By Published On: 11. Oktober 2024Categories: Pädagogik, Soziales

Die Sozialgesetzbücher sind laut Noll „[…] seit ihrem Bestehen ständigen Reformbemühungen und Weiterentwicklungen ausgesetzt.“1. Bis in die 70er Jahre bestand nach Darstellung Hähners das Paradigma der Verwahrung, welches sich erst in den 80er Jahren in ein ganzheitliches Bild von Behinderung wandelte. Die Begriffe der Selbstbestimmung und Chancengleichheit erlangten daraus zentrale Bedeutung2. Menschen mit Behinderungen waren bisher mit ihrem Anspruch auf Leistungen dem SGB XII (Sozialhilfe) angesiedelt und häufig abhängig von Strukturen (wie z. B. Komplexeinrichtungen) oder dem zur Verfügung stehenden Angebot. Daher wurden sie oft nicht als selbstständige Personen mit Rechten und Pflichten, sondern vielmehr als Bittsteller wahrgenommen.

Als „größte Sozialreform“3 seit Bestehen des SGB IX beschreibt die SPD-Sozialpolitikerin Mast in dessen Folge die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetz (BTHG)4. Dieses ist in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) begründet5. Die Zielsetzung des BTHG ist laut § 1 eine „[…] volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligung zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken […]“6.

1 Noll (2019), S. 171
2 Vgl. Hähner (1997), S. 25–52
3 Kailitz (2016)
4 Vgl. Kailitz (2016)
5 Vgl. Boetticher (2020), S. 33 [1] Bundesgesetzblatt BGBl. Online-Archiv 1949 – 2022 | Bundesanzeiger Verlag (2024)
6 Bundesgesetzblatt BGBl. Online-Archiv 1949 – 2022 | Bundesanzeiger Verlag (2024)

Die UN-BRK wurde nach Darstellung von Boetticher 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und beinhaltet ein Übereinkommen der Rechte von Menschen mit Behinderungen indem Sie bereits bestehende Rechte bezogen auf deren Lebenssituation und -erfahrung konkretisiert7. Vor dem Erlass eines Bundesleistungsgesetzes durch den deutschen Bundestag waren die Interessensverbände von Menschen mit Behinderungen nach Darstellung von Boetticher in einem „[…] vorbildlichen zivilgesellschaftlichen Diskurs […]“8 eingebunden. Die Forderung nach weltweiter gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen wurde nach Noll durch die Ratifizierung auch für Deutschland zum verpflichtenden Kodex und erhielt durch das BTHG 2016 Einzug in das deutsche Rechtssystem9. Dabei stellt das BTHG kein eigenständiges Stammgesetz dar. Es ist ein Artikelgesetz, welches die Änderung mehrerer Gesetze beinhaltet10.

7 Vgl. Boetticher (2020), S. 31
8 Boetticher (2020), S. 35–36
9 Vgl. Noll (2019), S. 172
10 Vgl. Deutscher Bundestag (1999)

Die Umsetzung des Gesetzes findet in vier Reformstufen statt.

Abbilung 1: Reformstufen des BTHG
(Vgl. Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“ (2024), eigene Darstellung)

Die Maßnahmen und Ziele wurden vom BMAS wie folgt illustriert:

Abbildung 2: Maßnahmen und Ziele des BTHG
(Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2024))

Mit Einzug des BTHG wurde nach Darstellung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ein Systemwechsel von der Fürsorge hin zur individuellen Selbstbestimmung vollzogen. Die Inanspruchnahme von Leistungen ist seither nicht mehr an ein bestehendes Angebots- oder Leistungsportfolio gebunden, sondern vielmehr am individuellen Bedarf ausgerichtet11. Die Verfahren wurden neu ausgerichtet; das Wunsch- und Wahlrecht wurde deutlich gestärkt und die Mitwirkung der Betroffenen am Verfahren als Standard gesetzt. Das Eingliederungshilferecht wurde aus dem SGB XII herausgelöst und in ein moderndes Rehabilitationsrecht im SGB IX eingegliedert.

Wichtige richtungsweisende Veränderungen als ergänzende Ausführung zur obigen Abbildung:

  • Paradigmenwechsel: Mit der UN-BRK hat sich nach Degener Deutschland zum Leitmotiv der Inklusion verpflichtet12. Hierbei verfolgt die BRK einen „[…] ganzheitlichen Ansatz des Menschenrechtsschutzes mit staatlichen Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten“13. Nach Darstellung von Kieslinger et al. ist damit die grundlegende Änderung des Blickwinkels zu einem gesellschaftlich relevanten Thema verbunden und bezieht sich „[…] sowohl auf einen Wandel in den Vorstellungen über den Ort und Inhalt der Unterstützungsleistung sowie auf die sich wandelnde Rolle von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft“14.
  • Empowerment: Empowerment ist die Grundlage gelingender Teilhabe und meint laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die „Selbstbemächtigung“ oder „Selbstkompetenz“ der Person. Menschen sollen in die Lage versetzt werden ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen und ihre Belange zu vertreten und zu gestalten15. Empowerment sind hierbei keine Grenzen gesetzt und umfassen alle Bereiche wie Wohnen, Bildung, Arbeit und Freizeit.
  • neue Verfahren: Durch das BTHG wurden die Verfahren zur Antragsstellung von Leistungen vereinfacht und beschleunigt. Künftig genügt eine Antragsstellung und die Rehabilitationsträger sind im Rahmen des Teilhabeplanverfahrens zur trägerübergreifenden Abstimmung der Leistung verpflichtet16.

