By Published On: 31. März 2023Categories: Wiki

Medizinische und psychotherapeutische Behandlungen beginnen grundsätzlich mit einer klassifikatorischen Diagnose. Die eindeutige Klassifikation gilt insbesondere dann als wichtig, wenn körperliche und psychische Symptome fachübergreifend zu behandeln sind, wie das beim Fibromyalgiesyndrom der Fall ist (Caspar, Pjanic & Westermann, 2018, S. 16-17; Heim, 2020, S. 57). Doch die Fibromyalgie weist keine eindeutige bzw. eine häufig wechselnde Klassifikation auf, so dass sich die Frage stellt: „Ist die Fibromyalgie nun eine Form von Rheuma, eine Schmerzstörung oder eine somatische Störung?“

Heterogenes Beschwerdebild

Fibromyalgie (lateinisch „fibra“: Faser und „Myalgie“: Muskelschmerz) ist ein Syndrom mit Schmerzen in verschiedenen Körperregionen, vor allem aber im Bereich der Sehnenansätze und der Muskulatur, Schlafstörungen und Erschöpfungszuständen. Die betroffenen Patient*innen leiden zudem unter Begleitsymptomen wie Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Morgensteifigkeit der Gelenke, Beschwerden im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Trakts und des Unterleibs (Kickmaier & Hestmann, 2020, S. 245). Davon betroffen sind, aktuellen Schätzungen zufolge, 1-8% der Menschen aller Kulturen und Länder (Pack-Akkaya, 2020, S. 40).

Verschiedene Klassifikationen

Die Definition des Fibromyalgiesyndroms hat eine lange Geschichte (Pack-Akkaya, 2020, S. 32-34). Sie konkretisierte sich in den letzten beiden Jahrzehnten und wandelte sich zugleich mehrfach (Heim, 2020, S. 57):

  • Aktuell wird die Fibromyalgie in der medizinischen Klassifikationsliste der WHO (International Statistical Classification of Deseases, ICD), in Version 10 (ICD-10) unter M79.7 in der Kategorie „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“ – „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes – andernorts nicht klassifiziert“ aufgelistet, also als eine körperliche Erkrankung, eine Art (Weichteil-)Rheuma (Pack-Akkaya, 2020, S. 34).
  • Zugleich wird die Fibromyalgie jedoch in der ICD-10 auch, durch viele Forschungsergebnisse gestützt, unter F45.4 in der Kategorie „Somatoforme Störungen“ – „anhaltende Schmerzstörung“ gesehen, also als eine psychische Störung. Dort wird sie als ein „funktionelles Syndrom“ gewertet, zusammen mit chronischem Erschöpfungssyndrom (Fatique), Reizdarmsyndrom u. ä. (Caspar et al., 2018, S. 122; Kleinstäuber, Thomas, Witthöft & Hiller, 2018, S. 8).
  • Der US-amerikanische Leitfaden psychischer Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM), hat die Fibromyalgie in Version 5 (DSM-5) in das Kapitel „Somatische Belastungsstörungen“ integriert (Kleinstäuber et al., 2018, S. 8).
  • In der ICD-11 wurde das Fibromyalgiesyndrom zuletzt unter der Diagnoseziffer MG30 in ein neu geschaffenes Kapitel „Chronischer Schmerz“ aufgenommen, also wieder als primär körperliche Erkrankung klassifiziert (Häuser, 2020, S. 423).
  • Zudem wird für zukünftige Klassifikationen mittlerweile diskutiert, Fibromyalgie nicht mehr als eine spezifisch abgrenzbare Störung anzusehen, sondern als ein „Kontinuum für Disstress“, dessen Schwere in verschiedenen Dimensionen variieren kann (Heim, 2020, S. 57).

Alle aktuellen – sich überlappenden – diagnostischen Konzepte haben zwar ihre Vor- und Nachteile, aber nur einen kleinen gemeinsamen Nenner: „chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, die nicht hinreichend durch eine somatische Erkrankung erklärt werden können“ (Heim, 2020, S. 57).

Unklare Ätiologie

Obwohl die Klassifikationssysteme möglichst unabhängig von der Frage nach den Ursachen (Ätiologie) sein wollen (Caspar et al., 2018, S. 16), spielt die Diskussion um die Entstehungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen der Fibromyalgie eine große Rolle in der Definition der Erkrankung (Pack-Akkaya, 2020, S. 32). Als Ursachen werden unterschiedliche Aspekte angenommen:

  • endokrinologische Veränderungen (Kleinstäuber et al., 2018, S. 41)
  • eine genetische Komponente (Martin & Rief, 2020, S. 1208)
  • eine Störung der Schmerzverarbeitung (Pack-Akkaya, 2020, S. 38)
  • chronischer Stress als (Mit-)Verursacher sowie unbewusste maladaptive kognitive Schemata (Pack-Akkaya, 2020, S. 1-2)
  • frühkindliche Traumata und Gewalterfahrungen als Risikoindikatoren (Heim, 2020, S. 57).

Inzwischen dominiert deshalb ein biopsychosoziales Modell einer Schmerzstörung den wissenschaftlichen Diskurs (Heim, 2020, S. 57).

