Perfektionismus und Prokrastination passen nicht zusammen. Zwei Gegensätze, die in völlig unterschiedliche Richtungen schauen, oder etwa doch nicht? Herausragenden Leistungen des Perfektionismus stehen dem vermeidenden, aufschiebenden oder gar vernachlässigten Verhalten der Prokrastination gegenüber. Doch so unterschiedliche beide Aspekte sind, so stehen Perfektionismus und Prokrastination in enger Wechselwirkung zueinander, was zu erheblichem Stress und psychischer Belastung führen kann. Diese Beziehung stellt oft eine enorme Herausforderung für betroffene Personen dar, und wirft auch wichtige Fragen für die psychologische Forschung auf.
Perfektionismus – Segen oder Fluch?
Perfektionismus lässt sich als Persönlichkeitsmerkmal definieren, welches mit hohen Standards, das Streben nach Fehlerfreiheit und starke Selbstkritik (Flett, Besser, Davis & Hewitt, 2003, S. 120; Höcker, Engberding & Rist, 2021, S. 25). Besonders maladaptiver Perfektionismus, bei dem unrealistische Erwartungen und starke Angst vor Fehlern dominieren, wird als belastend angesehen und empfunden. Diese Form des Perfektionismus führt oft zu enormer Selbstkritik und der Tendenz, sich durch Rückschläge stark entmutigen zu lassen wahrgenommen (Spitzer, 2016, S. 12).
Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
Menschen mit ausgeprägtem Perfektionismus sind einem erhöhten Risiko für psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen und Essstörungen ausgesetzt (Flett et al., 2003, S. 121-122). Nils Spitzer (2016) betont, dass Perfektionismus durch seinen ständigen Fokus auf Schwächen das Selbstwertgefühl langfristig schwächen kann (S. 18). Die ständige Angst, Erwartungen nicht zu erfüllen, führt oft zu chronischem Stress und einem Gefühl des „mangelhaft“ zu sein. Pathologischer Perfektionismus ist eng mit verschiedenen psychischen Störungen verbunden, darunter Depressionen, Angststörungen und Essstörungen (Stoeber & Otto, 2006, S. 297). Die ständige Angst, nicht zu genügen, erzeugt einen inneren Druck, der in chronischen Stress münden kann. Dieser kann wiederum physiologische Reaktionen wie Schlaflosigkeit und andere körperliche Erschöpfungszustände auslösen (Wegerer, 2023, S. 116).
Prokrastination – mehr als nur Aufschieben
Prokrastination bezeichnet das absichtliche Aufschieben von Aufgaben trotz negativer Konsequenzen und kann als Störung der Selbststeuerung gesehen werden. (Steel, 2007, S. 66; Höcker, Engberding & Rist, 2022, S. 7-8). Laut Studien neigen bis zu 20 % der Bevölkerung zu chronischer Prokrastination. Besonders häufig tritt Prokrastination bei Studierenden auf, von denen 50 % angaben, regelmäßig unter diesem Verhalten zu leiden (Steel, 2007, S. 65). Prokrastination wird oft fälschlicherweise mit Faulheit gleichgesetzt, ist jedoch meist ein Symptom tieferliegender psychischer Prozesse wie Angst, Selbstzweifel, Scham oder auch Depressivität (Höcker, Engberding & Rist, 2022, S. 7)
Ursachen und Folgen der Prokrastination
Das kurzfristige Vermeiden von meist unangenehmen Aufgaben verschafft zwar eine vorübergehende Erleichterung, führt jedoch langfristig zu erhöhtem Druck (Höcker, Engberding & Rist, 2021, S. 28). Ein zentraler Faktor der Prokrastination ist die sogenannte „temporale Diskrepanz“ (oder kurzfristig-langfristig-Dilemma), also die Tendenz, kurzfristige Belohnungen über langfristige Ziele zu stellen. Hinzu kommen emotionale Blockaden wie die Angst vor Misserfolg oder Selbstwertzweifel, die den Beginn oder die Vollendung einer Aufgabe erschweren. Die Folgen reichen von Stress und Schuldgefühlen bis hin zu ernsthaften Einschränkungen der beruflichen und persönlichen Entwicklung, da Betroffene das Gefühl haben, den eigenen oder fremden Erwartungen nicht gerecht zu werden (Steel, 2007, S. 68-70; Höcker, Engberding & Rist, 2022, S. 20-22).
