Die Rede von Reshma Saujani vor der Abschlussklasse der Absolventinnen des Smith College 2023, dem größten Frauencollege der USA, ging in den sozialen Medien viral. In dieser kritisiert die bekannte Autorin, Aktivistin und Anwältin den gesellschaftlich etablierten Selbstoptimierungsauftrag an Frauen, die oftmals von erheblichen Selbstzweifeln in Beruf und Familie getrieben sind.[1] Diese Gefühle, sich trotz Erfolge, permanent als Betrüger oder Hochstapler zu fühlen und zu fürchten, dass man jederzeit entlarvt werden könnte, sind nicht nur ein Produkt individueller Selbstzweifel, sondern basieren auch auf sozial-strukturellen Faktoren, die die Position von Frauen in der Gesellschaft häufig untergraben.
In diesem Blogbeitrag wird das sog. Imposter-Syndrom erklärt, um dann auf spezifische gesellschaftliche Ursachen einzugehen, die dazu beitragen, dieses insbesondere bei Frauen zu verstärken, auch wenn Studien gezeigt haben, dass die Symptome auch Männer betreffen können. Frauen lenken auch nach 60 Jahren Emanzipationsbewegung oftmals ihre Aufmerksamkeit eher auf ihre Schwächen als auch ihre Stärken. Der lösungsorientierte Ansatz des Systemischen Coachings bietet eine Perspektive für Betroffene, aus ihren vermeintlichen Schwächen eine Stärkung erfahren zu können.
Was ist das Imposter-Syndrom?
Das 1978 erstmals als Hochstapler-Syndrom bezeichnete Phänomen ist keine eigenständige psychische Erkrankung, sondern gilt heute wissenschaftlich als eine kognitive Wahrnehmungsverzerrung. Das Syndrom ist wissenschaftlich nicht als Störung oder Krankheit eingestuft und ist somit nicht im ICD-11 oder DSM-5 aufgeführt. Der Begriff „Syndrom“ wird daher eher vermieden, sondern von „Effekt“ oder „Phänomen“ gesprochen. Das „Hochstapler-Phänomen“ zeichnet sich aus durch Selbstzweifel, übertriebenen Perfektionismus, die Befürchtung zu versagen und die Sorge, dass Andere diese subjektiv empfundene Unfähigkeit bemerken. Die Personen stehen häufig unter enormen inneren Druck, was sich auf alle Lebensbereiche auswirken kann. Insbesondere zeigt es sich an Schulen, in der Ausbildung, im Studium und im Berufsleben, wo Leistungen erwartet werden. Gerade sehr erfolgreiche Frauen, die Karriere in Politik, Unternehmen, Wissenschaft und Mediensektor vollziehen, sind hiervon betroffen.[2]
Welche Faktoren begünstigen dieses Phänomen bei Frauen?
Die amerikanischen Psychologinnen Clance und Imes veröffentlichten 1978 den Artikel „The Imposter Phenomenon in High Achieving Women: Dynamics and Therapeutic Intervention“, in dem dieses Phänomen erstmals so benannt wurde und in den Zusammenhang der Lebenswelten von Frauen gestellt wurde.[3] Insbesondere Frauen sind von Selbstzweifel und des ständig Unzureichenden geplagt, da mit Gewinn paritätischer Rechte im Beruf sie zunehmend zwischen den Ansprüchen an sich selbst als Frauen, Mütter und Ehefrauen in Familie und vor allem auch als erfolgreiche Karrierefrauen im Berufsleben unter hohem Druck stehen, sich beweisen zu müssen. Da Frauen diesen gesellschaftlichen und oftmals widersprüchlichen Normen nicht genügen können, fühlen sie sich häufig als Versager.
Daher werten einige Wissenschaftler als Faktoren für das Imposter-Syndrom die individuellen Einflüsse aus der Kindheit geringer, wie z. B. Versagensängste aufgrund hoher Anforderungen durch die Eltern oder das Überbehütetsein ohne Erleben eigener Wirksamkeit. Stattdessen legen sie das Augenmerk auf diskriminierende und vorurteilsreiche Einflüsse gerade in den heutigen Leistungsgesellschaften. In ihrem Artikel „Stop Telling Women they have Imposter Syndrome”[4] zielen Burey und Tulshyan auf die systemischen Bedingungen ab, die generell die Symptome bei diskriminierten Gruppen, wie z.B. afro-amerikanische Frauen in den USA, begünstigen. Prominentes Beispiel ist die ehemalige Präsidentengattin Michelle Obama, die sich outete unter dem Imposter-Phänomen zu leiden. Die Autorinnen fordern eine Veränderung der Arbeitswelten, die für eine breite Vielfalt an Führungspersönlichkeiten offen sein sollten, um Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und geschlechtliche Identitäten gleichwertig zu integrieren. Die Ausbildungs- und Berufswelten seien immer noch stark eurozentristisch, männlich und heteronormativ geprägt, so dass Personen, die nicht in dieses Raster fallen, sich fehl am Platz fühlen und unter Selbstzweifel und Versagensängsten leiden.