11 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), S. 2
12 Vgl. Degener (2015), S. 57
13 Degener (2015), S. 58
14 Kieslinger et al. (2013)
15 Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2024)
16 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2024)

Der evolutionäre Weg des BTHG hat viele Facetten innovativer Veränderung. Das Recht auf Teilhabe hat durch seine ICF-Orientierung eine defizitorientierte Sichtweise von Behinderung abgelöst. Menschen mit Behinderungen haben über das Teilhabe- und Gesamtplanverfahren wesentlichen Einfluss auf die Leistungen erhalten und werden zur selbstbestimmten Entscheidung ermächtigt. Die Verfahren durch das BTHG wurden nach Ansicht des BMAS so modifiziert, dass effiziente Strukturen eingeführt wurden und die Prävention z. B. durch neue Beratungsstrukturen eine deutliche Stärkung erfuhr17. Die Haltungsänderung wurde durch die Überführung des Eingliederungshilferechts von der Sozialhilfe in die Rehabilitation Nachdruck verliehen und schafft neue Möglichkeiten.

Die Rolle der Gesellschaft im Teilhabeprozess spielt wie unter 3.1.3 dargestellt eine wichtige Rolle. Eine Evaluation über aktuelle Wirksamkeit der Gesellschaft könnte Aufschluss über Handlungsbedarfe ergeben und im Sinne der Sensibilisierung in die Gesellschaft wirken.

Das BTHG hat die Chance mit seinen innovativen Veränderungen und dem erstmals festgeschriebenen Leitgedanken der Inklusion Gesellschaft und Zusammenleben maßgeblich zu verändern und zu einer wesentlichen Verbesserung für Menschen mit Behinderungen beizutragen.

17 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2024)

Literaturverzeichnis

Boetticher, A. von (2020), Das neue Teilhaberecht, 2. Aufl., Baden-Baden.

Bundesgesetzblatt BGBl. Online-Archiv 1949 – 2022 | Bundesanzeiger Verlag (2024), in: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27I_2016_66_inhaltsverz%27%5D, abgerufen am 7. 6. 2024.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Mehr möglich machen. Weniger behin-dern. Das neue Bundesteilhabegesetz, Berlin.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2024), BMAS – Bundesteilhabegesetz, in: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html, abgerufen am 7. 6. 2024.

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2024), Empower-ment, in: https://www.bmz.de/de/service/lexikon/empowerment-14282, abgerufen am 13. 6. 2024.

Degener, T. (2015), Die UN-Behindertenrechtskonvention – ein neues Verständnis von Be-hinderung. In: Degener, T./Diehl, E. (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn, S. 53–74.

Deutscher Bundestag (1999), Artikelgesetz, in: https://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/wissen/glossar_daten/A/artikelgesetz.html, abgerufen am 7. 6. 2024.

Hähner, U. (1997), Von der Verwahrung über die Förderung zur Selbstbestimmung. Frag-mente zur geschichtlichen Entwicklung der Arbeit mit „geistig behinderten Menschen“ seit 1945. In: Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung, Marburg, S. 25–52.

Kailitz, S. (2016), Deutscher Bundestag – Bundestag beschließt das Bundesteilhabegesetz, in: https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2016/kw48-de-bundesteilhabegesetz-481812, abgerufen am 6. 6. 2024.

Kieslinger, C./Strähle, C./Koch, D./Meyer, T. (2013), Paradigmenwechsel Behindertenhilfe – Inklumat, in: https://inklumat.de/glossar/paradigmenwechsel-behindertenhilfe, abge-rufen am 13. 6. 2024.

Noll, S. (2019), Finanzierung der Behindertenhillfe – Zu den Kräfteverschiebungen im sozial-rechtlichen Leistungsdreieck durch das Bundesteilhabegesetz. In: Kolhoff, L. (Hrsg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft, Wiesbaden, Heidelberg, S. 171–182.

Titelbildquelle

designed by freepik, Frau im Rollstuhl mit Tablett, www.freepik.com, abgerufen am 10.09.2024 unter https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/frau-im-rollstuhl-mit-tablette_7333294.htm#fromView=search&page=1&position=37&uuid=fbdc1f1f-5b60-4818-ac02-cd949ebfc5a2

Quellverzeichnis Abbildungen

Abbildung 1: Eigene Darstellung in Anlehnung an https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/reformstufen/, abgerufen am 10.09.2024

Abbildung 2: Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“ (2024), Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz: Reformstufen, in: https://​umsetzungsbegleitung-bthg.de​/​gesetz/​reformstufen/​, abgerufen am 10. 9. 2024.

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