„Verzweiflung befällt zwangsläufig die, deren Seele aus dem Gleichgewicht ist.“
(Marc Aurel)
Viele kennen sicherlich das Gefühl, wie es ist mit „sich selbst zu kämpfen“. Sei es, weil man eigenen oder den Erwartungen anderer versucht gerecht zu werden und es nicht schafft, oder weil es nicht gelingt, eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu treffen und Für und Wider-Argumente nicht mehr weiterhelfen. Das sind Beispiele für einen intrapersonaler bzw. inneren Konflikt. Die Psyche eines Menschen befindet sich dann nicht mehr im Gleichgewicht. Innere Konflikte sind häufig und bleiben oftmals sogar von der Person selbst unerkannt. Im Gegensatz zu Marc Aurels Zitat führen sie auch nicht zwangsläufig zur Verzweiflung. Sie können auch mit positiven Effekten einhergehen, denn sie sind Triebfedern für Veränderungen und persönliche Weiterentwicklung. Außerdem kann es positiv für das eigene Wohlbefinden sein, einen Konflikt gelöst zu haben. Diese positive Sichtweise auf innere Konflikte gilt allerdings nicht mehr, wenn ein innerer Konflikt länger andauert und ohne fremde Hilfe scheinbar nicht mehr gelöst werden kann. Er chronifiziert sich und kann so auch eine pathogene Wirkung entfalten.
Wie passiert es, dass die Seele aus dem Gleichgewicht kommt?
Theoretisch sind innere Konflikte „Inkonsistenzen innerhalb des psychischen Systems“[1] und damit seelische Konflikte. Laut Sigmund Freud (psychoanalytischer Konfliktbegriff) treten sie auf, wenn Erlebnisse nicht mit unseren Wertvorstellungen kompatibel sind. Diese Erlebnisse werden dann verdrängt und führen zu schwerwiegenden inneren Konflikten. Die Auswirkungen können dann sowohl psychischer als auch somatischer Natur sein.
Von der verhaltenspsychologischen Sichtweise aus hat Kurt Lewin innere Konflikte betrachtet. Demnach treffen zwei unterschiedliche Verhaltensoptionen aufeinander. Die Folge ist, dass die betroffene Person in einen Zwiespalt gerät, der sich nur schwer auflösen lässt. Eine schnelle Entscheidungsfindung ist dann nicht mehr möglich. Dabei unterscheidet Lewin zwischen drei Formen. Die erste ist der Annäherungs-Annäherungs-Konflikt, der auftritt wenn zwei positiv behaftete Wahlmöglichkeiten vorhanden sind, die sich gegenseitig ausschließen. Außerdem existiert der Vermeidungs-Vermeidungs-Konflikt, hierbei besteht die Option zwischen zwei negativ behafteten Alternativen. Die wahrscheinlichste Lösung in diesem Fall wird sein, beiden Alternativen „entkommen“ wollen. Die dritte Form ist der Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt bei der die Person eine Option hat, die sowohl negative als auch positive Folgen nach sich zieht. Dies ist deshalb scherwiegend, weil es sich um eine innere Ambivalenz handelt und deshalb ein aus dem Weg gehen nicht in Betracht kommt.
Nach dem entscheidungstheoretischen Konfliktbegriff, den Leon Festinger geprägt hat, entstehen innere Konflikte bei Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Alternativen. Dieser Zustand kann sehr unangenehm sein und führt zu einem massiven Druck, die kognitive Dissonanz zu verringern.
Der Mensch gerät folglich aus seinem inneren Gleichgewicht in einen Zustand innerer Unruhe. Angelika Wagner hat in ihrem Buch „Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte: Mentale Selbstregulation und Introvision“ die Entstehung innerer Konflikte sehr spannend am Beispiel der Fabel von Buridans Esel aufbereitet. Der Esel befindet sich zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen und verhungert schließlich dennoch dazwischen. Wie kann das sein, fragt man sich da automatisch?
Der Esel hat zwei Regeln bzw. zwei Kognitionen gelernt: Er wählt immer den größeren Heuhaufen oder den näheren. Der Esel weiß folglich nicht, wohin er gehen soll, weil beide Kognitionen nicht mehr funktionieren. Er hat aber dennoch Hunger und so bleibt er zwischen den beiden Heuhaufen buchstäblich hängen und verhungert. Was bedeutet die Fabel nun übersetzt auf den Menschen? Gehen wir davon aus, dass sich eine Person zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Alternativen entscheiden muss. Beide „Heuhaufen“ gehen nicht (und machen auch keinen Sinn, denn war man beim ersten, ist man satt und man braucht den zweiten nicht)! Nur welcher „Heuhaufen“ ist der richtige?