Systemisches Coaching als Hilfestellung für Betroffene
Solange sich die Rahmenbedingungen für Frauen in Leistungsgesellschaften nicht ändern und auch die Arbeitswelten weiterhin diskriminierende Strukturen aufweisen, bietet das systemische Coaching einen hilfreichen Ansatz, die vermeintlich individuelle Schwäche in eine Stärke umzuwandeln. Ein Coaching bietet generell einen Schutz- und Schonraum für die selbstkritische Reflektion und Bearbeitung von Problemen. Das Systemische Coaching umfasst eine ganzheitliche Betrachtung zahlreicher Systeme, die die Lebenswelt einer Person prägen. Diese Systeme, z. B. Familie oder Beruf, stehen in einer Wechselwirkung und innerhalb eines Systems gibt es sog. Elemente (z.B. Familienmitglieder, Kollegen), mit denen die Person in Beziehung steht. Dieser Ansatz setzt auf Perspektiven und ist konzeptionell lösungsorientiert. Der Systemische Coach fragt in die Zukunft: „Wo möchtest du hin? Wie kannst du das erreichen?“ und begleitet den Klienten während seines Prozesses. Der Klient ist der eigentliche Experte für die eigene Lösung, da er viel mehr Wissen über die eigenen Systeme mitbringt.[5] Vermeintliche Schwächen können mit Hilfe eines Systemischen Coaches als Stärke zur Erreichung eines Ziels herausgearbeitet werden.
Für den Systemiker van Koelen, der Klienten mit Imposter-Beschwerden coacht, bieten z. B. Selbstzweifel eine positive Grundlage für Reflektion und einen Motivator, um sich weiterzuentwickeln. Laut seinen Erfahrungen sind die betroffenen Menschen meist sehr kreativ und erfindungsreich, arbeiten ausdauernd an ihren Zielen. Für ihn gilt es neben dem Umdeuten auch negative Glaubensätze in positive zu transformieren. Ein Gefühl von „Ich bin nicht gut genug“ kann in ein „Ich darf/bin gut genug“ transformiert werden und dazu führen, die eigene Haltung in einem System zu verändern und dort selbstbewusst seinen Platz einzunehmen.[6]
Fazit
Die wissenschaftliche Betrachtung des weit verbreiteten Imposter-Phänomens muss auch die sozio-strukturellen Lebens- und Arbeitswelten einbeziehen, in denen vor allem Frauen immer noch benachteiligt werden. Die hohe Belastung innerhalb der Familie und im Beruf bedingen, dass sie besonders gefährdet sind, die Symptomatik zu entwickeln. Saujanis entlarvender Appell an die Hochschulabsolventinnen des Smith College, sich die Gefühle des Versagens, des Unzureichenden und der Selbstzweifel nicht als eine persönliche Verfehlung zu eigen zu machen, da die Ursache für diese strukturell und nicht persönlich bedingt ist, trifft genau diese Perspektive. Für ein Erstarken der Betroffenen bietet das Systemische Coaching einen hilfreichen Ansatz, da die Rahmenbedingungen in den Systemen für den Einzelnen oftmals nicht veränderbar sind, die innere Haltung zu diesen Strukturen durchaus.
[1] Saujani (2023): How can you overcome Imposter Syndrome? You don’t. Zugriff am 17.03.2024. https://www.glamour.com/story/impostor-syndrome-isnt-a-syndrome-its-a-scheme.
[2] Oberberg-Klinik (2024): Das Hochstapler Syndrom: Mangelnde Selbstanerkennung. Zugriff am 23.03.2024. https://www.oberbergkliniken.de/artikel/das-hochstapler-syndrom-mangelnde-selbstanerkennung.
[3] Clance, Imes (1978): The Impostor Phenomenon in High Achieving Women: Dynamics and Therapeutic Intervention. Zugriff am 23.03.2024. https://mpowir.org/wp-content/uploads/2010/02/Download-IP-in-High-Achieving-Women.pdf.
[4] Vgl. Burey, J.A., Tulshyan, R. (2021): Zugriff am 23.03.2024. https://hbr.org/2021/02/stop-telling-women-they-have-imposter-syndrome.
[5] Vgl. Coaching Akademie Berlin (2017-2024): Was ist ein Systemischer Coach? Zugriff am 23.03.2024. https://coachingakademie-berlin.de/systemischer-coach/.
[6] Vgl. Van der Koelen, J.(2022): Das Imposter Syndrom. Zugriff am 23.03.2024. https://systemischesnetzwerk.de/das-impostor-syndrom/.