Als Teenager hatte ich bei Prüfungen immer ein Tigerauge in der Hosentasche, denn von diesem Heilstein versprach ich mir Mut und ein Gefühl der Sicherheit. Meine Mutter ging regelmäßig zu einer alternativen Ärztin, die Medikamente mit einer Wünschelrute „austestete“ und manchmal legten wir zuhause Tarotkarten, um aktuelle Lebensfragen zu „klären“. Obwohl ich es mir nicht erklären konnte, schien dies oft zu wirken und Zweifel wurden mit dem Argument „wer heilt, hat recht“ weggewischt. Damals hatte ich den Eindruck, Esoterik sei hilfreich und harmlos.
Buch und Autorinnen
Dass Esoterik keineswegs so harmlos ist, wie oftmals angenommen wird, zeigen die Autorinnen Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem 2022 erschienenen Sachbuch „Gefährlicher Glaube – Die radikale Gedankenwelt der Esoterik“. Katharina Nocun ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftlerin und publiziert regelmäßig in zahlreichen Medien (Nocun, 2023). Die Psychologin Pia Lamberty hat eine leitende Funktion beim gemeinnützigen Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) inne und ist seit vielen Jahren in der Forschung zu Verschwörungserzählungen, Desinformation, Rechtsextremismus sowie Antisemitismus tätig (Center for Monitoring, Analyse und Strategie [CeMAS], 2023). In „Gefährlicher Glaube“ vereinen die Autorinnen ihre Expertisen und arbeiten sich sachlich fundiert durch den „Esoterik-Dschungel“. Dabei legen sie nicht nur die Ursprünge bestimmter esoterischer Richtungen dar und zeigen auf, weshalb solches Denken gesellschaftspolitische Sprengkraft besitzt, sondern widmen sich auch den menschlichen Bedürfnissen und psychologischen Effekten, welche dem Glauben an Esoterik zugrunde liegen.
Inhalt und Aufbau
Als „Esoterik“ wird ursprünglich eine Geheimlehre bezeichnet, die nur eingeweihten Personen zugänglich ist. Heutzutage handelt es sich jedoch um einen schwer einzugrenzenden Sammelbegriff, der unterschiedlichste Glaubenskonstrukte in sich vereint. Typisch für die westliche Esoterik ist, dass Elemente aus verschiedenen Glaubenssystemen vermischt und in einen neuen Kontext gesetzt werden. Esoteriker:innen bedienen sich dabei eines breiten Spektrums aus östlichen Religionen, okkulten Praktiken, Heidentum, Schamanismus, Tarot, Astrologie, bis hin zu Methoden der Psychologie und Psychotherapie sowie vielem mehr. Auch alternative Heilmethoden lassen sich der Esoterik zuordnen. In Deutschland ist der Glaube an Esoterik relativ weit verbreitet. Aus Daten der Leipziger Autoritarismusstudie von 2020 geht hervor, dass ca. 4-6% der Bevölkerung an esoterische Ideen (Astrologie, Wunderheilung, Talismane, Wahrsagen) glauben und ca. 20-34% derartige Ideen zumindest als wahrscheinlich möglich erachten (Lamberty & Nocun, 2022, S. 13–19).
Ob man selbst über eine esoterisch-affine Persönlichkeit verfügt, lässt sich im 1. Kapitel über einen Test herausfinden. Psychologisch geschulte Leser:innen dürften hier entweder direkt stutzig werden oder über sich selbst schmunzeln, falls sie bei der Auswertung feststellen, dass auch sie den Autor:innen auf den Leim gegangen sind. Denn der Test ist nur ausgedacht. Um zu verdeutlichen, wie empfänglich Menschen für den Barnum-Effekt sind, wurden die „Testergebnisse“ als Barnum-Texte verfasst. Solche Texte basieren auf vagen und ungenauen Aussagen; sie betonen positive Eigenschaften, über die jeder gerne verfügen würde, sprechen generische menschliche Ängste und Sorgen an oder beinhalten Kritik, die eigentlich keine ist. Der Barnum-Effekt ist auch als „Täuschung durch persönliche Validierung“ bekannt und trägt u. a. dazu bei, dass Menschen Horoskopen, Wahrsagern oder auch unwissenschaftlichen Persönlichkeitstests, wie dem Myers-Briggs-Typenindikator Glauben schenken, da sie sich durch die im Barnum-Stil verfassten Aussagen gut beschrieben fühlen (Lamberty & Nocun, 2022, S. 28–35).
