Haben Sie schon einmal Angst gehabt in ihrem Leben? Vermutlich werden Sie diese Frage mit „Ja“ beantworten, denn nahezu jeder Mensch hat schon einmal Gefühle von Angst oder Furcht in verschiedenen Situationen erlebt. Was aber, wenn die Angst zum täglichen Begleiter wird? Die Lebenszeitprävalenz für Angststörungen liegt bei 28,8% (Kessler et al. 2005, S. 593). Panikstörung, Agoraphobie, Generalisierte Angststörung, Soziale Phobie oder spezifische Phobien sind exemplarische Kategorien, in die belastende Ängste fallen, die einen Leidensdruck erzeugen (Caspar et al. 2018, S. 67–70). Eins haben alle Angststörungen jedoch gemeinsam: die unangemessene, irrationale und wiederholt auftretende Angstreaktion (Petermann et al. 2011, S. 226). Eine zentrale Begleiterscheinung dabei ist die oft kontinuierliche motorische Anspannung (Kowalsky und Berking 2012, S. 69–98). In diesem Blog-Beitrag lernen Sie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson kennen und erfahren, weshalb Angstpatienten davon profitieren können.
Anspannen – Spannung halten – Entspannen
Die Progressive Muskelrelaxation (kurz: PMR/PME) geht auf den amerikanischen Physiologen Edmund Jacobson zurück, der von einer reziproken Wirkung zwischen mentalen, zentralnervösen Prozessen und Muskeltonus ausging (Hamm 2020, S. 150; Ruhl et al. 2011, S. 591). Kurz gesagt: „Wenn der Körper sich entspannt, entspannt sich auch die Psyche – und andersherum.“ (Gatterer 2009, S. 250) Methodisch betrachtet erfolgt bei der PMR nach kurzzeitigem Anspannen einer Muskelpartie (ca. ein bis zwei Minuten) eine bewusste maximale Entspannung (ca. drei bis vier Minuten) (Gatterer 2009, S. 249; Hamm 2020, S. 151). Diese bewusste Entspannung aktiviert das parasympathische System (Gatterer 2009, S. 249), das für die Regeneration und Erholung des Organismus verantwortlich ist (Schröger 2010, S. 81). Dabei werden alle Muskelpartien von Kopf bis Fuß der Reihe nach durchgearbeitet (Hamm 2020, S. 151). Die PMR kann sowohl im Sitzen als auch Liegen durchgeführt werden. Fortgeschrittene können sie sogar im Stehen anwenden. Nachdem alle Muskelpartien durchgearbeitet wurden, erfolgt das Zurückholen aus der vertieften Entspannung und zumeist auch Müdigkeit durch bspw. Strecken und tiefes Einatmen (Gatterer 2009, S. 251).
Kleine Übung mit großer Wirkung
Es gibt zahlreiche empirische Belege für die positiven Effekte von PMR. Manzoni et al. (2008, S. 1) analysierten verschiedene Studien aus den Jahren 1997 bis 2007, die sich mit der Wirkung verschiedener Entspannungsmethoden (PMR nach Jacobson, Autogenes Training, angewandte Entspannungsmethoden sowie Meditation) auf generelle Ängste sowie Angststörungen beschäftigen. Das Ergebnis war die konsistente und signifikante Wirksamkeit der Entspannungsmethoden bei der Reduktion von Angstzuständen. Insbesondere in der Behandlung der generalisierten Angststörung sind angewandte Entspannungsmethoden auf Basis der PMR schon lange ein fester Bestandteil der Therapie (Hoyer und Beesdo-Baum 2011, S. 948). Darüber hinaus können Ängste aber auch bei anderen Krankheitsbildern auftreten. Erst kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass durch PMR die Ängste von COVID-19-Patienten reduziert werden können und sich zudem deren Schlafqualität verbessert (Liu et al. 2020, S. 1). Auch bei Diagnosen, wie bspw. Prostata- und Brustkrebs (Charalambous et al. 2015, S. 1), COPD und Atemnot (Singh et al. 2009, S. 209) und pulmonaler Hypertonie (Li et al. 2015, S. 1) zeigen sich positive Auswirkungen auf die damit einhergehenden psychischen Begleiterscheinungen, wie Ängste und/oder Depressionen. Die Ergebnisse von Lolak et al. (2008, S. 119) belegen ebenfalls die Effektivität der PMR hinsichtlich Ängsten und Depressionen bei Patienten mit chronischer Lungenerkrankung. Weiterhin kann die PMR bei anderen psychischen Erkrankungen, wie bspw. Schizophrenie, die damit verbundenen Ängste und Stressgefühle lindern (Vancampfort et al. 2011, S. 567; Chen et al. 2009, S. 2187). Letztlich kann die PMR nicht nur Angstgefühle per se bessern, sondern auch die damit in Zusammenhang stehenden psychosomatischen Beschwerden, wie bspw. Spannungskopfschmerzen (Arena et al. 1988, S. 96; Blanchard et al. 1990, S. 210; Jong et al. 2019, S. 147).
Persönliches Fazit
Die Progressive Muskelrelaxation hat eine empirisch nachgewiesene positive Wirkung auf Ängste, Depressionen und Stress. Als Betroffene, mit verschiedenen diagnostizierten Angststörungen, schätze ich diese Entspannungsübung insbesondere aufgrund der Tatsachen, dass sie einfach zu erlernen und schnell durchzuführen ist. Bei akuter Anspannung und daraus folgenden Spannungskopfschmerzen, Kieferbeschwerden und Nackenschmerzen verschafft mir die PMR schnelle Erleichterung. Darüber hinaus lindert sie weitere psychosomatische Symptome, in meinem Fall bspw. das Gefühl von Brustenge. Zudem ist eine Anleitung für die Durchführung der PMR jedem zugänglich, z. B. über YouTube-Videos (u. a. auch von Krankenkassen). Über das Smartphone können außerdem Apps für eine geführte PMR bezogen werden. Abschließend kann ich jedem ausdrücklich empfehlen, die PMR einmal auszuprobieren. Nicht nur psychisch oder physisch kranke Menschen profitieren davon. Jedem, der unter viel Stress und Anspannung steht, wird diese kurze Auszeit zur Entspannung guttun.
Literaturverzeichnis
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