„Ich […] fühlte mich dick, aufgedunsen, hässlich und nutzlos. Meine Selbstzweifel trieben mich immer weiter in die selbst gewählte Isolation. Die Fragen meiner besorgten Eltern ignorierte ich und meinen Freunden schrieb ich sporadisch, dass ich zur Zeit viel arbeite und kaum Zeit für sie hätte. Ich wollte nicht, dass sie mich in diesem Zustand sehen.“ – Masako Terasawa (31)[1]
Dieses Zitat stammt aus einem Artikel von der Website Sumikai, deren Redaktion mit einem Hikikomori Kontakt aufnehmen konnte und von diesem jungen Mädchen eine Schilderung ihrer Situation erhielt.[2] Doch was genau sind Hikikomori? Und was machst sie so ungewöhnlich?
1998 entdeckte ein japanischer Psychologe namens Tamaki Saito eine merkwürdige Erscheinung bei vornehmlich männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Er stellte fest, dass sie sich freiwillig in ihre Wohnungen oder Zimmer zurückzogen und dabei allen Kontakt zu Freunden vermieden. Saito prägte den Begriff des Hikikomori (引き篭り), dt. sich einschließen, zurückziehen.[3] Dabei bezeichnete er sowohl die Menschen als auch die Störung als Hikikomori.[4] Obwohl dieses Phänomen nun auch in Europa und den USA gefunden wurde[5], ist es sehr schlecht erforscht und wird weder im ICD-10 noch im DSM-V aufgeführt. Die meisten Wissenschaftler ordnen diese Störung der Schizophrenie, Angsterkrankung oder einer Persönlichkeitsstörung zu.[6] Wenn man das Störungsbild betrachtet, ist zu erkennen, wieso diese Störung so unerforscht ist: Die Betroffenen sind kaum von außen zu erreichen.
2. Störungsbild
2003 charakterisierte das japanische Gesundheitsministerium erstmals die Hikikomori und ermöglichte so eine erste Diagnostik der Störung. Sie legten sechs Punkte fest, mit welchen eine Person als Hikikomori identifiziert werden kann:
1.Mindestens sechs Monate Abschottung, bzw. minimaler Kontakt zur Außenwelt.
Dieser Kontakt ist zwangsläufig nötig, um Arzttermine wahrzunehmen oder Einkäufe zu tätigen.
2. Keine Beziehungen außerhalb der Familie.
Die Familie spielt hierbei eine wichtige Rolle, da sie in den meisten Fällen die Störung stützen (näheres hierzu in Abschnitt 3). Meistens wird die Beziehung zur Familie aufrechtzuerhalten, um den Lebensstil finanziell aufrechtzuerhalten.
3. Sozialer Rückzug nicht als Symptom einer anderen psychischen Störung.
Bei manchen Störungen, wie schweren Depressionen oder Schizophrenie kommt es ebenfalls zu einer sozialen Isolation aufgrund der Störung. Damit eine Person als Hikikomori diagnostiziert werden kann, können diese Störungen vorhanden sein, sollten aber nicht der Grund für den sozialen Rückzug darstellen.
4. Keine Teilnahme an Sozialaktivitäten.
5. Der soziale Rückzug wird aus freien Stücken gewählt.
Dieser Punkt soll den Hikikomori vor allem von anderen sozialphobischen Störungen und Persönlichkeitsmerkmalen differenzieren.
6. Selbstbezogenes Verhalten und das Abweisen von Verantwortung.[7]
In unterschiedlichen Studien konnte festgestellt werden, dass neben den Typischen Merkmalen der Hikikomori, auch Symptome andere Störungen auftreten können. Es ist nicht direkt klar, ob die Symptome das Verhalten hervorrufen oder daraus resultieren. Darunter fallen beispielsweise Symptome von Störungen wie sozialer Phobie, Autismus oder schizoider Persönlichkeitsstörung. [8]
„An meinem 28. Geburtstag kam eine Einladung zum Klassentreffen meiner Highschool. Meine beste Freundin Mari konnte es kaum abwarten, nach so vielen Jahren auf ihre Mitschüler zu treffen, aber ich lehnte es ab, mitzukommen. Was sollten die alten Freunde von mir denken? „Die hat nichts gerissen im Leben. Sie ist fast 30 und lebt noch immer aus der Tasche ihres reichen Vaters“. Diese Blöße konnte ich mir nicht geben. Mari würde den Grund nicht verstehen, also ignorierte ich ihre Anrufe und Nachrichten. Auch die von meinen anderen Freundinnen.“ – Masako Terasawa (31)[9]
Diese Darstellung zeigt auf, dass die Betroffenen willentlich alle Beziehungen aufgeben, um bestimmte Situationen zu vermeiden. Aus diesen Gründen wird es für die Betroffenen oftmals auch unmöglich, die Schule oder eine Ausbildung zu absolvieren. [10]
3. Untersuchungen zu Ursachen und Aufkommen
