Selten unterscheiden sich die Meinungen so sehr wie beim Thema Erziehung. Insbesondere die Generation unserer Großeltern ermutigt uns, dass eine „Tracht Prügel“ Wunder bewirken kann. Die Kinder müssen eben lernen wer der Chef im Haus ist. „Mir hat es ja auch nicht geschadet!“, „Da hatte ich die Prügel aber auch verdient!“ sind nur einige wenige Beispiele, mit denen die Kinder versuchen die Erziehungsmethoden ihrer Eltern zu legitimieren. Dabei ist sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (Köhler 2017, S. 379) Wie die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung auf dem Weg zu einer gewaltfreien Erziehung helfen kann erfahren Sie in diesem Blog-Beitrag.
„Nur ein kleiner Klaps!“ – Gewalt und ihre Folgen
Physische und psychische Gewalt galt bis in die 1960er Jahre als geeignetes Mittel der Züchtigung und wurde sogar als „heilsam“ bezeichnet (Hafeneger 2012, S. 59–60; Pohl 2020, S. 3–4). In der heutigen Literatur bezeichnet man diese Art der Erziehung auch als „autoritär“. Kennzeichnend hierfür sind die emotionale Kälte und psychische Kontrolle der Eltern. Das Kind hat sich den Eltern unterzuordnen und muss deren anspruchsvollen Anforderungen genügen. Andernfalls werden Strafen und Zwang eingesetzt (Berk et al. 2020, S. 415). Unter dem Begriff „Gewalt“ versteht man „eine aggressive Handlung, der bestimmte Motive zuzuordnen sind und die sehr unterschiedliche Folgen haben kann“ (Hantel-Quitmann 2015, S. 22). Schon Pernhaupt und Czermak (1980, S. 60–61) wiesen auf die Folgen physischer Gewalt hin, die sich, neben den dadurch entstehenden körperlichen Schäden, hauptsächlich in psychosomatischen Symptomen äußern.
Die bindungsorientierte Erziehung als Ansatz für Veränderung
Auch wenn sich die Ansichten im Wandel befinden, kommt es auch heute noch zu Gewalthandlungen in der Erziehung. „Eltern haben ein erhöhtes Risiko ihre Kinder mit körperlicher Gewalt zu misshandeln, wenn sie in ihrer Kindheit selbst – direkte oder indirekte – Gewalterfahrungen gemacht haben, es zu partnerschaftlicher Gewalt kommt, ein oder beide Eltern eine psychische Erkrankung haben oder sie sich im stressigen Erziehungsalltag überfordert fühlen.“ (Hantel-Quitmann 2015, S. 25–26) Es ist also die Aufgabe der Eltern, sich mit der eigenen Erziehung auseinanderzusetzen und dafür zu sorgen, dass Stress oder andere ungünstige Lebensumstände nicht fälschlicherweise auf die Kinder attribuiert werden. Doch wie gelingt das?
Ein Ansatz hierfür ist die bindungs- bzw. bedürfnisorientierte Erziehung (engl. attachment parenting), die auf einer sicheren Bindung zwischen Kind und Bezugsperson basiert (Granju und Kennedy 1999, S. 3). Als Bindung wird dabei die feste emotionale Beziehung des Kindes zu seiner Bezugsperson bezeichnet (Wilkening et al. 2009, S. 67). Grundprinzip dieses Erziehungsstils ist es, die Signale des Kindes zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren (Miller und Commons 2010, S. 1). Damit zählt sie zur autoritativen Erziehung, im Rahmen derer die Eltern besonders einfühlsam und liebevoll auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehen. Darüber hinaus stellen die Eltern ihre Anforderungen stets im Kontext seines Entwicklungsfortschritts, sodass diese auch erfüllt werden können. Das Kind wird als eigenständiges Individuum anerkannt und darf entsprechend seiner Entwicklung selbstständig Entscheidungen treffen (Berk et al. 2020, S. 414). Dennoch wird auch die Wichtigkeit der Bedürfnisse der Eltern berücksichtigt. Granju und Kennedy (1999, S. 9) betonen, dass die bindungsorientierte Erziehung nicht auf das Kind, sondern auf die Familie zentriert ist. Die Organisation Attachment Parenting International (2020) formuliert dazu verschiedene Prinzipien, nach denen besonders die Ausgeglichenheit der Eltern unabdingbar ist. Eine gute physische und psychische Gesundheit sowie ein wertschätzendes und unterstützendes soziales Umfeld verhindern, dass Eltern sich selbst vergessen und letztlich ausgebrannt sind.
