By Published On: 18. März 2025Categories: Inklusion, Meine Hochschule und mein Studium, Soziales

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt das Ziel, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihnen ein gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, (BMAS) 2024) Welche Veränderung ergeben sich aus der Gesetzgebung 2017 für Menschen mit komplexen Behinderungen, die in einer sogenannten Besonderen Wohnform Eingliederungshilfe erhalten?

Steckbrief Besondere Wohnform

Definition

Der Deutsche Bundestag definiert die besondere Wohnform der Eingliederungshilfe als gemeinschaftliches Setting zur Erbringung von Eingliederungsleistungen. Das umfasst gemäß § 42a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und S. 3 SGB XII persönliche Wohnräume und gemeinschaftlich nutzbare Bereiche. (Deutscher Bundestag, 2021)

Personenkreis

Gemäß der Leistungsbeschreibung Baden-Württemberg richtet sich das Angebot der besondern Wohnform an erwachsene Menschen mit Behinderung nach § 2 SGB IX i.V.m. § 6 Abs. 1 a.) des LRV. (Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg, 2024) Der LRV Bremen konkretisiert die Zielgruppe als Volljährige Personen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (Anlage 2.2 zum BremLRV SGB IX)):

  • deren Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt sind
  • die ohne persönliche Assistenz nicht selbständig leben können
  • die eine teilweise oder dauerhafte, auch nächtliche, Betreuung und Unterstützung benötigen
  • die einen erheblichen zusätzlichen Hilfebedarf aufweisen

Gesamtplanverfahren besondere Wohnform

Das Gesamtplanverfahren ist ein zentrales Instrument des BTHG und dient zur Umsetzung personenzentrierter Leistungen bei der Teilhabeplanung. (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., o.D.):

Abbildung 1: Prozessablauf Gesamtplanung, 
Quelle: (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS), 2018)
  • Die Instrumente für die Bedarfsermittlung müssen sich gemäß der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO orientieren. Die ICF erfasst, inwiefern die Aktivität und Teilhabe einer Person mit Behinderungen in verschiedenen Lebensbereichen beeinträchtigt ist. Hieraus lässt sich der individuelle Leistungsbedarf für den Einzelnen ableiten.
  • Beteiligte: Zu den möglichen Beteiligten zählen die jeweils zuständige Pflegekasse und/oder der Träger der Hilfe zur Pflege sowie der Träger für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Zudem hat die leistungsberechtigte Person das Recht, eine Person ihres Vertrauens zur Unterstützung hinzuzuziehen.
  • Leistungsfeststellung: Zur Sicherstellung individueller Leistungen, kann der Träger der Eingliederungshilfe unter Zustimmung der leistungsberechtigten Person eine Gesamtplankonferenz durchführen. Dabei beraten sich der Träger und weitere Beteiligte gemeinsam mit der leistungsberechtigten Person über die individuellen Unterstützungsbedarfe und notwendigen Leistungen.
  • Gesamtplan: Der Gesamtplan steuert, dokumentiert und überwacht den Teilhabeprozess, sowie dessen Wirksamkeit. Er wird schriftlich festgehalten und spätestens nach zwei Jahren aktualisiert werden.
  • Teilhabezielvereinbarung: Um den Erfolg der vereinbarten Teilhabeziele zu kontrollieren und die Wirksamkeit der bewilligten Leistungen zu überprüfen, kann der Träger der Eingliederungshilfe gemeinsam mit der leistungsberechtigten Person eine Teilhabezielvereinbarung für bestimmte Planungsabschnitte abschließen.

Herausforderungen

Beteiligung der leistungsberechtigten Personen

Menschen mit komplexer Behinderung sind oft benachteiligt, wenn ihnen die Möglichkeit ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren und verstanden zu werden fehlt. (Dr. phil. Reich, 2019) Es muss also durch Beobachtung, Erfahrung und Reflexion von der Umwelt der Leistungsberechtigten Person der Bedarf ermittelt werden. Dadurch entsteht ein Balanceakt zwischen dem Versuch, die individuellen Bedürfnisse zu erkennen, und der Gefahr, durch eine von außen konstruierte Hypothese den Bedarf der Leistungsberechtigten ungewollt zu verzerren. (Netzwerk komplexe Behinderung e.V., o.D.)

Personenzentrierung

Prof. Dr. Harry Fuchs stößt trotz einheitlicher Regelungen bei der Bedarfsermittlung auf deutliche Unterschiede in der praktischen Umsetzung zwischen den Bundesländern. Trotz gesetzlicher Vorgaben wird die Leistung oft standardisiert und nicht individuell modifiziert erbracht. Darüber hinaus kann die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen durch die unterschiedliche Bewertung individueller Bedarfe beeinträchtigt werden. (Fuchs, 2022)

Andere Akteure

Aufgrund von Anpassung zahlreicher Verwaltungsschritte stehen auch die gesetzlichen Betreuer*innen vor neuen Herausforderungen. Die Umstellung überfordert viele Betreuende, was teilweise zur Rückgabe von Betreuungsaufgaben führt. Leistungsträger sehen sich zudem mit erheblichen Ressourcenproblemen konfrontiert. (Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2024)