Nachdem die Leser:innen im 1. Kapitel eine anschauliche Einführung in die Thematik erhalten haben, widmen sich die nachfolgenden Kapitel jeweils einem speziellen Aspekt der Esoterik. Im 2. Kapitel werden die Berührungspunkte von Esoterik mit dem Wunsch nach gesunder Ernährung und ökologischer Landwirtschaft beleuchtet. Das 3. Kapitel klärt über die Gefahren alternativer Heilmethoden und die in der Szene verbreiteten medizinischen Mythen auf. In Kapitel 4 besuchen die Autorinnen eine Esoterik-Messe und nehmen die Tricks der Anbieter:innen unter die Lupe. Das 5. Kapitel befasst sich mit der Wissenschaftsleugnung und dem Betreiben von Pseudowissenschaft durch Esoteriker:innen. Wie sich Esoterik-Angebote im Internet verbreiten, wird in Kapitel 6 thematisiert und in Kapitel 7 ist zu erfahren, ab wann eine Gruppierung sektenartige Züge aufweist. Das 8. Kapitel zeigt die Anknüpfungspunkte von esoterischen Weltbildern an menschenverachtende Ideologien wie Rechtsextremismus und Antisemitismus auf und beleuchtet die historischen Hintergründe dieser Verbindungen. Abschließend legen die Autorinnen in Kapitel 9 dar, warum Esoterik gerade in Krisenzeiten häufig an Bedeutung gewinnt.
Für wen das Buch geeignet ist
Die durchgehend anschaulichen Beispiele und Erklärungen sowie der eher locker und journalistisch gehaltene Schreibstil machen das Buch einer breiten Leserschaft zugänglich. Wissenschaftlich orientierte Leser:innen mögen sich eventuell eine genauere Systematisierung, noch mehr Fakten, Hintergründe und eine neutralere Sprache wünschen. Bei „Gefährlicher Glaube“ handelt es sich jedoch nicht eine Fachpublikation, sondern um ein Sachbuch, welches psychologisch und gesellschaftspolitisch interessierten Menschen einen Überblick über die Thematik bietet. Insbesondere die Ausführungen zu den Strategien der Wissenschaftsleugnung (Kap. 5) sowie zu den in der Esoterikszene verbreiteten Mythen über Medizin (Kap. 3) geben Leser:innen ohne wissenschaftlichen Background gute Argumente an die Hand, wenn bei Gesprächen im Bekanntenkreis bspw. Pseudoexpert:innen zitiert werden oder der Satz „wer heilt, hat recht“ fällt. Meinem Teenager-Ich hätte so manche Information geholfen, um die Erfahrungen mit Esoterik besser einzuordnen. Das Buch ist deshalb auch für Pädagog:innen interessant. Durch die gute Lesbarkeit und die in sich abgeschlossenen Kapitel, bietet es sich an, ausgewählte Themen in den Unterricht verschiedenster Fächer einfließen zu lassen.
Literaturverzeichnis
Center for Monitoring, Analyse und Strategie (Hrsg.). (2023). Über Pia Lamberty. Zugriff am 19.02.2023. Verfügbar unter: https://cemas.io/team/pia-lamberty/
Lamberty, P. & Nocun, K. (2022). Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik (Originalausgabe). Köln: Quadriga.
Nocun, K. (2023). Kattaschas Blog. Zur Person. Zugriff am 19.02.2023. Verfügbar unter: https://kattascha.de/%3Fpage_id%3D393
Bildquelle
Abbildung 1: Beitragsbild – Quelle: Balzereit, I. (2023). Eigene Fotografie „Gefährlicher Glaube“.