An manchen Tagen fühlen wir uns einfach dünnheutiger als sonst. Doch was ist, wenn das immer so wäre?
In diesem Beitrag wird auf das Konstrukt Hochsensibilität eingegangen. Hochsensible Menschen nehmen Reize intensiver als andere wahr. Diese Begabung kann von Vorteil sein, viele leiden jedoch darunter: Selbstzweifel kommen auf und Stress beherrscht den Alltag.
Ein typischer Moment
Lea macht sich mal wieder Vorwürfe, dass sie nicht so unbeschwert wie ihre Kolleginnen war. Diese stellten nämlich nichts in Frage und rechneten bei Projekten nicht mit Zwischenfällen, die passieren könnten. Aber wieder etwas zu sagen, damit würde sich Lea nur unbeliebt machen, also ließ sie es. In der Mittagspause legte sich die Anspannung durch die Ruhe etwas. Doch nach kurzer Zeit bedrängten sie die vielen Reize: das Rauschen der Klimaanlage, das leise Pfeifen der Heizung, tickende Uhren… die Liste führt schier ins endlose. Als sie zurück zu ihrem Arbeitsplatz lief, hörte Lea ihre Kollegen lachen. Hätte sie sich heute doch schminken sollen? Bestimmt lachen Sie deshalb. Wie soll sie nur den Tag überstehen, ohne durchzudrehen.
Wie dieses Beispiel nochmal verdeutlich, ist Hochsensibilität die Veranlagung, deutlich mehr äußere und innere Reize aufzunehmen und zu verarbeiten, als es bei Normalsensiblen der Fall ist. Dies geschieht unbewusst. Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch eine Störung, sondern eine strukturelle Variation des neuronalen Systems. Dies ist bei ca. 15 bis 20 % aller Menschen, gleich welchen Alters, Geschlechts oder welcher Kultur der Fall – soweit der derzeitige Stand der Wissenschaft (Roemer, C. 2017).
Die Psychologin Sandra Konrad forschte an der Helmut-Schmidt- Universität der Bundeswehr Hamburg rund um das Thema Hochsensibilität. Sie kommt zu dem Schluss, dass „Hochsensibilität keine psychische Störung, sondern ein besonderes Temperament“ ist (Reinhardt, S. 2015). Die Wurzeln der Temperamentsforschung liegen in der, dem griechischen Arzt Hippokrates zugeschriebenen, Temperamentenlehre aus der Zeit 460 bis 370 v. Chr., aber den derzeitigen Terminus für diese Veranlagung prägte Elaine N. Aron im Laufe ihrer Forschungen Anfang der 1990er-Jahre (Roemer, C. 2017). Die amerikanische Psychologin veröffentlichte 1996 ihr erstes Buch The Highly Sensitive Person mit dem genialen Untertitel How to thrive when the world overwhelmes you (Sellin, R. 2011). Das Wissen über die Veranlagung zeichnet sich bisher durch wenige wissenschaftliche Erkenntnisse aus, die sich jedoch in den letzten Jahren mehren. Das Konstrukt der Hochsensibilität muss sich demnach noch einigen Überprüfungen und Korrekturen stellen.
Der beste Schutz ist, dahin zu gehen, wo du dich geliebt und anerkannt fühlst, wo du sein darfst, wie du bist, und alle anderen Situationen nach und nach hinter dir zu lassen.
Hühn, S. / Moberg, M. (2020)
Typologie
Es gibt verschiedene Ausdrucksformen der Hochsensibilität. Es kommt darauf an, welche Wesenszüge und Veranlagungen bei einem Menschen parallel zur Feinfühligkeit ausgeprägt sind – beispielsweise extrovertiertes oder introvertiertes Temperament, langsamer oder schneller Typus, kreativer oder praktischer Mensch –, zeigt sich die Hochsensibilität in unterschiedlicher Weise. Aus diesem Grund werden die gleich aufgeführten Merkmale nicht bei allen Hochsensiblen gleichermaßen zutreffen. Meist entsteht die Unterschiedlichkeit gezeigter Hochsensibilität durch bevorzugte und weniger bevorzugte Wahrnehmungsweisen. Die im Folgenden aufgeführten Eigenschaften sind die meiner Meinung nach relevantesten, decken aber keinesfalls alle ab (Roemer, C. 2017):
- hohe Reizaufnahme (überwiegend unbewusst),
- sensorische Empfindlichkeit (Lärm, Gerüche, …),
- schnelle Überreizung (Auswirkung der überwiegend unbewussten reichhaltigen Informationsaufnahme),
- schnell aufgeregt/erregt (das Gehirn ist durch sensorische Eindrücke leicht ansprechbar und aktiv),
- reges Innenleben (Situationen werden vor- und nachgedacht; das ist eine innere Vorbereitung und Auswertung von Situationen, hilft für zukünftige Situationen, Reize zu reduzieren; intensive Problemlösungsbearbeitung),
- Neigung zu schneller Erschöpfung (das System braucht Zeit zur Verarbeitung),
- stärkeres Rückzugsbedürfnis (Verarbeitung der aufgenommenen Reize),
- großes Harmoniebedürfnis (Stress und Streit implizieren Reizüberflutung),
- hohe Begeisterungsfähigkeit (schnelle Erregbarkeit des Gehirns),
- sehr vielseitige Interessen (viel Information wird vielseitig verwendet),
- oft sehr einfühlsam (detaillierte Wahrnehmung des Gegenübers führt zum Erkennen der Person oder ihrer Bedürfnisse),
- denken ganzheitlich und vernetzt (Gehirn benutzt die aufgenommene Vielfalt),
- sehr kreativ, künstlerisch begabt und/oder ideenreich (viel Information wird vielseitig verwendet).
Fazit
Das Konstrukt der Hochsensibilität bietet für viele schwer nachvollziehbare menschliche Verhaltens- und Empfindungsweisen ein interessantes und konstruktives Modell, dem sich bislang viele Betroffene positiv zuwenden konnten. In Zeiten zunehmender Normeingrenzungen ist dieser Erklärungsansatz menschlichen Empfindens und Verhaltens sehr unterstützend – nicht nur für die Betroffenen selbst (Roemer, C. 2017). Falls dich das Thema interessiert, können beispielsweise auf der Seite http://www.hochsensibel.org/ weitere Informationen eingeholt werden. Hier findest du wissenschaftliche Publikationen und alles weitere rund um das Thema Hochsensibilität.
Quellen
Hühn, S. / Moberg, M. (2020). Emotionaler Schutz – Die besten Tipps, wie du deine Seele schützt und zu innerer Stärke findest. Schirner Verlag, Darmstadt. S.1
Roemer, Cordula (2017). Hochsensibilität – eine Veranlagung stellt sich vor. Springer, Berlin. S. 7-21.
Sellin, R. (2011). Wenn die Haut zu dünn ist, Hochsensibilität – Vom Manko zum Plus. Kösel Verlag, München. S. 5-11.
Beitragsbild: kostenlos von WiPub – We publish!
Reinhardt, S. in: Psychologie Heute (2015). „Hochsensibilität ist keine psychische Störung, sondern ein besonderes Temperament“. https://bit.ly/3x3rc6g, abgerufen am 02.11.21.