Eine der größten Studien, welche die Hikikomori untersuchte, wurde in Japan durchgeführt und hatte mehr als 3000 Probanden. Diese wurden sowohl über ihr Sozialverhalten als auch ihre psychische Gesundheit befragt. Dabei stellte sich heraus, dass knapp 1,8% der Befragten als Hikikomori identifiziert werden konnten. 41% dieser 1,8% lebten schon mehr als 3 Jahre als Hikikomori. Es wurde herausgefunden, dass der Wohnort der Person keine Rolle dabei spielte. Dies widerlegte die These, dass städtische Regionen die Erkrankung provozieren könnten. Der größte Teil der Erkrankten war männlich. Auch konnte festgestellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit für Selbstverletzung und Suizid bei dieser Störung erhöht ist.[11] Allerdings blieb die Frage stehen, ob die Störung die Symptome bedingt oder anders herum.[12]
Nachdem diese Störung in Japan immer mehr Aufsehen erregte, ergaben sich auch erste Fälle in Europa. Dies sorgte für eine weitere Studie in Barcelona. Bei dieser wurden Hausbesuche von Ärzten im Zeitrahmen von 2008 und 2014 betrachtet, die Merkmale der Hikikomori auf die Patienten angewandten und so konnten 190 Fälle gefunden werden. Das durchschnittliche Alter lag bei 40 Jahren. Auffallend war, dass einige komorbide Erkrankungen gefunden werden konnten. 1/3 der Betroffenen zeigte neben den Merkmalen des Hikikomori auch Depressionen und Angststörungen. Die spanischen Forscher ordneten diese den „affektiv-ängstlichen“ zu. Die anderen 2/3 waren psychotisch oder wiesen Persönlichkeitsstörungen auf. Die Studie lässt darauf schließen, dass Erkrankungen im europäischen Raum eher Folge anderer Störungen sind. Jedoch ist zu beachten, dass die Forschenden aufgrund des Aufbaus der Studie jene Hikikomori ohne Komorbidität nicht erfassen konnten. Die Dunkelziffer war nicht abzuschätzen.[13]
Heute wird davon ausgegangen, dass in Japan knapp 230.000 Personen betroffenen sind. Wobei auch hier von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist.[14] Es konnten verschiedene Merkmale festgestellt werden, welche im Vorfeld der Erkrankung auftreten. Darunter fallen Aspekte wie eine introvertierte Persönlichkeit, fehlendes Selbstbewusstsein, unauffälliges Verhalten und meist gut situierte Familie. Da es sich um eine schwer zu erforschende Störung handelt, konnten, in Bezug auf die Ursachen, bisher nur Theorien ermittelt werden, die sich direkt auf die japanischen Betroffen beziehen. Diese Theorien können daher für Europa nur schwer übernommen werden.[15]
- Kollektivismus in Japan: Die japanische Bevölkerung zeichnet sich durch ein starkes Zugehörigkeits- und Identitätsgefühl aus. Anders als in Europa oder anderen westlichen Ländern steht dort die Gemeinschaft vor dem Individuum. Dies kann zu sozialem Druck bei den Betroffenen führen.[16]
- Schikane und Mobbing: Geht man davon aus, dass ein großer Teil der Betroffenen im Schulalter ist, kann Mobbing und Schikane in der Schule zu sozialem Rückzug und einem geminderten Selbstbewusstsein führen.[17]
- Druck der Leistungsgesellschaft: Bei Japan handelt es sich um eine sehr auf Leistung ausgerichtete Gesellschaft. Ähnlich wie bei Punkt 1, kann es daher zu sehr hohem sozialem Druck kommen.[18]
- Erwartungen der Familie: Neben dem Druck der Gesellschaft kommt oftmals noch Druck der Familie dazu. Auch die Familie ist in Japan sehr auf Leistung aus. Oftmals handelt es sich dabei um den Wunsch der Eltern, nicht schlecht da zu stehen.[19] Darüber berichtet auch Frau Terasawa in ihren Schilderungen: „Eines Tages platzte meinem Vater der Kragen: „Ich habe dich so viele Jahre unterstützt, nun schau, was aus dir geworden ist. Du hast deine Zukunft achtlos weggeworfen und uns enttäuscht. Ich schäme mich vor meinen Freunden […], die ständig fragen, wo du jetzt arbeitest und ob du schon einen geeigneten Ehepartner gefunden hast. Wegen dir verliere ich mein Gesicht. […]“ – Masako Terasawa (31) [20]
- Scheitern eines Entwicklungsschrittes in der Adoleszenz: Dies bezieht sich auf eine fehlgeschlagene Identitätsfindung, was im Rahmen des Erwachsenwerdens zu erheblichen Problemen führen kann.
- Dysfunktionale Familienbeziehungen oder auch der Mangel an interfamiliärer Kommunikation.