Beim Menschen sind solche Entscheidungen zumeist ungleich komplexer. Denn beide Optionen besitzen sowohl Vor- als auch Nachteile und wenn sie dann auch noch mit verschiedensten Emotionen behaftet sind, wird es ganz schwierig, denn dann kommt man mit Logik oder einer Pro-Contra-Liste nicht weiter. Zusätzlich gilt: Je gewichtiger die Auswirkungen der Entscheidung sind umso komplexer wird diese. Ob ich mich beispielsweise für ein helles oder dunkles Kleid entscheide, das ich auf einer Party anziehen will, oder ob ich mich zwischen zwei verschiedenen Jobs in zwei verschiedenen Städten entscheiden muss, hat völlig unterschiedliche Auswirkungen auf mein zukünftiges Leben. Im ungünstigsten Fall geht es der Person jetzt wie dem Esel. Sie ist wie gelähmt und kann sich weder zu der einen noch zu der anderen Alternative bewegen. Die Person, die sich als gefangen oder gelähmt in dem Konflikt ansieht und nicht fähig ist eine Entscheidung zu treffen, sieht sich dabei in erster Linie als Opfer eines Konflikts. Gleichzeitig hält sie die Situation bzw. den Konflikt aufrecht, weil sie eben auch Vorteile davon hat. So muss sie für eine getroffene Entscheidung keine Verantwortung übernehmen oder kann die „Schuld“ anderen Personen zuschieben. „Die empfundene Ambivalenz ist eine Selbsttäuschung von jemandem, der nicht zwischen dem unterscheiden kann, was er wirklich will und was er angeblich will“[2].
Meiner Ansicht nach hat sich bereits im Hängenbleiben ein Konflikt manifestiert, weil das Hängenbleiben kein Zustand auf Dauer sein kann und der Druck der Entscheidung auf einem lastet. Nach Wagner entstehen Stress und innere Unruhe und damit der innere Konflikt aber erst im nächsten Schritt: Der Esel will nicht verhungern, deshalb entstehen sogenannte „Ersatzkognitionen“, die das Problem überbrücken helfen. Beispielsweise kann eine solche Ersatzkognition „geh nach links“ lauten. Der Esel geht also nach links, obwohl er weiß, dass diese Entscheidung falsch sein kann. Dies wird aber ausgeblendet und weitere Lösungsmöglichkeiten werden verdrängt. Sozusagen nach dem Motto: „Denk einfach nicht weiter darüber nach!“ Erstens aber kostet das Überblenden anderer Kognitionen laut Studien viel Energie und zweitens entsteht ein Stressgefühl, weil die Entscheidung ja auch falsch sein könnte bzw. sich falsch anfühlt. Das versucht man dann zu verdrängen. Damit ist ein innerer Konflikt ausgebrochen.
Welche Folgen kann ein ungelöster innerer Konflikt haben?
Menschen können bei einem Problem jahrelang feststecken und scheitern bei sämtlichen Lösungsversuchen. Zumeist steckt dahinter ein interpersonaler Konflikt, der sich dadurch zeigt, dass man zwei Dinge gleichzeitig will oder braucht, die sich aber widersprechen. Der Versuch etwas zu ändern gelingt dann nur kurzfristig. Die Folge ist, dass man wieder in alte (Verhaltens-)Muster zurückfällt, was die Enttäuschung und Frustration zunehmend erhöht. Die Gedanken beginnen zu kreisen und können zwar im Alltag auch mal ausgeblendet werden, tauchen dann aber wieder unvermittelt auf. Der Konflikt geht in steigendem Maße mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit bzw. Hoffnungslosigkeit einer Lösungsfindung einher. In Folge dessen können innere Konflikte pathogen wirken. So sind sie ein gewichtiger Stressfaktor und können die Ursache von Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwächen oder gestörten viszeralen Funktionen sein. Naheliegend ist auch ein Zusammenhang zwischen ungelösten inneren Konflikten und Depressionen. Innere Konflikte können sich, wenn sie destruktiv geführt werden, auch zu interpersonellen Konflikten ausweiten. Wenn die Person etwa nach einem Ventil sucht und den Konflikt so an einer anderen Person auszutragen versucht.
Wie kann man mit einem ungelösten seelischen Konflikt umgehen?
Zunächst ist ein erster Schritt sich den interpersonalen Konflikt bewusst zu machen. Da ein Konflikt immer mit der Störung des inneren Gleichgewichts einhergeht, kann die Lösung sein, entweder das alte Gleichgewicht wiederherzustellen oder ein neues aufzubauen. So kann eine direkte Konfliktlösung sein, eine Entscheidung zu treffen bzw. einen Kompromiss einzugehen. Indirekte Lösungen sind Verdrängung oder Ablenkung bzw. eine Verlagerung ins Somatische. Da dies nicht erstrebenswert ist, kann auch der Versuch unternommen werden die subjektive Sichtweise auf den Konflikt, etwa was die Unlösbarkeit angeht, zu verändern. Auch über Dialektik kann die Problematik angegangen werden. Dialektik ist, grob zusammengefasst, die bewusste Auseinandersetzung mit Widersprüchen und ihren Beziehungen bzw. Gemeinsamkeiten, um auf diese Weise zur Erkenntnis zu gelangen. Das bedeutet etwa, dass über das Argumentieren in gegensätzlichen Meinungen die „richtige“ Lösung herauskommt. Eine andere Strategie kann es sein, dem Problem über genaues Spezifizieren und Definieren auf den Grund zu gehen und so zu versuchen, Licht ins Dunkle zu bringen (Was genau ist das Zentrum des Problems? Wie kann ich dem Problem ins Gesicht sehen? Inwiefern und wie hilft mir das bei der Lösung?). Allerdings sind viele Konflikte vage und einer rationalen Entscheidungsfindung überhaupt nicht zugänglich.
