Das Buch „Digitale Demenz, wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist bereits 2012 erschienen (1). Es hat meiner Meinung nach jedoch kein Stück an Aktualität verloren – das Gegenteil ist der Fall. Die Tatsache, dass u.a. in Deutschland nach wie vor die Bildungspolitik bestrebt ist, Kindergärten und Schulen digital auszurüsten während beispielsweise Schweden Tablets usw. aus Kindergärten und Primarschulen aufgrund von schlechten wissenschaftlichen Ergebnissen wieder entfernt (2), zeigt den Bedarf an Diskussion und Handlung.
Über den Autor
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und habilitierte sich anschließend für das Fach Psychiatrie. Zweimal war er Gastprofessor an der Harvard University. Er leitet die Psychiatrische Universitätsklinik Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.
Manfred Spitzer ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Wie Kinder Denken Lernen“, „Smartphone Epidemie“ und „Künstliche Intelligenz“.
Thema des Buches
Im Vorwort des Buches erläutert Spitzer die Bedeutung des Buchtitels „ Digitale Demenz“. Der Begriff wurde in Südkorea 2007 geprägt für ein Krankheitsbild, welches zunehmend bei jungen Erwachsenen beobachtet wurde: Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Zu diesen Symptomen kam bereits 2010 die Beobachtung von Internetsucht bei 12% aller Schüler hinzu (Kap. 3). Südkorea zählte schon damals zu den hochmodernen Industriestaaten mit weltweit führender Informationstechnik und höchster Dichte digitaler Medien an Schulen.
In diesem Buch mit 14 Kapiteln geht es zum einen um die Einflüsse, die digitales Lernen auf Entwicklungs- und Lernprozesse des menschlichen Gehirns im Kindes- und Jugendalter hat und die Auswirkungen auf spätere Fähigkeiten wie z.B. Lese- und Schreibkompetenzen oder Aufmerksamkeitslenkung. Weitere Themenbereiche sind soziale Netzwerke wie Facebook, Computerspiele, körperliche und seelische Folgen von unkontrollierter und unreflektierter Nutzung digitaler Medien, sowie Handlungsempfehlungen für Eltern, Lehrer und Politiker. Zudem befasst sich ein Kapitel mit den proklamierten Vorteilen der Generation der „Digital Natives“ und der in der Realität abbildbaren, weniger eindeutigen Fakten.
Im Folgenden werden zwei dieser Kapitel näher vorgestellt.
Kapitel 3
Schule: Copy and Paste – statt Lesen und Schreiben?
Eine der Kernaussagen dieses Kapitels ist, dass gerade aufgrund der Tatsache, dass Computer Menschen geistige Arbeit abnehmen, sie nicht für besseres Lernen in Schulen geeignet sind. Spitzer erläutert und belegt diese Feststellung mit weltweiten Studien und Fallbeispielen.
Es ist keine neue Erkenntnis der Lernphysiologie, dass Lernen eigene Geistesaktivität voraussetzt. Ebenso bekannt ist der Zusammenhang von der Tiefe der geistigen Durchdringung eines Sachverhaltes und der Nachhaltigkeit des Lernerfolgs und des Gedächtnisses. Umgekehrt ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass scrollen und tippen auf Bildschirmen genau diesen Lernprozess abflacht. Das Antippen von Buchstaben auf einer Tatstatur erzeugt deutlich weniger Lernimpulse an das Gehirn als das handschriftliche Schreiben, was nicht nur motorische Defizite zur Folge hat, sondern auch inhaltliche und gedächtnisbezogene. Unterschiedliche Studien belegen Leistungsabfälle bei Schülern nach systematischer Ausstattung von Schulen mit Computern oder / und der regelmäßigen Nutzung eines eigenen Gerätes zu Hause.
Auf der Suche nach Erklärungen dafür, weshalb die Politik trotz schlechter Datenlage an der Digitalisierung von Schulen festhält, benennt Spitzer beispielsweise den Einfluss wirtschaftlicher Interessen. Es werden hohe Summen in der Bildungspolitik dafür ausgegeben, Geräte anzuschaffen. Das hat positive Auswirkungen für die entsprechenden Unternehmen und Politiker können den wirtschaftlichen Erfolg für Medienpräsenz nutzen. Beispiele dafür gibt es genügend. Spitzer regt den Leser an, sich vorzustellen, dieses Geld würde in mehr Lehrkräfte an Schulen investiert.
Kapitel 12
Schlaflosigkeit, Depression, Sucht und körperliche Folgen
In diesem Kapitel erklärt Spitzer anhand von Schlaflosigkeit, Depression und Sucht wie die Nutzung digitaler Medien den Körper schädigen kann und dadurch Auswirkungen auf den Geist die Folge sind und umgekehrt.
So ist nachgewiesen, dass der Gebrauch digitaler Medien den Schlaf in Dauer und Qualität beeinflusst. Chronischer Schlafmangel kann u.a. zu Stoffwechsel- veränderungen in Richtung Diabetes und damit zu Übergewicht und kardiovaskulären Erkrankungen führen und durch Schwächung des Immunsystems das Auftreten von Infektionskrankheiten und Krebserkrankungen begünstigen. Die Neigung, eine Depression zu entwickeln, ist ebenfalls erhöht, was wiederum den Schlaf beeinträchtigt.
Depression und Sucht sind ernstzunehmende Erkrankungen mit vielseitigen Folgen für das Leben und vor allem für die Entwicklung eines Menschen. Das Suchtpotential von Internet und Computern ist nachgewiesen und die Gehirnforschung sich über den Wirkmechanismus im Klaren.
Da weltweit Kinder und Jugendliche besorgniserregend viel Zeit mit der Nutzung digitaler Medien verbringen, ist es dringend notwendig, sich mit den langfristig zu erwartenden, geistig und körperlichen Schäden zu beschäftigen.
Fazit
Aufgrund der Aktualität der Debatte über die Digitalisierung von Kindergärten und Schulen ist dieses Buch trotz seiner Erstveröffentlichung in 2012 aus meiner Sicht empfehlenswert.
Es werden von Spitzer vielfältige Fakten über die Lernphysiologie und den dazugehörigen hirnphysiologischen Prozessen dargestellt, wobei davon auszugehen ist, dass sich diese grundlegenden Erkenntnisse seit 2012 nicht verändert haben. Darüber hinaus werden medizinische Hintergründe zu möglichen Folgen erläutert, die durch den Konsum digitaler Medien entstehen können. Untermauert werden Spitzers Aussagen durch wissenschaftliche Studien aus der Zeit der Veröffentlichung des Buches.
Dieses Buch regt an, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen und ergänzend aktuelle Literatur und Studien heranzuziehen. Die nicht zuletzt politische Bedeutung des Themas für die heutige Gesellschaft wird z.B. durch die Forschung des weltweit renommierten Karolinska Institutes in Stockholm verdeutlicht (2).
Literaturverzeichnis:
1. Spitzer M. Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer Verlag; 2012.
2. Karolinska Institut. Entscheidung über den Vorschlag für eine nationale Digitalisierungsstrategie für das Schulsystem 2023-2027 [Internet]. 2023 [zitiert 14. Januar 2024]. Verfügbar unter: https://xn--die-pdagogische-wende-91b.de/wp-content/uploads/2023/07/Karolinska-Stellungnahme_2023_dt.pdf
Bildquelle: https://unsplash.com/de/fotos/junge-im-grauen-hemd-mit-schwarzem-laptop-6MePtA9EVDA