Neuer Ansatz

Für betroffene Patienten ist die unklare Definition verwirrend und tendenziell kontraproduktiv. Für sie ist es wichtig, eine „echte Diagnose“ zu bekommen (Fibromyalgie ist keine mystische oder rätselhafte Erkrankung) sowie konkrete Therapieangebote. Deshalb weichen die teilweise hitzigen Diskussionen der letzten Jahre zunehmend einem mehr beschreibenden und pragmatischen Ansatz, der auf die konkrete Behandlung abzielt (Heim, 2020, S. 57).

Behandlung

Fibromyalgie gilt als unheilbar (Horlemann, 2021, S. 32). Die Therapie konzentriert sich deshalb auf die Behandlung der Symptome. Die aktuelle medizinische Behandlungsleitlinie (S3-Leitlinie) zum Fibromyalgiesyndrom empfiehlt eine multimodale Therapie (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017):

  • Die körperlichen Symptome werden insbesondere mit physiotherapeutischen und physikalischen Verfahren behandelt (Kickmaier & Hestmann, 2020, S. 246; Winkelmann et al., 2017, S. 257).
  • Für die psychischen Symptome werden psychotherapeutische Ansätze vorgeschlagen (Köllner et al., 2012, S. 293). Die Kognitive Verhaltenstherapie hat dabei die stärkste Evidenz (Martin & Rief, 2020, S. 1216). Eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva ist in Verbindung mit den häufig komorbiden Depressions- und Angststörungen wirksam (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017).

Dabei ist zu beachten, dass viele Patienten von ihrem Arzt wegen „Symptomen ohne Befund“ eher widerwillig an einen Psychotherapeuten verwiesen werden (Keel, 2015, S. V). Doch wenn eine Bereitschaft vorhanden ist, kann Psychotherapie helfen, besser mit der Diagnose und den Symptomen, insbesondere den Schmerzen, klarzukommen. Darüber hinaus kann sie zu einer Linderung der Symptome beitragen, wenn Wege zur Durchbrechung der Teufelskreise aufgezeigt werden können, die die Schmerzen aufrechterhalten und verstärken (Kleinstäuber et al., 2018, S. 231-232; Pack-Akkaya, 2020, S. 1).

Fazit

Fibromyalgie ist eine „echte Diagnose“, die sich dennoch nur schwer klassifizieren lässt. Die Definition des Syndroms veränderte sich in den letzten Jahren immer wieder, was nicht zuletzt auf das heterogene körperliche und psychische Beschwerdebild und die nach wie vor uneindeutige Ätiologie zurückzuführen ist. Mittlerweile setzt sich deshalb ein pragmatischer Ansatz durch, der sich stärker auf die Beschreibung der Symptome und die multimodale Behandlung konzentriert. Die Psychotherapie fokussiert dabei auf den Umgang mit der Krankheit.


Literaturverzeichnis

Caspar, F., Pjanic, I. & Westermann, S. (2018). Klinische Psychologie (Basiswissen Psychologie) (1. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Deutsche Schmerzgesellschaft (2017). Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms. Zugriff am 23.02.2023. Verfügbar unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html

Häuser, W. (2020). Update Fibromyalgiesyndrom. Aktuelle Rheumatologie, 45(05), S. 422-429. DOI: 10.1055/a-1182-5630

Heim, T. (2020). Fibromyalgie: Trend zum Deskriptiven und Pragmatischen. InFo Neurologie, 22, S. 57. DOI: 10.1007/s15005-020-1545-5

Horlemann, J. (2021).Fibromyalgie-Symptomatik bei älteren Patienten. Schmerzmedizin, 37(1), S. 32-33.

Keel, P. (2015). Müdigkeit, Erschöpfung und Schmerzen ohne ersichtlichen Grund: Ganzheitliches Behandlungskonzept für somatoforme Störungen (1. Aufl.). Berlin Heidelberg: Springer.

Kickmaier, S. & Hestmann, D. (2020). Kältetherapie bei Fibromyalgie. rheuma plus, 19(6), S. 245-250. DOI: 10.1007/s12688-020-00382-y

Kleinstäuber, M., Thomas, P., Witthöft, M. & Hiller, W. (2018). Kognitive Verhaltenstherapie bei medizinisch unerklärten Körperbeschwerden und somatoformen Störungen (2. Aufl.). Berlin: Springer.

Köllner, V., Häuser, W., Klimczyk, K., Kühn-Becker, H., Settan, M., Weigl, M. et al. (2012). Psychotherapie von Patienten mit Fibromyalgiesyndrom: Systematische Übersicht, Metaanalyse und Leitlinie. Der Schmerz, 26, S. 291-296. DOI: 10.1007/s00482-012-1179-8

Martin, A. & Rief, W. (2020). Somatoforme Störungen. In: Hoyer, J. & Knappe, S. (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (3., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.) (S. 1199-1220). Berlin: Springer.

Pack-Akkaya, I. (2020). Fibromyalgie und Selbstwirksamkeit: Die Rolle von Glaubenssätzen und persönlichen Lebensumständen (1. Aufl.). Wiesbaden: Springer.

Winkelmann, A., Bork, H., Brückle, W., Dexl, C., Heldmann, P., Henningsen, P. et al. (2017). Physiotherapie, Ergotherapie und physikalische Verfahren beim Fibromyalgiesyndrom: Aktualisierte Leitlinie 2017 und Übersicht von systematischen Übersichtsarbeiten. Der Schmerz, 31, S. 255-265. DOI: 10.1007/s00482-017-0203-4

Bildquelle

StockSnap über Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/frau-traurig-depression-haut-nackt-2609115/)

Teile diesen Artikel