By Published On: 1. Oktober 2024Categories: Psychologie, Wiki

Jeden Tag aufs Neue erleben wir etwas wirklich Erstaunliches: Wir tun etwas, ohne genau zu wissen warum. Unser Bewusstsein kann nur einen kleinen Ausschnitt des geistigen Geschehens beherrschen. Selbst wenn wir nur müde im Sessel sitzen, prasseln in jeder Sekunde rund zehn Millionen Sinneseindrücke auf uns ein. Der Druck des Sessels auf Rücken und Gesäß, das Ticken der Uhr sowie der Nachgeschmack des Frühstücksbrötchens können einige dieser Eindrücke sein. Viele dieser Reize verlangen rasche Entscheidungen: Fenster schließen, schnell einen Kaffee gegen die Müdigkeit kochen, aufstehen oder sitzen bleiben? Das Bewusstsein ist lediglich in der Lage, vierzig dieser Sinneseindrücke zu verarbeiten. Der Rest der anstehenden Entscheidungen muss an den Autopiloten abgegeben werden (Traufetter, 2007, S. 28). 


Entscheidungen begleiten uns ständig im Leben. Egal, ob im Beruflichen, vor der Wahlurne oder in der Liebe. Die Frage, wie wir entscheiden und vor allem wie wir richtige Entscheidungen treffen, begleitet uns stetig (Kast, 2018, S. 63). In der Alltagswelt kommt es häufiger vor, dass gespürt wird, dass etwas „nicht stimmt“, aber nicht erfasst werden kann, was es ist. Auch wenn dieses Gefühlt spürbar ist, wird es verworfen, ignoriert oder mit dem Verstand überspielt. Intuition als stichhaltiges Argument wird ungern gelten gelassen. Der Weg der Vernunft ist dabei hell beleuchtet. Mit Hilfe von Logik und Argumenten führt dieser Weg zum Ziel, inklusive einer nachvollziehbaren, analysierbaren Erklärung, mit der diese „vernünftige“ Entscheidung gerechtfertigt werden kann. Was erst einmal nach Vorteil klingt, ist es nicht zwangsläufig. 

Der Weg der Intuition hingegen liegt im Dunklen. Das Unbewusste legt nicht offen, wie es zu seinen Schlüssen und Entscheidungen kommt. Dabei sind intuitive Urteile nicht willkürlich, sie folgen lediglich ihrer eigenen Logik. Um diese unbewusste Steuerung zu überstimmen, ist es nötig, den Verstand einzuschalten. Das Unbewusste kann dabei das Verhalten lenken, ohne dass man etwas davon mitbekommt. Es arbeitet weitgehend automatisch und entzieht sich damit der Kontrolle. Das ist der Nachteil der Intuition. Der Vorteil ist, die Intuition ist deutlich schneller als der Verstand. Diese zwei Entscheidungrouten sind wichtig. Denn wenn wir rational bei der Begegnung einer Schlange im australischen Outback erst einmal die Situation ausführlich analysieren und nüchtern abwägen, warum wir Angst spüren sowie die Vor- und Nachteile unserer Handlungsoptionen abwägen, könnte dieser Weg ungesunde bis tödliche Nebenwirkungen aufweisen. Hier ist eine intuitive Entscheidung sinnvoll und angeraten (Kast, 2018, S. 69-71). So erscheinen Verstand und Intuition zunächst als ein sich ausschließendes Paradox. Vielleicht ist aber das Gegenteil der Fall und beide gehen Hand in Hand. Durch ein raffiniertes System im Gehirn, welches angetrieben durch Wissen und Erfahrung diese innere Weisheit unter Einbeziehung der Emotionen in Entscheidungsprozesse einfließen lässt. Demnach gibt es keine isolierten rationalen oder intuitiven Entscheidungen. Alle rationalen Entscheidungen sind auch unbewusste Entscheidungen, da sie auf unbewussten Denkprozessen basieren (Traufetter, 2007, S. 13-15).


