Wie und warum ist der Mensch so wie er ist? Mit dieser Frage befasst sich die Psychoanalyse seit Beginn des 20. Jahrhundert.[1]
Die psychoanalytisch-orientierte Modellbeschreibung der menschlichen Entwicklung stützt sich mittlerweile auf vier maßgebliche Theorien[2], wobei im Folgenden auf die psychosexuelle Entwicklungstheorie von Sigmund Freud exemplarisch eingegangen wird. Abschließend kommt es zu einer kritischen Betrachtung des dargestellten Ansatzes sowie zu einer Einordnung in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion.
Die psychosexuelle Entwicklungstheorie von Sigmund Freud
Nach Freud besteht die menschliche Psyche aus drei Instanzen: dem Es, dem Über-Ich und dem Ich.[3]
Das Es als größter Teil der menschlichen Persönlichkeit, repräsentiert die Triebe sowie die sexuellen und aggressiven Bedürfnisse, die nach Befriedigung drängen. Sie treiben den Menschen an, müssen jedoch auch kontrolliert werden.[4]
Das Über-Ich vertritt die ethisch-moralischen Vorstellungen und Regeln der Familie und Gesellschaft. Es bildet sich im Sozialisierungsprozess durch die Erziehung aus und umfasst auch positive Leitbilder wie das Ich-Ideal. Es ist damit das Gegengewicht des nach Befriedigung drängenden Es.[5]
Das Ich als Ort des Realitätsprinzips[6] ist die intrapsychisch vermittelnde Instanz zwischen den Forderungen des Es und dem Über-Ich. Zudem übt es die Kontrolle über beide Instanzen aus und gestaltet den Kontakt zur Außenwelt. Damit ist das Ich das eigentliche Anpassungsorgan, mit dem der Mensch abwägt, ob und in welchem Umfang er seine Triebe befriedigen kann, ohne in gesellschaftliche Konflikte zu geraten.[7]
Seine psychosexuelle Entwicklungstheorie baut Freud auf verschiedene Phasen auf, die während der Kindheit durchlebt werden müssen. Dabei ist für jede Phase eine andere erogene Körperstelle bedeutsam. Erogene Körperstellen sind nach Freud jene, welche besonders sensibel und empfänglich auf Berührungsreize reagieren.[8] Die zentrale Entwicklungsaufgabe besteht darin, eine tragfähige Form der Konfliktbewältigung für den Konflikt zwischen Es und Über-Ich zu finden.[9] Wird der Konflikt einer Entwicklungsphase nicht bewältigt, kommt es zur Fixierung des Konflikts und einer Regression auf die vorherrschende Thematik dieser Phase.[10]
Die fünf Entwicklungsphasen
Die erste Phase nach Freud ist die orale Phase, welche das erste Lebensjahr andauert. In dieser Phase bezieht der Säugling seinen Lustgewinn über die erogene Zone des Mundes durch Nuckeln, Schlucken und Saugen besonders im Zuge der Nahrungsaufnahme an der mütterlichen Brust oder Flasche sowie später auch essen.[11] Werden diese Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt oder kontrolliert, können sich oralzentrierte Verhaltensweisen entwickeln, wie Nägelkauen, übermäßiges Essen oder Rauchen.[12]
Als zweite Entwicklungsphase postuliert Freud die anale Phase vom 1. bis zum 3. Lebensjahr, in welcher die Analregion die erogene Zone ist und der Ausscheidungsprozess[13] im Zentrum steht. Beginnen die Eltern zu früh mit der Sauberkeitserziehung, bevor das Kind dazu bereit ist, oder stellen auf der anderen Seite zu niedrige Anforderungen an das Kind, können Konflikte entstehen, die sich um Reinlichkeit, Ordnung und Unordnung drehen.[14]
Die phallische Phase ist nach Freud die dritte psychosexuelle Entwicklungsphase und erstreckt sich vom 3. bis zum 6. Lebensjahr. Die Geschlechtsorgane sind die erogene Zone und das Bewusstsein für das eigene Geschlecht und den Unterschied zwischen den Geschlechtern entsteht. In diese Phase verortet Freud den Ödipuskomplex bei Jungen und den Elektrakomplex bei Mädchen.[15] Sigmund Freud beschreibt damit seine Annahme, dass das Kind dem gegengeschlechtlichen Elternteil sexuelle Gefühle entgegenbringt und sich so in Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um die Liebe des gegengeschlechtlichen Elternteils befindet.