Das Platzen der „Dot-Com-Blase“ um die Jahrtausendwende und der „Nine-Eleven“-Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 ließen den deutschen Aktienmarkt (DAX-30) um 72% abstürzen. Anfang dieses Jahres kam es infolge der Coronakrise sogar zu einem noch steileren Absturz von 40% innerhalb von lediglich vier Wochen – der schnellste Rückgang dieser Größenordnung in der Geschichte des Leitindexes des deutschen Aktienmarktes. Nach dem jüngsten Crash kam es in dem kurzen Zeitraum zwischen Mitte März und dem Zeitpunkt dieses Artikels wiederum zu einem Kursanstieg von 60%.[1]
Ist der Wert des deutschen Aktienmarktes innerhalb von vier Monaten wirklich um 60% gestiegen? Oder hat die Börse vielleicht einfach „verrückt gespielt“? Fragen wie diese deuten möglicherweise darauf hin, dass die traditionelle Finanztheorie manchmal keine zufriedenstellenden Antworten liefert. Der vorliegende Artikel wird daher versuchen ansatzweise darzulegen, inwiefern die Psychologie bzw. die darauf gründende verhaltensorientierte Kapitalmarktforschung („Behavioral Finance“) einen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Kapitalmarktes leisten kann.
Traditional Finance und Behavioral Finance
Während die traditionelle Finanztheorie sich vor allem damit befasst, wie rationale Marktteilnehmer sich verhalten sollten, versucht der Behavioral-Finance-Ansatz das Augenmerk darauf zu lenken, wie Marktteilnehmer sich tatsächlich verhalten. Die traditionelle Finanzierungslehre ist also tendenziell theoriegeleitet, während die verhaltensorientierte Sichtweise tendenziell praxisgeleitet ist.[2]
Die traditionelle Finanzierungstheorie fußt auf der mikroökonomischen Theorie des menschlichen Entscheidungsverhaltens unter Unsicherheit.[3] Der von der klassischen Ökonomie postulierte „Homo Oeconomicus“ wird konzipiert als risikoscheu, rein eigennützig handelnd und nutzenmaximierend orientiert. Ein auf diesen Annahmen basierendes Verhalten wird als rational betrachtet und (Aktien-)Märkte, deren Teilnehmer sich dementsprechend verhalten und deren Aktienkurse alle vorhandenen Informationen berücksichtigen, gelten als effizient.[4] Ob man eine Rendite von 60% innerhalb von vier Monaten[5], wie sie sich im aktuellen Jahr in Deutschland ergeben hat (zumal an einem großen Markt mit hauptsächlich professionellen Akteuren), als das Ergebnis rational agierender Investoren und effizienter Märkte betrachten will, kann, auch bei Berücksichtigung der neuen fundamentalen Informationen, die sich während dieses Zeitraumes ergeben haben, wohl in Frage gestellt werden.
Behavioral Finance zweifelt diverse der oben genannten traditionellen Annahmen an; so wird statt vollständiger Rationalität eine eingeschränkte Rationalität unterstellt, d.h., es wird weiterhin von rationalen Entscheidungen ausgegangen, aber auch davon, dass diese durch begrenztes Wissen, begrenzte Information sowie begrenzte intellektuelle Fähigkeiten der Entscheider limitiert sind.[6] Wenn wir also davon ausgehen, dass die Anleger, die die oben beschriebenen Börsencrashs und -Erholungen ausgelöst haben, nicht notwendigerweise rational gehandelt und nicht über perfekte Informationen verfügt haben, wäre dies eine erste grobe mögliche Erklärung für die beobachtete Entwicklung der Aktienkurse.
Eine weitere mögliche psychologische Erklärung für die einleitend genannten Börsencrashs könnte darin bestehen, dass die Investoren schlichtweg überreagiert haben; im ersten Fall auf enttäuschte „Dot-Com-Hoffnungen“ sowie auf den Terroranschlag, im zweiten Fall auf den Corona-bedingten Lockdown. Laut der vielbeachteten Studie von De Bondt & Thaler (1985) „Does the Stock Market Overreact?“ zeigt der Aktienmarkt in der Tat eine Überreaktion auf unerwartete dramatische Nachrichten[7], was in der Tendenz eine gewisse empirische Untermauerung für obige Möglichkeit zu geben scheint. Die rasante Erholung nach dem Corona-Crash könnte hierdurch indirekt ebenfalls erklärt werden: Nach der irrationalen Überreaktion folgte eine (rationale) Korrektur.
Neben seiner Kritik an den traditionellen Annahmen hat das Behavioral Finance (bzw. die Verhaltensökonomik generell) auch eine Vielzahl an „cognitive biases“, zu Deutsch „Denkfehler“, entdeckt, die ebenfalls Erklärungsansätze für manche Kapitalmarktanomalien bieten. Beispiele hierfür sind der Survivorship-Bias, der Overconfidence-Effekt oder das Anchoring.[8]
Unter Survivorship-Bias ist zu verstehen, dass wir häufig nur die überlebenden Mitglieder einer Population betrachten und nicht bemerken, dass einige Mitglieder der ursprünglichen Population es gar nicht so weit gebracht haben, dass wir sie im Betrachtungszeitpunkt noch berücksichtigen würden. Wenn zum Beispiel ein Investor Ende des laufenden Jahres die historische Wertentwicklung der dann existierenden 30 Einzelwerte des DAX analysiert und diesen Wert als Schätzwert für die zukünftige Entwicklung verwendet, dann ist er dem Survivorship Bias anheimgefallen, denn die schlechte Performance der Wirecard-Aktie (die nach einem fast vollständigen Totalverlust voraussichtlich in den nächsten Wochen aus dem DAX-30 ausgeschlossen wird) ist ihm entgangen, da diese nicht mehr Teil der dann existierenden Population ist. Die tatsächliche auf historischen Renditen basierende für die Zukunft erwartete Rendite sollte also geringer sein, als die in diesem Beispiel ermittelte.