Die Planung

Zudem entstehen Herausforderungen innerhalb der Geschäftsmodelle von Leistungserbringern im Bereich der Eingliederungshilfe. Neben der Modifizierung der Versorgungskonzepte bedarf es auch einer Innovation von finanziellen und administrativen Prozessen, um Effizienz und Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Das medizinische Softwareunternehmen CGM nennt als Beispiel ein systematisches Leistungsmanagement und betont dabei die Wichtigkeit einer frühzeitigen Reaktion, um die Ansprüche des BTHG langfristig und wirtschaftlich tragfähig umzusetzen. (CGM Clinical Deutschland GmbH, 2022)

Fazit und Ausblick

Die Einführung des BTHG hat die personenzentrierte Leistungsplanung im Bereich der Eingliederungshilfe insbesondere durch das Gesamtplanverfahren, wodurch die Erfassung individueller Bedürfnisse und die Planung maßgeschneiderter Unterstützungsleistungen ermöglicht wird. Jedoch erweist sich das in der Praxis, besonders bei Menschen mit komplexen Behinderungen als Herausforderung. Die subjektiven Interpretationen von Betreuenden und Fachkräften können durch persönliche Erfahrungen und Wertvorstellungen verzerrt werden, was die Objektivität der Bedarfsanalyse beeinträchtigt. Eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Wahrnehmung ist daher unerlässlich. Zudem stellt die uneinheitliche Umsetzung des BTHG in den Bundesländern eine zusätzliche Schwierigkeit dar, sodass eine systematische Anpassung der Verwaltungsprozesse und Geschäftsmodelle notwendig ist, um eine nachhaltige und effiziente Umsetzung zu gewährleisten. Das BTHG bietet Chancen für eine verbesserte Teilhabe, erfordert jedoch Flexibilität und kontinuierliche Anpassung in der Praxis.

Literaturverzeichnis

Bremischer Landesrahmenvertrag, BremLRV SGB IX. Von https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/umsetzungsstand/bremischer-landesrahmenvertrag-nach-c-131-abs.-1-sgb-ix.pdf abgerufen

Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS). (2018). Orientierungshilfe zur Gesamtplanung.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales. ((BMAS) 2024). Bundesteilhabegesetz. Abgerufen am 28.10.2024 von https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html#:~:text=Teilhabe-,Bundesteilhabegesetz,mit%20Behinderungen%20viele%20Verbesserungen%20vorsieht.

CGM Clinical Deutschland GmbH. (2022). Bundesteilhabegesetz: Viel Fortschritt und große Herausforderung. Abgerufen am 08.11.2024 von https://www.cgm.com/deu_de/magazin/artikel/cgm-sozial/2022/bundesteilhabegesetz-viel-fortschritt-und-grosse-herausforderungen.html

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. (2024). Umsetzung des BTHG – gleichwertige Lebensverhältnisse anstreben. Abgerufen am 08.11.2024 von https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/schwerpunkte/umsetzung-bundesteilhabegesetz/umsetzung-bundesteilhabegesetz-node.html

Deutscher Bundestag. (2021). Aufsicht über besondere Wohnformen der Eingliederungshilfe. Sachstand/ Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste.

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (o.D.). Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz. Abgerufen am 04.11.2024 von https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/betreuungswesen/gpv-thpv

Dr. phil. Reich, K. (2019). Kommunikation mit Menschen mit Komplexer Behinderung. Abgerufen am 08.11.2024 von https://www.stiftung-leben-pur.de/fileadmin/Webdata/Uploads/Empfehlungen/slp_empfehlung-kommunikation_03.19.pdf

Fuchs, P. (2022). Beitrag A14-2022, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht. Abgerufen am 05.11.2024 von Können gleichwertige Lebensverhältnisse gewahrt werden? – Herausforderungen bei der Umsetzung des BTHG: https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-a14-2022/?L=0

Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg. (2024). Module Besondere Wohnform (Erwachsene). Abgerufen am 04.11.2024 von Anlage [Leistungsbeschreibung Module Besondere Wohnform] zu § 49 Abs. 1 a) LRV: https://www.liga-bw.de/images/Aktuelles/LRV%20BTHG%202020/Anlagen/11_Leistungsbeschreibung%20Module%20Besondere%20Wohnform%20Final.pdf

Netzwerk komplexe Behinderung e.V. (o.D.). Qualitätsoffene Teilhabe: Kompetnezen erkennen und fördern. Abgerufen am 08.1. 2024 von https://qualitaetsoffensive-teilhabe.de/theor_grundlagen/kompetenzen-erkennen-foerdern/

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Prozessablauf Gesamtplanung, Quelle: (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS), 2018)

Titelbildquelle:

Titelbild „Multiethnische und behinderte Menschengemeinschaft mit Bleistiften“ veröffentlicht über https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/multiethnische-und-behinderte-menschengemeinschaft-mit-bleistiften_10419052.htm#fromView=search&page=1&position=0&uuid=1e6dd30c-4451-4667-ba73-871d7d7cb0c0&query=inklusion aufgerufen am 08.11.2024

Teile diesen Artikel