[16] Macht das Kind die Erfahrung, dass das gleichgeschlechtlichen Elternteil stärker ist als es selbst, gibt es seinen Wunsch auf, seinen Rivalen zu verdrängen und es kommt im Folgenden zu einer Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, um über die so hergestellte Ähnlichkeit die Liebe des gegengeschlechtlichen Elternteils zu erfahren und Bestrafung zu vermeiden.[17] War in den beiden Phasen zuvor das Es vorherrschend, so kommt es durch die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und dessen Werten zur Ausbildung des Über-Ichs.[18] Aus psychoanalytischer Sicht ist diese Phase mit der Triangulierung verbunden, da das bisher egozentristisch denkende Kind erfährt, dass die eigene Person nicht im Zentrum jeder Beziehung steht, sondern die Beziehung zwischen zwei Personen auch durch eine dritte Person gestaltet werden kann.[19]
Die vierte Entwicklungsphase nennt Freud die Latenzphase und sie erstreckt sich vom 6. bis 11. Lebensjahr. Hier steht keine erogene Zone im Mittelpunkt, sondern es kommt zu einer Zunahme der intellektuellen Wissbegier, welche als Umlenkung der Es-Energie dient.[20]
Die genitale Phase erstreckt sich vom 11. bis zum 19. Lebensjahr und ist die letzte Entwicklungsphase in Freuds Modell. Es werden die sexuellen Triebe der phallischen Phase aktualisiert, wobei auch hier die Geschlechtsorgane die erogene Zone darstellen.[21] Das in der Latenzphase vorherrschende Gleichgewicht zwischen Es, Über-Ich und Ich wird durch den verstärkten Triebimpuls des Es aus dem Gleichgewicht gebracht. Da die Eltern aufgrund der erfolgreich durchlaufenen phallischen Phase nicht mehr als Triebobjekt zur Verfügung stehen, muss ein außerfamiliäres Triebobjekt gefunden werden. Die Ablösung von den Eltern, sowie die Kontrolle der neuen Triebimpulse stehen als Entwicklungsaufgaben hier im Mittelpunkt mit dem Ziel einer reifen Balancierung zwischen Es, Ich und Über-Ich.[22]
Kritik und Einordnung
Freud hat seine Theorie anhand von Rekonstruktionen kindlicher Konflikte seiner klinischen Fälle entwickelt. Kritisiert wird an diesem Vorgehen, dass keine eigenen systematischen Beobachtungen stattgefunden haben. Auch fällt es Erwachsenen aufgrund der kindlichen Amnesie schwer, sich an Ereignisse vor dem dritten Lebensjahr zu erinnern. Eine Rekonstruktion der in diesem Zeitraum liegenden kindlichen Konflikte sowie die Herstellung eines Zusammenhangs zur gegenwärtigen psychischen Verfassung ist nur beschränkt möglich.[23] Ferner wird kritisiert, dass Freud in seiner Entwicklungstheorie die sexuellen und aggressiven Motive überbetont und andere Motive wie Neugier oder das Streben nach Kompetenz zu wenig berücksichtigt werden.[24]
Auch wenn die Kritikpunkte berechtigt sind, so hat Freud mit psychosexuellen Entwicklungstheorie den zentralen Stellenwert der kindlichen Entwicklung für die Ausbildung der Persönlichkeit sowie den Einfluss der frühen Eltern-Kind-Beziehung erkannt und herausgearbeitet.[25]
Mittlerweile rückt die systematische Forschung immer mehr in den Blickpunkt der Psychoanalyse, allerdings nicht ohne, dass es zur Diskussion über den Wert und die Bedeutung in Abgrenzung zur klinischen Forschung kommt.[26] Die nachfolgende Generation der Psychoanalytiker wie u.a. Erik Erikson erweiterte das Entwicklungsmodell auf die Entwicklungsphasen im Erwachsenenalter und konzentrierte sich auf die psychosozialen Konflikte bzw. Lebensaufgaben einer Entwicklungsphase. Er betont dabei auch, dass eine gesunde Entwicklung im Kontext der vorherrschenden kulturellen Lebensbedingung verstanden werden muss.[27] Mittlerweile gilt in der Psychoanalyse die Überbetonung der sexuellen Triebe für die kindliche Entwicklung als überholt.[28] Vielmehr werden auch andere Faktoren, wie „die Aktivität, die soziale Vorangepasstheit, der Einfluss genetischer Faktoren, die Bedeutung der Affekte und das transaktionale Entwicklungsmodell“[29] als für die (kindliche) Entwicklung relevant angesehen.