Psychische und physische Belastungen durch Aufgeschobenes
Das pathologische Aufschieben kann zu erheblichen psychischen Beeinträchtigungen führen. Zu beachten ist aber, dass Prokrastination keine eigenständige ICD-10 oder DSM-5 ist. Auch wenn es zu einem krankhaften Verhaltensmuster kommt. Aufgrund dieses dysfunktionalen Verhaltens kann es bei Betroffenen zu psychischen Belastungen oder psychischen Störungen kommen. Diese reichen von Schuldgefühlen und das Bewusstsein über unerledigte Aufgaben, Unzufriedenheit, Anspannung, chronischer Stress, Depressivität bis hin zu Depressionen und Burnout. Zusätzlich erfahren Betroffene auch physische Beschwerden wie Magenschmerzen, Verspannungen, innere Unruhe, Schlafprobleme (Höcker, Engberding & Rist, 2022, S. 7).
Paradoxe Verbindung – Wechselwirkung von Perfektionismus und Prokrastination
Obwohl Perfektionismus und Prokrastination widersprüchlich erscheinen, bilden sie oft unvorteilhaft eine Beziehung zueinander. Perfektionist*innen setzen sich häufig so hohe Standards, dass sie aus Angst vor dem Versagen lieber gar nicht erst anfangen (Spitzer, 2016, S. 34). Perfektionismus und Prokrastination scheinen auf den ersten Blick gegensätzlich, doch stehen sie meist in einer Wechselbeziehung. Perfektionistische Menschen setzen sich oft unerreichbare Ziele, was die Angst vor Misserfolg verstärkt. Diese Angst kann dazu führen, dass Aufgaben aufgeschoben werden, um sich vor dem drohenden Scheitern zu schützen (Wegerer, 2023, S. 116). Selbstkritik, Versagensängste und die Angst vor negativer Bewertung befeuern also das perfektionistische Verhaltensmuster und erhöhen dadurch das pathologische Aufschieben. Im ersten Moment werden mit diesem Vermeidungsverhalten die negativen Gefühle beiseitegeschoben, aber dieses Verhalten führt zur Prokrastination, was wiederum ironischerweise den Perfektionismus weiter anheizt (Wegerer, 2023, S. 116-117; Höcker, Engberding & Rist, 2021, S. 25). Dieser Teufelskreis führt zu einer Dysbalance der emotionsregulatorischen Ressourcen. Das perfektionistische Arbeiten an Details und die ständige Selbstüberprüfung und -kontrolle nehmen viel Zeit und Energie in Anspruch, und damit den Fortschritt behindert und die Wahrscheinlichkeit von Prokrastination erhöht. Das Ergebnis sind Ängste, Befürchtungen, Leistungsabfälle und Selbstabwertung, die sich in beiden Richtungen negativ auf das psychische Wohlbefinden Betroffener auswirken (Höcker, Engberding & Rist, 2021, S. 30). Es zeigt sich hier, dass diese paradoxe Verbindung ein Risikofaktor ist und zu psychischen Belastungen führt, die bis hin zu chronischem Stress, Burnout, Angststörungen und Depressionen führen kann.
Wege aus dem Teufelskreis – Lösungsansätze und Interventionen
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) – therapeutische Interventionen
Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als besonders effektiv erwiesen, um sowohl Perfektionismus als auch Prokrastination zu behandeln. Ziel ist es, dysfunktionale Denkmuster zu identifizieren und zu verändern, die das Aufschieben und die übermäßige Selbstkritik aufrechterhalten (Rozental & Carlbring, 2014, S. 1496-1497; Wegerer, 2023, S. 120).
