„Die Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“ (Pablo Picasso)
Dieses Zitat von Pablo Picasso trifft den Kern dessen, was viele von uns beim Betrachten oder Schaffen von Kunst empfinden. Es ist diese befreiende Wirkung der Kunst, die uns kurz die Sorgen und den Stress des Alltags vergessen lässt und in eine Welt der Kreativität und Inspiration entführt. Aber was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten oder selbst künstlerisch tätig werden? Warum hat Kunst eine so starke und heilende Wirkung auf uns?
In diesem Beitrag tauchen wir in die Welt der Neurowissenschaften ein und erkunden, wie Kunst unser Gehirn beeinflusst. Von der visuellen Verarbeitung über emotionale Reaktionen bis hin zu den tiefgreifenden Veränderungen in unseren neuronalen Netzwerken – die Verbindung zwischen Kunst und Gehirn ist ebenso komplex wie faszinierend.
Visuelle Verarbeitung und Neuroästhetik
Unser visuelles System spielt eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung und Bewertung von Kunst. Etwa 80 % der Sinneseindrücke eines Menschen basieren auf visuellen Reizen, und unser Gehirn hat mehr Bereiche für die Verarbeitung visueller Informationen vorgesehen als für andere Sinne. Der visuelle Kortex, der sich im Okzipitallappen befindet, ist für die Verarbeitung dieser Informationen verantwortlich. Die Wahrnehmung eines Kunstwerks beginnt mit der Aufnahme von Licht durch das Auge, das dann durch den Sehnerv an den visuellen Kortex weitergeleitet wird (Rastogi et al., 2022, S. 139- 149). Mithilfe moderner bildgebender Verfahren untersucht das Forschungsfeld der Neuroästhetik, wie das Gehirn auf ästhetische Erlebnisse und das Erschaffen von „Schönheit“ reagiert. Dieses Fachgebiet nutzt das Konzept der ästhetischen Triade, das aus drei neuronalen Systemen besteht. Das sensorisch-motorische System wird aktiviert, wenn wir etwas betrachten oder Bewegung in Bildern sehen. Das Emotions-Bewertungssystem entscheidet, ob wir die ästhetische Erfahrung als angenehm empfinden, während das Bedeutungs-Wissens-System unsere aktuelle Erfahrung mit früherem Wissen und Erlebnissen verknüpft (Rastogi et al., 2022, S. 147).
Emotionale und kognitive Reaktionen
Wenn wir Kunst auf uns Wirken lassen, kann dies starke emotionale Reaktionen hervorrufen, die durch die Aktivierung des limbischen Systems, einschließlich der Amygdala und des Hippocampus, vermittelt werden. Diese Hirnregionen sind für die Verarbeitung von Emotionen und Erinnerungen zuständig. Studien haben gezeigt, dass das Betrachten von Kunstwerken ähnliche Hirnregionen aktiviert wie das Erleben von realen Emotionen, was die tiefe Verbindung zwischen Kunst und emotionaler Erfahrung unterstreicht (Rastogi et al., 2022, S. 135-137). Und auch selbst künstlerisch tätig zu werden erfordert wiederum eine hohe Beteiligung verschiedener kognitiver Prozesse. Beim Malen oder Zeichnen muss der Künstler verschiedene Möglichkeiten visualisieren, Informationen aus visuellen und emotionalen Bereichen integrieren und diese Informationen in das Werk einfließen lassen. Diese Prozesse fordern und fördern die exekutiven Funktionen des Gehirns, die für die Planung, Entscheidungsfindung und Selbstüberwachung zuständig sind (Yu et al., 2021, S. 79-87).
Synaptische Plastizität und Kreativität
Obwohl das menschliche Gehirn nach der frühen Kindheit nur in wenigen Hirnregionen neue Neuronen bildet, bleibt es durch Neuroplastizität bemerkenswert anpassungsfähig. Neuroplastizität beschreibt, wie sich Verbindungen zwischen Neuronen durch Aktivität und Erfahrung verändern. Diese Fähigkeit ist entscheidend für unser Lernen, Gedächtnis und die Heilung nach Verletzungen (Innocenti, 2022, S.4-12). Ein Aspekt dessen ist die synaptische Plastizität. Sie beschreibt die Veränderung der Stärke von Synapsen, die durch wiederholte Nutzung verstärkt oder durch Inaktivität geschwächt werden. Diese dynamische Anpassungsfähigkeit ist grundlegend für die kontinuierliche Anpassung unseres Gehirns. Kreative Aktivitäten fördern neue, gesunde neuronale Verbindungen und beeinflussen das Gehirn so positiv.Wiederholte Aktivitäten formen und festigen die neuronalen Netzwerke. Kunsttherapie nutzt diese Prinzipien, um psychologische Veränderungen zu fördern (Rastogi et al., 2022, S. 131-134). Der Ansatz der Art Therapy Relational Neuroscience (ATR-N) integriert diese neuronale Wissen mit der Praxis der Kunsttherapie und zielt darauf ab, negative zwischenmenschliche Verbindungen durch positive zu ersetzen. Dies wird durch kreative Verkörperung, relationale Resonanz, ausdrucksstarkes Kommunizieren und empathisches Mitgefühl erreicht (Hass-Cohen & Findlay, 2015).