- Traumatische Erfahrungen im Kindesalter oder der frühen Jugend. [21]
4. Behandlungsmöglichkeiten und Therapie-Evidenz
„Zwar fällt es mir schwer, über meine Situation zu reden […]. Wer weiß ob mir das irgendwann helfen wird und ob ich meinen Weg gehen kann. Zumindest weiss ich eines: Auf keinen Fall möchte ich einen einsamen Tod sterben, der nur Aufmerksamkeit erregt, weil Nachbarn den Verwesungsgeruch aus meiner Wohnung wahrnehmen […]. Das alleine ist Motivation genug, um Schritt für Schritt aus meiner selbst gewählten Isolation zu entkommen. Ob ich die Kraft dazu habe, wird sich in Zukunft zeigen.“ – Masako Terasawa (31) [22]
Dieses Fazit von Frau Terasawa zu ihrer eignen Situation zeigt, dass Hikikomori durchaus willens sind, ihrer Situation zu entkommen. Da diese Störung allerding schwer zu erforschen ist, sind auch Behandlungsangebote selten. Im Rahmen der zuvor erwähnten spanischen Studie wurden die Betroffenen therapeutisch behandelt. Dabei hatten 42% der Betroffenen Besserung gezeigt.[23] Es wird in den meisten heutigen Fällen eine Verhaltenstherapie, Familientherapie oder psychopharmakologische Therapie angeraten. Die Evidenz der verschiedenen Methoden ist nicht ausreichend untersucht.[24] Aufgrund der fehlenden sozialen Kompetenzen von Hikikomori, wird davon ausgegangen, dass eine Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten und -fähigkeiten den Betroffenen helfen kann.[25] In Japan gibt es mittlerweile viele Hilfs- und Widereingliederungsprogramme sowie Hilfsangebote für Hikikomori.[26]
5. Fazit
Es zeigt sich, dass die Störung zu wenig erforscht ist und daher auch nicht im ICD-10 oder DSM-V aufgelistet ist. Dies führt dazu, dass es kaum bis keine untersuchten Behandlungsangebote gibt. Trotzdem bemüht sich vor allem die japanische Regierung um Besserung für die Betroffenen. Da diese Störung in Europa bisher nicht in dem Ausmaß wie in Japan festgestellt werden konnte, gibt es keine direkten Bezüge.
Fußnoten
[1] Vgl. Shinhan Media (2018)
[2] Vgl. Shinhan Media (2018)
[3] Vgl. Liwinski, T. & Antwerpes, Dr. F.(k.A.)
[4] Vgl. Zeibig, D. (2019)
[5] Vgl. Retzbach, J. (2018)
[6] Vgl. Liwinksi, T. & Antwerpes, Dr. F. (k.A.)
[7] Vgl. Adadie, Y. (2018)
[8] Vgl. Liwinksi, T. & Antwerepes, Dr. F. (k.A.)
[9] Vgl. Shinhan Media (2018)
[10] Vgl. Liwinksi, T. & Antwerepes, Dr. F. (k.A.)
[11] Vgl. Zeibig, D. (2019)
[12] Vgl. Kinder- & Jugendärzte im Netz (2019)
[13] Vgl. Retzbach, J. (2018)
[14] Vgl. Liwinksi, T. & Antwerepes, Dr. F. (k.A.)
[15] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.8
[16] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.26-32
[17] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.45
[18] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.71
[19] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.72
[20] Vgl. Shinhan Media (2018)
[21] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.73
[22] Vgl. Shinhan Media (2018)
[23] Vgl. Retzbach, J. (2018)
[24] Vgl. Liwinski, T. & Antwerpes, Dr. F. (k.A.)
[25] Vgl. Kinder- & Jugendärzte im Netz (2019)
[26] Vgl. Adadie, Y. (2018) S.79
Literatur- und Quellenverzeichnis
Zeibig, D. (2019): Warum sich manchen Menschen zu Hause einigeln. Aus Spektrum Psychologie Ausgabe 05.19. S.7
Retzbach, J. (18.06.2018): Das „Hikikomoro“-Syndrom in Europa. Hrsg. Sepktrum.de Zugriff 21.09.19 12.30 Uhr
https://www.spektrum.de/news/das-hikikomori-syndrom-in-europa/1568918
Kinder- & Jugendärzte im Netz (2019): „Hikikomori“ – warum isolieren sich manche Teenager monatelang selbst? Hrsg. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. Zugriff 24.09.19 um 11.20 Uhr
Liwinski, T. & Antwerpes, Dr. F. (k.A.): Hikikomori. Hrsg. DocCheck Flexikon. Zugriff 24.09.19 10.45 Uhr.
https://flexikon.doccheck.com/de/Hikikomori
Asadie, Y. (2018): Hikikomori als kulturspezifisches Phänomen japanischer Familien. Masterthesis im Weiterbildungsstudiengang Angewandte Familienwissenschaften. Hochschule für Angewandte Wissenschaft Hamburg Fakultät Wirtschaft und soziales.
http://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2018/4327/pdf/Asadie_Yasmin_MA_2018_07_11.pdf
Shinhan Media (15.08.2018): Gesellschaftliche Isolation – Mein Leben als Hikikomori.
Titelbild – Quelle
https://pixabay.com/de/photos/menschen-mann-st%C3%A4dtischen-stadt-2590616/