Im Jahr 2011 wurde Fauja Singh im Alter von 100 Jahren der älteste Mensch, der jemals einen Marathon absolvierte. Als Singh die Ziellinie überquerte, widersetzte er sich nicht nur den altersbedingten Erwartungen, sondern weckte auch die Neugierde auf die Frage, warum manche Menschen so würdevoll altern können, während andere mit chronischen Gesundheitsproblemen kämpfen (Kalra, Kalra & Agrawal, 2013). Seine Geschichte wirft eine faszinierende Frage auf: Wie kann ein Mensch so vital bleiben, während andere an den Schwächen des Alters zugrunde gehen?
Die Antwort könnte in der Wissenschaft des „Inflammaging“ zu finden sein, einem Konzept, das die mit dem Altern verbundenen chronischen, geringgradigen Entzündungen untersucht. Dieser Beitrag befasst sich mit Entzündungen und seinen Auswirkungen auf die Langlebigkeit sowie mit möglichen Strategien zur Bekämpfung seiner Auswirkungen. Er hilft uns zu verstehen, wie wir alle danach streben können, in unseren späteren Jahren die Vitalität von Fauja Singh zu erlangen.
Was ist „Inflammaging“?
Wie zu erraten, setzt sich der Begriff aus zwei Wörtern zusammen: „Inflammation“ = Entzündung und „Aging“ = Altern. Aber was bedeuten die beiden Zustände und wie hängen sie zusammen?
Entzündungen sind Teil der komplexen biologischen Reaktion unseres Immunsystems auf schädliche Reize wie Krankheitserreger, geschädigte Zellen oder Reizstoffe und dienen dem Schutz und der Heilung. Bei akuten Entzündungen beginnt ein eingebauter Mechanismus der Entzündungshemmung zeitgleich mit der Entzündung, um dauerhafte Schäden zu verhindern. Unkontrollierte Entzündungen können jedoch schädlich sein und zu entzündlichen Erkrankungen führen. Chronische Entzündungen entstehen immer dann, wenn Herausforderungen andauern oder die Immunantwort nicht richtig reguliert wird (Giridharan, 2023, S. 179; Lewis & Trempe, 2017, S. 196-199). Altern ist ein komplexer, vielschichtiger Prozess, der nicht nur eine Ursache hat. Fest steht jedoch mittlerweile, dass chronische, niedriggradige Entzündungen, die aus einem erhöhten entzündungsfördernden Zustand resultieren, zu den fortschreitenden Veränderungen bei Alterungsprozess beitragen. „Inflammaging“ beschreibt in diesem Sinne vorherrschende Entzündungen des Körpers in zunehmendem Alter, die aus einem Ungleichgewicht zwischen dem angeborenem und dem adaptivem Immunsystem resultieren (Fülöp, Larbi, & Witkowski, 2019, S. 496-499; Giridharan, 2023, S. 179). Mehrere Faktoren tragen zur Entwicklung dieser Entzündungen bei, darunter eine genetische Veranlagung, Umwelteinflüsse, Lebensstilentscheidungen und die lebenslange Anhäufung von Antigenen aus Infektionen und Verletzungen sowie seneszenten Zellen (Zellen, die sich nicht mehr teilen). Zellulärer Stress, freie Radikale, zirkulierender Zucker und andere biochemische Auslöser wie Harnsäurekristalle und oxidierte Lipoproteine können ebenfalls die Entzündung verstärken (Giridharan, 2023, S. 179; Lewis & Trempe, 2017, S. 199). „Inflammaging“ gilt daher als Risikofaktor für viele altersbedingte Krankheiten wie Adipositas, metabolisches Syndrom, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Depression und Alzheimer, da sie eine gemeinsame chronisch entzündliche Pathogenese aufweisen (Minciullo et al., 2015, S. 112).
Die Rolle der Zytokine
Zytokine sind kleine Proteine, die von Zellen freigesetzt werden und eine spezifische Wirkung auf die Interaktionen und die Kommunikation zwischen Zellen haben. Sie sind sowohl an der Entzündungsförderung als auch an der Entzündungshemmung beteiligt (Minciullo et al., 2015, S. 112-123). Ältere Erwachsene zeigen erhöhte Mengen an entzündungsfördernden Zytokinen wie IL-1, IL-6 und TNF-alpha, welche mit verschiedenen altersbedingten Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Anhaltend hohe Konzentrationen von Zytokinen führen z.B. zum Absterben neuronaler Vorläuferzellen und verhindern die Bildung und Reifung neuer Nervenzellen (Lewis & Trempe, 2017, S. 196-199). Umgekehrt tragen entzündungshemmende Zytokine wie IL-10 und TGF-beta dazu bei, diesen Effekten entgegenzuwirken und ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten (Minciullo et al., 2015, S. 112-123).
Entzündungen und Langlebigkeit
Das Gleichgewicht zwischen entzündungsfördernden und entzündungshemmenden Reaktionen ist der Schlüssel zum Verständnis der Langlebigkeit. Menschen, die 100 Jahre oder älter werden, weisen häufig ein einzigartiges Immunprofil auf, das durch ein empfindliches Gleichgewicht zwischen diesen gegensätzlichen Kräften gekennzeichnet ist. Sie weisen tendenziell höhere Werte bestimmter entzündungshemmender Zytokine auf, die dazu beitragen können, die nachteiligen Auswirkungen chronischer Entzündungen abzuschwächen. Die Forschung hat gezeigt, dass das Vorhandensein einer chronischen, geringgradigen Entzündung nicht unbedingt die Langlebigkeit ausschließt, sondern dass vielmehr die Fähigkeit, diese Entzündung wirksam zu kontrollieren und ihr entgegenzuwirken, entscheidend ist. Dieses Phänomen wird als „Entzündungshemmung“ bezeichnet, bei der der Körper kompensatorische Mechanismen einsetzt, um das entzündungsfördernde Umfeld auszugleichen (Fülöp, Larbi, & Witkowski, 2019; Minciullo et al., 2015, S.112).