Therapeutische Anwendungen
Die Kunsttherapie hat sich als wirksam bei der Behandlung verschiedener neurologischer und psychologischer Störungen erwiesen. So untersuchte eine Studie die Wirkung von Kunsttherapie auf Parkinson-Patienten. Die Ergebnisse zeigten, dass Kunsttherapie die visuell-perzeptiven Fähigkeiten und die Augenbewegungen der Patienten verbessern kann, was auf eine erhöhte funktionelle Konnektivität im Gehirn hinweist (Cucca et al., 2021). Ein weiteres interessantes Anwendungsgebiet der Kunsttherapie ist die Behandlung von altersbedingtem kognitiven Verfall. Eine Studie von Yu et al. (2021) zeigte, dass Kunsttherapie bei älteren Erwachsenen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung zu Verbesserungen im Arbeitsgedächtnis und in der unmittelbaren Erinnerung führte. Diese kognitiven Gewinne wurden von strukturellen Veränderungen im präfrontalen Kortex begleitet, einem Bereich, der für komplexe kognitive Prozesse zuständig ist. Die langfristige kognitive Stimulation durch regelmäßige Kunsttherapie-Sitzungen kann somit dazu beitragen, den kognitiven Verfall zu verzögern und die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern. Neben den kognitiven Vorteilen hat Kunst auch positive Auswirkungen auf die emotionale Gesundheit. Kunsttherapie wird zudem erfolgreich eingesetzt, um Stress abzubauen, Angstzustände zu lindern und das emotionale Wohlbefinden zu verbessern. So kann Kunst tatsächlich auch unsere Stresshormone beeinflussen. Das Stresshormon Cortisol, das im Blut und Speichel vorkommt, wird vom Gehirn reguliert und dient als objektives Maß für das Stressniveau. Eine Studie von Beerse et al. (2020) verglich die Effekte einer achtsamkeitsbasierten Kunsttherapie (MBAT) mit einer neutralen Knetaufgabe (NCT). Über fünf Wochen zeigte sich, dass beide Gruppen einen Rückgang des Speichelcortisolspiegels verzeichneten. Jedoch wiesen nur die Teilnehmer der MBAT eine signifikante Verringerung der generalisierten Angst und des wahrgenommenen Stresses auf.
Zukunftsperspektiven
Die Integration von Neurowissenschaft und Kunsttherapie verspricht, das Verständnis und die Wirksamkeit von kunsttherapeutischen Interventionen weiter zu vertiefen. Neue Technologien wie mobile Gehirn-/Körperbildgebung (MoBI) ermöglichen es, die Auswirkungen von Kunsttherapie auf das Gehirn in Echtzeit zu messen und die therapeutischen Ansätze in den Bereichen Kunsttherapie, Neurowissenschaften und Neuroästhetik weiter zu verfeinern (King & Parada, 2021).
Fazit
Kunst ist mehr als nur eine Form der Selbstexpression; sie ist ein kraftvolles Werkzeug zur Förderung des Gehirns. Von der Verbesserung kognitiver Fähigkeiten über die Förderung der neuronalen Plastizität bis hin zur Unterstützung der emotionalen Gesundheit bietet Kunst vielfältige Vorteile. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung von Kunst in der Therapie und im täglichen Leben als Mittel zur Förderung des geistigen Wohlbefindens und der kognitiven Gesundheit. Die Zukunft der Kunsttherapie liegt in der Integration von Neurowissenschaften und neuen Technologien. Diese Entwicklungen versprechen, das Verständnis und die Wirksamkeit von kunsttherapeutischen Interventionen zu vertiefen und den therapeutischen Nutzen der Kunst weiter auszubauen. Kunst bleibt somit nicht nur eine Quelle der Inspiration, sondern auch ein mächtiges Mittel zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens.
Literatur
Beerse, M. E., Van Lith, T., & Stanwood, G. (2020). Therapeutic psychological and biological responses to mindfulness‐based art therapy. Stress and Health, 36(4), 419–432. https://doi.org/10.1002/smi.2937
Cucca, A., Di Rocco, A., Acosta, I., Beheshti, M., Berberian, M., Bertisch, H. C., et al. (2021). Art therapy for Parkinson’s disease. Parkinsonism & Related Disorders, 84, 148–154. https://doi.org/10.1016/j.parkreldis.2021.01.013 .
Hass-Cohen, N., & Findlay, L. J. (2015). Art therapy & the neuroscience of relationships, creativity & resiliency: Skills an practices. WW Norton & Company.
Innocenti, G. M. (2022). Defining neuroplasticity. In Handbook of clinical neurology (S. 3-18). https://doi.org/10.1016/b978-0-12-819410-2.00001-1
King, JL. & Parada, FJ. (2021). Using mobile brain/body imaging to advance research in arts, health, and related therapeutics. Neurosci. 2021; 54: 8364–8380.
https://doi.org/10.1111/ejn.15313
Rastogi, M., Strang, C., Vilinsky, I. & Holland, K. (2022). Intersections of neuroscience and art therapy. In Elsevier eBooks (S. 123–158). https://doi.org/10.1016/b978-0-12-824308-4.00014-4
Yu, J., et al. (2021). The art of remediating age-related cognitive decline: Art therapy enhances cognition and increases cortical thickness in mild cognitive impairment. Journal of the International Neuropsychological Society, 27(1), 79-88. https://doi.org/10.1017/S1355617720000697
Titelbildquelle
Foto von Jean Carlo Eier (2019) auf Unsplash. Abgerufen am 13.08.2024. https://unsplash.com/de/fotos/zwei-personen-die-neben-vincent-van-gogh-selbstportrat-mit-verbundenem-ohr-stehen-VRRkH-bSRmM