Kommen wir noch einmal zurück zu Angelika Wagner und Buridans Esel. Sie geht von einer „sokratischen“ Lösung von Konflikten aus, um auf diesem Weg zu innerer Ruhe und Entspannung zurückzukommen. Frei nach Sokrates weiß der Esel nun, dass er eben nicht weiß, welche Lösung die richtige ist. Damit hört er auf, sich etwas vorzumachen. Im Normalfall würde er probieren, welcher Heuhaufen besser schmeckt. Er wüsste zwar dann noch immer nicht ob es richtig war, nach links oder nach rechts zu gehen, aber er würde weder verhungern noch sich einreden, dass er die richtige Lösung gefunden hat. Und genau das sollte der Mensch auf sich übertragen: Über einen Prozess des aufmerksamen Wahrnehmens, Hinhörens und Hinsehens die Welt erkunden, die Umgebung erforschen und viel ausprobieren. Und dies ohne zu versuchen, alles gedanklich zu interpretieren. Man sollte sich bemühen seine persönlichen subjektiven Imperative, wie zum Beispiel: „Das kann oder darf nicht sein!“, auszublenden. Aber auch hierbei hat es wiederum eine Bedeutung zum Zentrum des Unangenehmen vorzustoßen („Warum kann/darf das nicht sein?“) und dadurch den eigenen subjektiven Imperativen auf den Grund zu gehen. Dabei ist der Ausgangspunkt, sich die Konfliktsituation vorzustellen und den ersten Gedanken, den man dabei hat, zu äußern. Dies sind die ersten Punkte und Grundlagen bei der Methodik der Introvision, die das Ziel hat, durch Auflösung eines inneren Konflikts zu innerer Ruhe zurückzufinden, deren Ausführung aber den Rahmen dieses Blogs sprengen würde.
Es gibt für einen schwierigen ungelösten inneren Konflikt leider keine einfache allgemeingültige Lösung. Manchmal ist auch ein Coaching oder eine Therapie notwendig. Aber für die eigene Gesundheit ist es wichtig eine Lösung zu finden, damit die Last nicht untragbar wird. Dabei macht es durchaus Sinn, zu akzeptieren, dass man nicht weiß welcher Weg der richtige ist…
Quellen:
Berger, R.: Intrapersonale Konflikte bei Depressiven. Eine konsistenztheoretische Studie. Universität Heidelberg. Dissertation. 2003 URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4458/1/Dissertation_Ruth_Berger.pdf (18. März 2016).
Böhm, R.: Konfliktmanagement. Eine Einführung. Vögb. 2003 http://www.tqu-group. com/downloads/KonfliktmanagementnachBoehm.pdf (7. September 2015).
Pascheka, S.: Konflikte verstehen und kooperativ lösen. Marburg. 2001.
Rettenbach, R./Christ, C.: Die Psychotherapie-Prüfung. Stuttgart. 2014.
Stangl, W.: Was ist ein Konflikt? Arbeitsblätter. Linz. 2016 URL: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOMMUNIKATION/Konflikte.shtml (18. März 2016).
Stemmer-Lück, M.: Verstehen und Behandeln von psychischen Störungen. Psychodynamische Konzepte in der psychosozialen Praxis. Stuttgart. 2009.
Voll, H.: Der Weg aus der Depression. Hamburg. 2005.
Wagner, A.C.: Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Mentale Selbstregulation und Introvision. Stuttgart. 2011.
[1] Berger, R.: (18. März 2016) http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4458/1/Dissertation_Ruth_Berger.pdf. S. 7.
[2] Berger, R.: (18. März 2016) http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4458/1/Dissertation_Ruth_Berger.pdf. S. 17.
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Abb. 1: https://pixabay.com/de/wiese-weg-panorama-bergwandern-677878/
Abb. 2: https://pixabay.com/de/esel-tier-niedlich-schwarz-163561/ (selbst eingefügt: Fragezeichen und lachendes Gesicht).
Abb. 3: https://pixabay.com/de/heu-ernte-landwirte-landwirtschaft-214962/
Abb. 4: https://pixabay.com/de/richtung-wegweiser-weg-entscheidung-1033278/
Abb. 5: https://pixabay.com/de/gesicht-frau-maske-hand-stress-1013520/