Selbstmitgefühl und Achtsamkeit durch Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT) und Acceptence and Commitment Therapy (ACT)
Ein weiterer Ansatz ist die Förderung von Selbstmitgefühl und Achtsamkeit, um die innere kritische Stimme zu besänftigen und den Fokus auf den Moment zu richten Selbstmitgefühl hilft, Fehler als Teil des Lernprozesses zu akzeptieren, während Achtsamkeitsübungen die emotionale Regulation unterstützen. Mit der MBCT sowie auch mit der ACT können durch Psychoedukation und Identifikation dysfunktionaler Verhaltensweisen in Kombination mit Achtsamkeitsübungen, das Selbstmitgefühl gestärkt werden. Zusätzlich kann Abstand zu negativen Gedanken gewonnen werden. Das wiederum hilft Betroffenen Fokus auf persönlich wichtige Ziele zu setzen und diese schrittweise zu erreichen (Neff, 2003, S. 87; Wegerer, 2023, S. 121-122).
Fazit
Die Wechselwirkung zwischen Perfektionismus und Prokrastination stellt eine ernsthafte Herausforderung für die psychische Gesundheit dar. Der perfektionistische Druck, fehlerlos zu sein, eigenen sowie fremden Ansprüchen zu genügen und die Angst vor Versagen führen häufig zu einem Prokrastinationsverhalten, welches (chronischen) Stress verstärkt. Ein besseres Verständnis dieser Wechselbeziehung durch Psychoedukation und Sensibilisierung zu diesem Thema können Betroffenen helfen, dieses dysfunktionale Verhalten zu erkennen und mit geeigneten Interventionen zu verändern. Damit lässt sich ein Gleichgewicht zwischen ambitionierten Zielen und einem gesunden Umgang mit Fehlern und auch Misserfolgen herstellen.
Literaturverzeichnis
Flett, G.L., Besser, A., Davis, R.A. & Hewitt, P.L. (2003). Dimensions of perfectionism, unconditional self-acceptance, and depression. Journal of Rational-Emotive & Cognitvie-Behavior Therapy, 21(2), 119-138. doi: https://www.doi.org/10.1023/A:1025051431957
Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2022). Prokrastination – Extremes Aufschieben (1. Auflage). Göttingen: Hogrefe
Höcker, A., Engberding, M., & Rist, F. (2021). Heute fange ich wirklich an! Prokrastination und Aufschieben überwinden – ein Ratgeber (2. Auflage). Göttingen: Hogrefe.
Neff, K. D. (2003). Self-compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity, 2:85-101. doi: https://www.doi.org/10.1080/15298860390129863
Rozental, A., & Carlbring, P. (2014). Understanding and treating procrastination: A review of a common self-regulatory failure. Psychology, 5, 1488-1502. doi: https://www.doi.org/10.4236/psych.2014.513160
Spitzer, N. (2016). Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen. Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung (1. Auflage) Berlin: Springer.
Steel, P. (2007). The nature of procrastination: A meta-analytic and theoretical review of quintessential self-regulatory failure. Psychological Bulletin, 133(1), 65-94. doi: https://www.doi.org/10.1037/0033-2909.133.1.65
Stoeber, J., & Otto, K. (2006). Positive conceptions of perfectionism: Approaches, evidence, challenges. Personality and Social Psychology Review, 10(4), 295-319. doi: https://www.doi.org/10.1207/s15327957pspr1004_2
Wegerer, M. (2023). Verhaltenstherapeutische Behandlung von Perfektionismus: Ein Überblick über Forschungsstand und praktisches Vorgehen. Verhaltenstherapie, 33:115-125. doi: https://www.doi.org/10.1159/000531483
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