Der Begriff Intuition kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „genau hinsehen“. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, Dinge, Geschehnisse und Vorgehen zu verstehen, ohne bewusst den Verstand einzusetzen. Intuition wird vielmehr als ein kreativer Vorgang betrachtet, bei dem sich das vorhandene Wissen mit dem Gefühl zu einem gewichtigen Wegweiser verbindet. Wissenschaftler wie Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut in Berlin halten dabei Intuition nicht für eine Art sechsten Sinn oder Hellseherei, sondern vielmehr für eine Form der unbewussten Intelligenz. Mit diesem Ansatz geht einher, dass Intelligenz nicht zwangsläufig aus einer bewussten Überlegung heraus entstehen muss, sondern aus dem Unüberlegten und Unbewussten heraus entstehen kann. Intuitiv entscheiden bedeutet also, sich auf seine Erfahrung und auf sein Gefühl zu verlassen (Kahl-Scholz, 2018, S. 190-192). Intuition als Begriff wird verwendet, um ein Urteil zu bezeichnen,

  • das rasch im Bewusstsein auftaucht
  • dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und
  • das stark genug ist, um danach zu handeln.

Lange Zeit war Intuition höchstens die zweitbeste Option nach der Vernunft („Ratio“) für alle diejenigen, die sich nicht der Vernunft bedienen können. Historisch noch weiter zurückreichend ist die Sicht, die den Mann über die Frau stellt. Es ist interessant, dass die beiden gegensätzlichen Begriffe „Ratio vs. Intuition“ und „männlich vs. weiblich“ miteinander verknüpft wurden und Logik und abstraktes Denken als Männerdomäne betrachtet wurde. Die damals als unzuverlässig und verdächtig konnotierte Intuition wurde den weiblichen Emotionen zugeordnet. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich der Blick auf Männer und Frauen und erstere wurden nicht mehr als den Frauen überlegen angesehen. Jedoch galt weiterhin der Verstand der Intuition überlegen. Missverständnisse und Vorurteile über Intuition hielten sich hartnäckig. Auch wenn Intuition durchaus in die Irre führen kann, ist sie im Leben unabdingbar.

Verbreitete Missverständnisse zu Intuition
・Intuition als „sechster Sinn“
・Intuition als göttliche Eingebung
・Frauen haben Intuition, Männer sind rational
・Intuition ist zweitklassig, Nachdenken ist immer besser

Denn wer würde bspw. im Sport ein Tor nur gelten lassen, wenn der Spieler genau erklären könnte, wie er es geschossen hat. Auch hier kommen intuitive Regeln zum Tragen, die immer wieder bei Menschen beobachtet wurden. Wenn über viel Erfahrung verfügt wird, empfiehlt es sich nicht zu lange nachzudenken. Denn auf die erste „Eingebung“ wird sich umso weniger verlassen, je länger darüber nachgedacht wurde und umso mehr Optionen dadurch generiert wurden. Dies lässt sich auf sportliche sowohl als auch berufliche und private Kontexte beziehen. Ohne Erfahrung ist es durchaus sinnvoll, sich Zeit zu nehmen und alle Optionen abzuwägen. Daneben erfordert es häufig Mut, sich schnell zu entscheiden und nicht alle Optionen zu durchdenken. (Gigerenzer & Gaissmaier, 2016, S. 20-30). 


Jeder kennt dieses komische Gefühl, das sich vielleicht in einer Verspannung oder einem „unguten Bauchgefühl“ bemerkbar macht. Diesen Signalen sollte Beachtung geschenkt werden. Denn sie sind die Sprache unseres Körpers, mit denen er uns zu vermitteln versucht, was er nach Verbindung von bewussten und unbewussten Erfahrungen als richtige Entscheidung erachtet. Es kann hier auch vom „Erfahrungs- oder impliziten Gedächtnis“ gesprochen werden.

Implizites Gedächtnis
Mit dem impliziten Gedächtnis sind Informationen gemeint, die das Gehirn zwar abspeichert, die jedoch nicht direkt mit dem Bewusstsein in Kontakt stehen und daher nicht direkt abrufbar sind. Abgelegt werden diese in einen unbewussten Datenspeicher und kommen bei Entscheidungsprozessen zum Tragen, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst ist.

