„Ich bin Viele.“ So lautet Billi’s Antwort auf die Frage, was eine multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) bzw. dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist. „Das ist wie eine WG im Körper. Es gibt verschiedene Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Bedürfnissen.“ Billi ist 29 Jahre alt und eine von mehr als 20 Persönlichkeiten, die in Nelle wohnt. Der Name Billi bedeutet „willenstarke Beschützerin“. Billi ist wie die meisten anderen Persönlichkeiten durch ein Trauma in Nelle’s Kindheit entstanden. Die WG besteht aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich unterschiedlich oft abwechseln. Nelle selbst ist meist im Inneren und hat für die Zeit, in der eine andere Persönlichkeit „draußen“ ist, eine Amnesie, d.h. sie hat für diejenigen Zeiten Erinnerungslücken, in denen ein dissoziierter innerer Anteil aktiv ist und ihren Körper steuert. „Du hast keine Ahnung, was in der Zeit passiert ist und das ist eine Sache, die unglaublich schwer und beängstigend ist.“¹
Entstehung
Die DIS (ICD-10 F44.81) stellt eine seltene und die zugleich schwerste Form einer dissoziativen Störung und stellt ein komplexes posttraumatisches Störungsbild dar, bei der eine Person zwei oder mehrere voneinander unterscheidbare und einander abwechselnde Persönlichkeiten zeigt. Jede dieser Persönlichkeiten hat dabei eine eigene Stimme, ein eigenes Aussehen, Alter, Verhalten, Fähigkeiten und Wertvorstellungen. Eine DIS entsteht wie bei Nelle meist durch lange und schwere Traumata in der frühen Kindheit (vor dem 5. und 8. Lebensjahr), meist in Form von schwerer Vernachlässigung, emotionaler, körperlicher und/oder sexueller Misshandlung. Hierbei spaltet sich ein kompletter Selbstanteil, der die traumatischen Situationen in sich trägt, ab, sodass die Hauptperson geschützt bleibt. Die multiplen Persönlichkeiten stellen also sozusagen einen Schutzmechanismus dar.
Epidemiologie und Verlauf
Die DIS tritt kulturübergreifend auf, wird jedoch häufig übersehen oder falsch diagnostiziert, da die Betroffenen ihre Symptomatik nicht direkt zeigen. Studien gehen von einer Prävalenz von 0,5-1% in der Gesamtbevölkerung und von bis zu 5% bei stationären psychiatrischen Patienten aus. Frauen sind weitaus häufiger betroffen als Männer und der Verlauf ist meist chronisch. Eine genaue Angabe ist allerdings sehr schwer zu machen, da viele Betroffene gar nicht wissen, dass sie eine DIS haben.² Da die Gefahr besteht, dass dem vorbestehenden Störungsbild weitere Identitäten hinzugefügt werden, muss diagnostisch und therapeutisch behutsam vorgegangen werden.³ So kann es bspw. passieren, dass eine Therapiesitzung zu belastend für eine Patientin ist und sie folglich einen Anteil ihres Selbst abspaltet. Dieser ist dann für Therapiegänge zuständig. Die Betroffenen lernen nicht, mit Stress umzugehen. Letztendlich ist es eine spezielle Art von Flucht, da sich die verschiedenen Anteile aber denselben Körper teilen, ist der „normale Anteil“ schlussendlich nicht gesund. Meist kommen weiter psychische Störungen wie Depressionen, Ängst oder Essstörungen hinzu.
Therapie und Prognose
Mithilfe von speziellen Formen der Psychotherapie sollen Betroffene lernen, ihre Dissoziationen besser wahrzunehmen und wieder Kontrolle über ihren eigenen Körper zu erlangen. Außerdem wird an der Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse gearbeitet. Die Betroffenen sollen ein Bewusstsein für ihr Innenleben entwickeln. Für leichtere Dissoziationen kann zudem ein Medikament gegeben werden, welches normalerweise in der Suchttherapie verschrieben wird. Es sollte immer bedacht werden, dass dieses Vorgehen nur in Kombination mit einer Psychotherapie sinnvoll ist. Sollte die medikamentöse Therapie anschlagen, kommt es zum Wegfall des Dissoziationsmechanismus. Die Betroffenen müssen sich folglich mit den belastenden Inhalten der zuvor dissoziierten Erinnerung auseinandersetzen, wobei hier die Psychotherapie ansetzt, um die Erinnerungen auszuhalten und auf adäquate Weise zu verarbeiten.⁴
Kritik
Die DIS wird immer wieder kontrovers diskutiert. Skeptiker stellen infrage, ob die DIS eine ernsthafte Störung ist. Sie gehen davon aus, dass Therapeuten, die eine DIS diagnostizieren, nichts anderes tun, als mit einer lebhaften Fantasie ausgestattete Menschen dazu zu bringen, eine bestimmte Rolle zu spielen. Sie suchen also vielmehr nach multiplen Identitäten. Klinische Erfahrungen sprechen jedoch gegen diese Annahmen. Es konnte bspw. nachgewiesen werden, dass mit den verschiedenen Persönlichkeiten unterschiedliche Hirn- und Körperzustände verbunden sind. Eine Persönlichkeit kann rechtshändig, eine andere linkshändig sein. Weiter entdeckten Augenärzte eine Veränderung der Sehschärfe, wenn die Identitäten wechselten. Zudem zeigen Patienten mit einer DIS eine erhöhte Aktivität in Hirnregionen, die mit der Kontrolle traumatischer Erinnerungen assoziiert sind. Am Ende gehen die einen davon aus, dass multiple Persönlichkeiten der verzweifelte Versuch von traumatisierten Personen sind, sich von einer schrecklichen Existenz abzuspalten. Die anderen denken, dass die DIS ein Zustand ist, den sich zu ausschweifender Fantasie neigende, emotional anfällige Menschen bisweilen ausdenken und ihn sich aus der Interaktion mit dem Therapeuten heraus konstruieren.⁵
¹ Vgl. Die Frage (2019)
² Vgl. Prölß et al. (2019), S. 76-77
³ Vgl. Fiedler (2013), S. 12
⁴ Vgl. Prölß et al. (2019), S. 77-79
⁵ Vgl. Myers (2014), S. 691-692
Literatur
Die Frage (2019), Multiple Persönlichkeit: Unsere beste Freundin hat uns gerettet, https://www.youtube.com/watch?v=3HrUtDDNKDQ, abgerufen am 06.09.2021.
Fiedler, P. (2013), Dissoziative Störungen, 2. Auflage, Hogrefe.
Myers, D. (2014), Psychologie, 3. Auflage, Springer.
Prölß, A./Schnell, T./Koch, L. (2019), Psychische Störungsbilder, Springer.
Beitragsbild: Pixabay.com, Mitglied Gerd Altmann, 06.09.2021, URL: https://pixabay.com/de/photos/depression-schizophrenie-388872/