Ernährungs- und bewegungsspezifische Interventionen
Welche Maßnahmen können nun zu einer „Entzündungshemmung“ beitragen?
Eine entzündungshemmende Ernährung und körperliche Aktivität hat sich als optimale Antwort auf Entzündungen im Alter bewährt (Wawrzyniak-Gramacka et al., 2021). So wird eine Ernährung, die reich an Antioxidantien und entzündungshemmenden Stoffen ist, mit einem hohen Anteil an Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten, wie sie in der mediterranen Ernährung zu finden sind, mit niedrigeren Werten von Entzündungsmarkern in Verbindung gebracht. Bestimmte Nährstoffe wie Omega-3-Fettsäuren, Polyphenole und die Vitamine C und E haben entzündungshemmende Eigenschaften und können dazu beitragen, das Risiko chronischer Krankheiten zu verringern (Di Giosia, 2022, S. 1-8). Auch regelmäßige körperliche Aktivität ist eine wirksame Strategie zur Reduzierung chronischer Entzündungen. Myokine sind Zytokine, die von Muskelzellen während der Kontraktion freigesetzt werden. Diese können ebenfalls entzündungshemmende Wirkungen haben. So kann Bewegung unter anderem die Produktion von dem entzündungshemmenden Myokin IL-10 im Körper erhöhen. Besonders Ausdauersportarten wie Laufen und Radfahren wurden mit einer erhöhten IL-10-Produktion in Verbindung gebracht (Laube, 2023, S. 288-289).
Die Zukunft der Anti-Entzündungsforschung
In dem Maße, wie sich unser Verständnis der Mechanismen, die der Entzündung zugrunde liegen, vertieft, entstehen neue therapeutische Strategien, die darauf abzielen, die Immunantwort zu modulieren und chronische Entzündungen zu reduzieren.
Längsschnittstudien und fortschrittliche bioinformatische Modelle werfen weiterhin Licht auf das komplizierte Gleichgewicht der Zytokine und die Auswirkungen des Lebensstils auf den Alterungsprozess. Die künftige Forschung wird sich wahrscheinlich auf personalisierte Ansätze konzentrieren, um die Auswirkungen des „Inflammaging“ zu mildern und ein gesundes Altern zu fördern (Fülöp, Larbi, & Witkowski, 2019, S. 503).
Fazit
„Inflammaging“ beleuchtet die Rolle chronischer, niedriggradiger Entzündungen im Alterungsprozess, welche ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung altersbedingter Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und neurodegenerative Störungen darstellen. Regelmäßige körperliche Aktivität, eine entzündungshemmende Ernährung und ein gesunder Lebensstil können helfen, Entzündungen in den Griff zu bekommen und ein längeres, gesünderes Leben zu fördern. Wenn wir die Rolle der Zytokine, die Faktoren, die zur Entzündung beitragen, und mögliche Interventionen verstehen, können wir Strategien entwickeln, um die Gesundheit und Lebensqualität der alternden Bevölkerung zu verbessern.
Literatur
Di Giosia, P., Stamerra, C. A., Giorgini, P., Jamialahamdi, T., Butler, A. E. & Sahebkar, A. (2022). The role of nutrition in inflammaging. Ageing Research Reviews, 77, 101596. https://doi.org/10.1016/j.arr.2022.101596
Fülöp, T., Larbi, A. & Witkowski, J. M. (2019). Human inflammaging. Gerontology, 65(5), 495–504. https://doi.org/10.1159/000497375
Giridharan, V. V., Generoso, J. S., Collodel, A., Sayana, P. & Barichello, T. (2023). The impact of systemic inflammation on neuroinflammation. In Elsevier eBooks (S. 169–188). https://doi.org/10.1016/b978-0-323-85841-0.00010-9
Kalra, S., Kalra, B., & Agrawal, N. (2013). As fit as Fauja Singh. Journal of Medical Nutrition and Nutraceuticals, 2(2), 59-59.
Laube, W. (2023). Bewegungsmangel: Dekonditionierung, Krankheit, Schmerzen, Altern (1. Aufl.). Springer Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662- 67753-7
Lewis, T. J. & Trempe, C. L. (2017). Inflammation Friend or Foe? In Elsevier eBooks (S. 192–241). https://doi.org/10.1016/b978-0-12-812112-2.00007-0
Minciullo, P. L., Catalano, A., Mandraffino, G., Casciaro, M., Crucitti, A., Maltese, G., Morabito, N., Lasco, A., Gangemi, S. & Basile, G. (2015). Inflammaging and Anti-Inflammaging: The Role of Cytokines in Extreme Longevity. Archivum Immunologiae Et Therapiae Experimentalis, 64(2), 111–126. https://doi.org/10.1007/s00005-015-0377-3
Wawrzyniak-Gramacka, E., Hertmanowska, N., Tylutka, A., Morawin, B., Wacka, E., Gutowicz, M. & Zembron-Lacny, A. (2021). The Association of Anti-Inflammatory Diet Ingredients and Lifestyle Exercise with Inflammaging. Nutrients, 13(11), 3696. https://doi.org/10.3390/nu13113696
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