Voraussetzung für intuitives Handeln ist, wie gut die Stimme der Intuition wahrgenommen wird. Stress und Hektik mindern dabei die Empfänglichkeit dafür. Hier ist es sinnvoll immer wieder in sich „hineinzuhören“, um Signale wie einen verspannten Nacken, hochgezogenen Schultern oder feuchte Handflächen wahrzunehmen und diese vom Körper gesendeten Anzeichen als Teil unserer Intuition zu begreifen (Kahl-Scholz, 2018, S. 190-192). 

Zurück zur anfänglichen Frage des Bauchdenkens. Im neurologischen Sinne kann der Bauch nicht denken. Jedoch kann festgehalten werden, dass durchaus im übertragenen Sinne der Bauch einen bedeutsamen physiologischen Hintergrund hat. Die im Magen und Darm verlaufenden Nervenzellen führen aus, was das Gehirn ihnen sagt. Magendrücken und Herzrasen lassen sich auf den Rückkopplungseffekt durch eine unbewusste Wahrnehmung des Gehirns zurückführen (Traufetter, 2007, S. 16). Bauchentscheidungen sind dabei nicht zweigleisig und komplexe Fragestellungen oder Probleme erfordern nicht immer komplexe Lösungen, sondern schnelle intuitive Entscheidungen können gute Urteile hervorbringen. Eine zentrale Rolle spielt dabei aber die Erfahrung. Ein reichhaltiger Erfahrungsschatz ermöglicht es, zu erkennen, welches die wesentlichen Aspekte einer Entscheidung sind und welche ignoriert werden können. Deshalb lohnt es sich, sich selbst zu fragen, in welchen Situationen die eigene Intuition Erfolg gebracht hat oder auch mal in die Irre geführt hat und wann man hätte auf seine eigene Intuition vertrauen sollen. 

Fazit

Auch wenn Intuition Nachdenken nicht ersetzen kann, bietet sie einen reichhaltigen Schatz an relevantem und oft unbewussten Erfahrungswissen, dass es ernst zu nehmen und gezielt einzusetzen gilt (Gigerenzer & Gaissmaier, 2016, S. 32, 39-40). Die in den letzten Jahren sich zunehmend anhäufenden Befunde dafür, dass die Intuition dem Verstand haushoch überlegen ist (Kast, 2018, S. 23), ist eine zunehmend entlastende Erkenntnis. Denn erst durch die wissenschaftliche Fundierung ist es leichter, die in uns allen schlummernde Intuition auch wahrzunehmen, anzunehmen, ihr zu vertrauen und ihren Wert zu nutzen. Denn es gibt keine reinen rationalen Entscheidungen. Alle rationalen Entscheidungen sind auch intuitive Entscheidungen, da sie auf unbewussten Denkprozessen basieren. Und dass die Synthese von Rationalität und Intuition zunehmend heller beleuchtet wird, gibt der Symbiose von zwei Wegen, die lange zu Unrecht als separiert betrachtet wurden, ihre Daseinsberechtigung und die ihr gebührende Wertschätzung.

Literaturverzeichnis

Gigerenzer, G. & Gaissmaier, W. (2016). Intuition und Führung. In M. Fröse, S. Kaudela-Baum & F.E.P. Dievernich (Hrsg.), Emotion und Intuition in Führung und Organisation. Wiesbaden: Springer.

Kahl-Scholz, M. (2018). Mensch! Erstaunliches über den Körper. Berlin [Heidelberg]: Springer.

Kast, B. (2018). Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft: Die Kraft der Intuition (Fischer) (7. Auflage.). Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.

Traufetter, G. (2007). Intuition: die Weisheit der Gefühle (2. Aufl.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verl.

Abbildung

Titelbild: thearkoftestamentofgod, (2020), Zugriff am 10.06.2023, Verfügbar unter: https://pixabay.com/de/illustrations/frau-gehirn-entscheidung-nachdenken-5701303/

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