Praktische Tipps für den Alltag
Der Arbeitskreis Neue Erziehung e. V. und Unverzagt (2001) stellen verschiedene Beispiele aus dem Familienalltag zur Verfügung und geben dazu Handlungsempfehlungen. Zunächst ist es besonders wichtig, dass die Eltern in Konfliktsituationen ihre eigenen Gefühle thematisieren. Dabei sollten Sätze in der Ich-Form formuliert werden, da sie so besser von den Kindern verstanden werden können. Das Kind lernt und versteht wieso die Eltern Regeln aufstellen, kann diese besser nachvollziehen und zeigt sich kooperativer in deren Einhaltung. Absprachen, Rituale und Regeln geben dem Kind die Orientierung, die es braucht. Eltern und Kind stellen stets ein Team dar. Respekt und Achtung sind die Grundpfeiler dieser Beziehung, sodass sowohl die Wünsche des Kindes als auch diejenigen der Eltern beachtet werden sollten. In Konfliktsituationen sind das rechtzeitige Eingreifen und Lenken der Situation notwendig, sodass es nicht zur Eskalation kommt. Zudem können eine großzügigere Zeitplanung sowie die Kommunikation von festen Terminen bspw. Hektik und Konflikten vorbeugen, sodass diese erst gar nicht aufkommen. Dabei gilt aber auch, dass die Eltern sich in Geduld und Reflexion üben. Insbesondere Kleinkinder entdecken ihre Welt noch, spielen bspw. gerne mit dem Essen. Gute Hilfsmittel, um die Situation und die Nerven der Eltern zu entschärfen sind das Anbieten von Ersatzhandlungen bzw. Ablenkung. Grenzüberschreitungen sollten zwar klar thematisiert werden, jedoch kann ein Kind nur so lernen, wo die Grenzen genau liegen. Wenn Eltern ihr Kind anerkennen und anhören, in Kommunikation mit ihm treten und ihm auch einen eigenen Handlungsspielraum geben, wirkt sich dies enorm auf dessen Kooperationsbereitschaft aus. Strafen und Gewalt hingegen demütigen und entwürdigen das Kind. Es stumpft ab und lernt, dass der Stärkere gewinnt. Wer dennoch kurz vor der Eskalation steht, dem wird geraten sein Kind an einen sicheren Ort zu bringen, sich zu verabschieden und eine kurze Auszeit zu nehmen. Die Wut rauslassen, sich einen Moment der Ruhe gönnen und Abstand gewinnen. Anschließend sollte jedoch wieder der (Körper-)Kontakt zum Kind hergestellt werden. (Arbeitskreis Neue Erziehung e. V. und Unverzagt 2001) Wer die Bedürfnisse seines Kindes achtet, der minimiert kindlichen Stress (Miller und Commons 2010, S. 5) und erzieht diese zu mitfühlenden, hilfsbereiten und disziplinierbaren Menschen (Granju und Kennedy 1999, Introduction).
Persönliches Fazit
Gewalt ist in der Erziehung immer fehl am Platz. Schläge und psychische sowie emotionale Bestrafungen richten vielmehr erheblichen Schaden an. Dem Kind wird vermittelt, dass es funktionieren und sich, ungeachtet seiner eigenen Bedürfnisse, an diejenigen der Eltern anpassen muss. Die Unwissenheit und Überforderung der Eltern führen dabei zu unrealistischen und übertriebenen Ansprüchen gegenüber ihren Kindern. Die heutige Forschung lehrt uns jedoch, dass die einzelnen Entwicklungsschritte eines Kindes bedeutsam für die Erziehung sind. Die Bindungsorientierung stellt eine gute Basis dar, um den Eltern einen neuen bedürfnisorientierten Weg der Erziehung aufzuzeigen, der auch wesentlich auf sie selbst fokussiert ist. Unabdingbar für eine Veränderung ist es aber, dass die Eltern endlich Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und auch die eigene Erziehung kritisch hinterfragen.
Literaturverzeichnis
Arbeitskreis Neue Erziehung e. V.; Unverzagt, Gerlinde (2001): Mit Respekt geht’s besser – Kinder gewaltfrei erziehen. 1. Aufl. Hg. v. Arbeitskreis Neue Erziehung e. V. Berlin. Online verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/mit-respekt-geht-s-besser—kinder-gewaltfrei-erziehen/96294?view=DEFAULT, zuletzt geprüft am 05.09.2020.
Attachment Parenting International (2020): API’s Eight Principles of Parenting. Online verfügbar unter https://www.attachmentparenting.org/principles/api, zuletzt geprüft am 02.09.2020.
Berk, Laura E.; Schmidt, Toni; Petersen, Karsten (2020): Entwicklungspsychologie. 7., aktualisierte Auflage (ps. Psychologie).
Granju, Katie Allison; Kennedy, Betsy (1999): Attachment parenting / Katie Allison Granju. Instinctive care for your baby and young child. New York: Pocket Books.
Hafeneger, Benno (2012): Strafen, prügeln, missbrauchen. Gewalt in der Pädagogik. 1. Aufl. s.l.: Brandes Apsel Verlag.
Hantel-Quitmann, Wolfgang (2015): Klinische Familienpsychologie. Familien verstehen und helfen. Stuttgart: Klett-Cotta (Fachbuch Klett-Cotta).
Köhler, Helmut (2017): Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz, Produkthaftungsgesetz, Unterlassungsklagengesetz, Wohnungseigentumsgesetz, Beurkundungsgesetz und Erbbaurechtsgesetz. 79., überarbeitete Auflage, Stand: 10. Januar 2017. München: dtv; C.H. Beck oHG (dtv Beck-Texte im dtv, 5001).
Miller, Patrice Marie; Commons, Michael Lamport (2010): The benefits of attachment parenting for infants and children: A behavioral developmental view. In: Behavioral Development Bulletin 16 (1), S. 1–14. DOI: 10.1037/h0100514.
Pernhaupt, Günter; Czermak, Hans (1980): Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern. S.l., Wien: Pietsch; Orac.
Pohl, Gabriele (2020): Die Würde des Kindes ist antastbar. Plädoyer für eine Kindheit ohne Beschämung. Wiesbaden, [Heidelberg]: Springer (essentials).
Wilkening, Friedrich; Freund, Alexandra M.; Martin, Mike (2009): Entwicklungspsychologie kompakt. Mit Add-on. Weinheim: Beltz PVU (Grundlagen Psychologie).
Beitragsbild von Gerd Altmann (Nutzername: „geralt“) auf Pixabay: https://pixabay.com/de/photos/gewalt-m%C3%A4dchen-mann-hand-schlagen-4259802/