[1] Berk, 2019, S. 18.
[2] Die psychosexuelle Entwicklungstheorie von Sigmund Freud, die Theorie menschlicher Entwicklung von Erik Erikson, den individuationstheoretischen Zugang von Margaret Mahler, die Theorie des Selbst von Heinz Kohut vgl. (Berk, 2019, S. 18)
[3] Greve & Thomsen, 2019, S. 32.
[4] Berk, 2019, S. 18.
[5] List, 2014, S. 118.
[6] Müller-Pozzi, 2009, S. 70.
[7] Quindeau, 2008, S. 41.
[8] Cizek, Kapella, & Steck, 2005, S. 7.
[9] Stork, 2018, S. 41.
[10] Stork, 2018, S. 85.
[11] Greve & Thomsen, 2019, S. 32.
[12] Berk, 2019, S. 19.
[13] Das Zurückhalten oder Ausscheiden von Urin und Kot.
[14] Greve & Thomsen, 2019, S. 33.
[15] Berk, 2019, S. 19.
[16] Stork, 2018, S. 33.
[17] Zepf, Zepf, Ullrich, & Seel, 2014, S. 74.
[18] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 15.
[19] Stork, 2018, S. 34.
[20] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 15.
[21] Berk, 2019, S. 19.
[22] Rothgang & Bach, 2015, S. 86
[23] Dornes, 1999, S. 74.
[24] Asendorpf & Neyer, 2012, S. 10.
[25] Lohaus & Vierhaus, 2019, S. 18.
[26] Sandell, 2012, S. 165.
[27] Berk, 2019, S. 20.
[28] Dornes, 1999, S. 76.
[29] Schüssler & Bertl-Schüssler, 1992, S. 101
Literaturverzeichnis
Asendorpf, J., & Neyer, F. J. (2012). Psychologie der Persönlichkeit : mit 110 Tabellen. Berlin Heidelberg: Springer.
Berk, L. E. (2019). Entwicklungspsychologie. München: Pearson Studium.
Boeger, A. (2009). Psychologische Therapie- und Beratungskonzepte: Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.
Cizek, B., Kapella, O., & Steck, M. (2005). Entwicklungstheorie I. Wien: Österreichisches Institut für Familienforschung.
Dornes, M. (1999). Von Freud zu Stern: Klinische und anthropologische Implikationen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie. Psychotherapeut, S. 74–82.
Greve, W., & Thomsen, T. (2019). Entwicklungspsychologie Eine Einführung in die Erklärung menschlicher Entwicklung. Wiesbadem: Springer.
List, E. (2014). Psychoanalyse : Geschichte, Theorien, Anwendungen. Stuttgart: UTB.
Lohaus, A., & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Berlin, Heidelberg: Springer.
Müller-Pozzi, H. (2009). Psychoanalytisches Denken – Eine Einführung. Bern: Hans Huber.
Quindeau, I. (2008). Psychoanalyse. Stuttgart: UTB.
Rothgang, G.-W., & Bach, J. (2015). Entwicklungspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Sandell, R. (2012). Über den Wert des doppelten Blicks. Forum Psychoanalyse, S. 165–178.
Schüssler, G., & Bertl-Schüssler, A. (1992). Neue Ansätze zur Revision der psychoanalytischen Entwicklungstheorie: II. Das Konzept von J. D. Lichtenberg und Grundsätze einer neuen psychoanalytischen Entwicklungstheorie . Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, S. 101-114.
Stork, T. (2018). Psychoanalyse nach Sigmund Freud. Stuttgart: Kohlhammer.
Zepf, S., Zepf, F. D., Ullrich, B., & Seel, D. (2014). Ödipus und der Ödipuskomplex : Eine Revision. Gießen: Psychosozial-Verlag.
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