Der Overconfidence-Effekt besagt, dass Menschen ihr Urteilsvermögen als besser einschätzen, als es tatsächlich ist[9] und Anchoring schließlich bedeutet, dass eine bestimmte Information aus der Gesamtmenge an Informationen einen größeren Einfluss auf die Entscheidungsfindung hat, als es gerechtfertigt wäre.[10] Ein Beispiel hierfür ist der in der Preisverhandlung beim Gebrauchtwagenkauf erstgenannte Preis. Er „verankert“ die Erwartungen beider Seiten und hat gegebenenfalls einen größeren Einfluss auf die finale Preisfindung, als objektiv gerechtfertigt wäre. Daher ist es bei Verhandlungen oft sinnvoll, selbst den ersten Vorschlag zu machen.
Fazit
Die heute als „traditionell“ bezeichnete Finanztheorie, die sich ungefähr seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts[11] gebildet hat und ihr Gebiet von einer tendenziell narrativen Betrachtung auf ein wissenschaftlich-mathematisches Niveau gehoben hat, hat zahlreiche Erkenntnisse hervorgebracht, aber sie scheint die Entwicklung der Finanzmärkte nicht immer zufriedenstellend erklären zu können. Auch ist es möglich, dass Wirtschaftswissenschaftler tendenziell eine formal-mathematische Prägung haben und andere Erkenntnismöglichkeiten, darunter auch psychologische, nicht immer ausreichend in Betracht ziehen. Wie versucht wurde aufzuzeigen, kann Behavioral Finance unser Verständnis für Kapitalmarktanomalien verbessern – eine geschlossene Theorie zur quantifizierbaren Erklärung mancher Schwankungen an den Börsen kann es aber bisher nicht liefern. Möglicherweise wird dies auch niemals möglich sein, da menschliches Verhalten von Erwartungen abhängig ist und seinem Wesen nach nicht vollständig vorausgesagt werden kann. Vielleicht wird es also auch in Zukunft auf der einen Seite nur ein quantifizierbares, aber teilweise unrealistisches traditionelles Theoriegebäude geben und auf der anderen Seite eine Ansammlung von realistischeren Heuristiken, die aber keine geschlossene Theorie ergeben.
Nichtsdestotrotz sind die Fortschritte des Behavioral Finance vielversprechend. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Merton Miller sagte in einer Rede vor der German Finance Association, dass man das Feld des Behavioral Finance besser den Psychologen überlassen sollte[12] – und ich finde, diese Aufforderung sollten wir Psychologen annehmen und nutzen!
[1] Berechnungen zum deutschen Aktienmarkt in diesem Artikel sind eigene des Autors, basierend auf dem deutschen Leitindex DAX-30.
[2] Vgl. Pompian (2015), S. 5
[3] Vgl. Taylor (2012)
[4] Vgl. Pompian (2015), S. 7
[5] Die durchschnittliche Rendite des DAX-30 für einen Viermonatszeitraum beträgt ca. 2,3%.
[6] Vgl. Pompian (2015), S. 15
[7] Vgl. De Bondt/Thaler (1985)
[8] Eine lesenswerte Übersicht von 52 solcher Denkfehler findet sich in Rolf Dobellis Bestseller „Die Kunst des klaren Denkens“, vgl. Dobelli (2011).
[9] Vgl. Anderson/Nowak (2013), S. 31
[10] Vgl. Anderson/Nowak (2013), S. 32
[11] Der Beginn der traditionellen Finanztheorie kann auf Harry Markowitz‘ Theorie der Portfolioselektion, veröffentlicht 1952, gelegt werden.
[12] Vgl. Miller (2003), S. 9. Im Original: „(…) I would argue (…) behavioral finance is best left to the psychologists.”
Literatur:
Anderson, J. V./Nowak, A. (2013), An Introduction to Socio-Finance, 1. Aufl., Berlin Heidelberg: Springer.
De Bondt, W. F. M./Thaler, R. (1985), Does the Stock Market Overreact?, The Journal of Finance, Jg. 40, Nr. 3, S. 793-805.
Dobelli, R. (2011), Die Kunst des klaren Denkens – 52 Denkfehler die Sie besser anderen überlassen, 1. Aufl., München: Hanser.
Miller, M. H. (2003), The History of Finance: An Eyewitness Account. In: Stern, J. M./Chew, D. H. (Hrsg.), The Revolution in Corporate Finance, 4. Aufl., Malden Oxford Carlton: Blackwell, S. 3-9.
Pompian, M. M. (2015), The Bahavioral Finance Perspective. In: CFA Institute (Hrsg.), Behavioral Finance, Individual Investors, and Institutional Investors, o. Aufl. (Ausgabe 2015), o. Ort: Wiley, S. 5-44.
Taylor, S. (2012), The basic microeconomics of finance, https://www.simontaylorsblog.com/2012/06/06/the-basic-microeconomics-of-finance/, abgerufen am 23.07.2020.
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