulin-Purging“ Ausdruck einer Essstörung oder anderer psychischer Störungen mit weitreichenden Konsequenzen für eine adäquate Behandlung. Die Prävalenz der bewussten Insulinreduktion nimmt mit steigendem Alter zu. Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 9-14 Jahren ist das sog. „Insulin-Purging“ bei nur 2% zu beobachten, bei weiblichen Jugendlichen bei 14% und bei erwachsenen Frauen bei 34%. „Insulin-Purging“ lässt sich ebenso bei nicht essgestörten Mädchen und Frauen mit DM beobachten. Grund dafür könnte eine Krankheitsverleugnung oder Spritzenphobien sein.

Verlauf

Zahlreiche Querschnittuntersuchungen haben nachgewiesen, dass Essstörungen bzw. ein gestörtes Essverhalten eine deutliche Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung zur Folge haben. Ein gestörtes Essverhalten wie „Insulin-Purging“ oder selbstinduziertes Erbrechen gehen oft mit einem hohen Risiko für die Entwicklung einer diabetischen Folgeerkrankung einher.⁵ Viele Patienten mit Diabulimie erkranken an Nierenversagen, erblinden oder erleiden Nierenschäden bis hin zur Amputation⁶ Die Sterberate bei Mädchen mit DM und Essstörung beträgt 35% und ist damit ca. 30% höher als bei Magersüchtigen ohne DM.⁷

Diagnose und Behandlung

Empfohlen wird ein routinemäßiges Screening von gestörtem Essverhalten bei adoleszenten Mädchen und jungen Frauen mit DM als ausgewiesene Risikopopulation. Bislang erwiesen sich psychoedukative Behandlungsansätze als nicht ausreichend. Vor allem bei komorbiden Patientinnen mit AN und DM ist eine stationäre Psychotherapie indiziert. In Bezug auf die BM ist eine fachpsychotherapeutische Behandlung ausreichend. Bei „Insulin-Purging“ ist eine stationäre Psychotherapie in Erwägung zu ziehen, da diese für Typ-1-Diabetiker charakteristische gegenregulatorische Maßnahme in der Regel mit einer schlechten Stoffwechselkontrolle und dem erheblichen Risiko der Entwicklung von diabetischen Folgeerkrankungen einhergeht.⁸

Fazit

Diabulimie beschreibt eine Essstörung, bei der meist junge Frauen mit Typ-1-DM durch Insulinrestriktionen („Insulin-Purging“) versuchen, Gewicht zu verlieren. Typ-1-Diabetiker haben einen absoluten Insulinmangel, d.h., dass der Blutzucker ansteigt und ab einem bestimmten Punkt Kalorien und Flüssigkeit über die Nieren ausgeschieden werden. Indem sie Insulin spritzen, kann der Zucker aufgenommen werden und sie nehmen zu. Mithilfe von „Insulin-Purging“ soll dies verhindert werden. Die Diabulimie ist bis heute eine eher unbekannte Erkrankung, die jedoch für Betroffene lebensgefährlich sein kann. Eine erfolgreiche Therapie muss sowohl die psychischen Konflikte miteinbeziehen als auch den Betroffenen den bewussten Umgang mit DM lehren.⁹


¹ Vgl. Caspar et al. (2018), S. 91

² Vgl. Meermann/Borgart (2006), S. 20

³ Vgl. Herpertz (2015), S. 232

⁴ Vgl. Teufel et al. (2009), S. 1520

⁵ Vgl. Herpertz (2015), S. 232-234

⁶ Vgl. Bikman (2021), S. 94

⁷ Vgl. Teufel et al. (2009), S. 1520

⁸ Vgl. Herpertz (2015), S. 234

⁹ Vgl. Teufel et al. (2009), S. 1520

Literatur

Bikman, B. (2021), Warum wir krank werden, riva.

Caspar, F./Pjanic, I./Westermann, S. (2018), Klinische Psychologie, Springer.

Herpertz, S. (2015), Essstörungen und Diabetes mellitus. In: Herpertz, S./ de Zwaan, M./ Zipfel, S. (Hrsg.), Handbuch Essstörungen und Adipositas, 2. Auflage, Springer, S. 232-234.

Meermann, R./Borgart, E.-J. (2006), Essstörungen: Anorexie und Bulimie. In: Batra, A./Buchkremer, G. (Hrsg.), Störungsspezifische Psychotherapie, Kohlhammer, S. 20.

Teufel, M./ Becker, S./ Martens, U./ Fritsche, A./ Matheis, A./ Zipfel, S. (2009), Von der Angst, den Zucker in die Zelle zu lassen – Fall 05/2009: Komorbidität von Diabetes Mellitus und Essstörungen, DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2009, 134 (30), S. 1520.

Beitragsbild: Pixabay.com, Mitglied Mockʙa, 25.10.2021, URL: https://pixabay.com/de/photos/satellite-express-diabetes-3612851/

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