„Atmen bedeutet Leben.“ (Braun, 2019, S. 9)
Beeinträchtigungen der Atmung können schwerwiegend sein und unser Leben immens belasten. Daran erinnerte uns zuletzt die Covid-19-Pandemie. Doch nicht immer sind diese Beeinträchtigungen offensichtlich. Viele Patient*innen leiden an Symptomen, für die es, auf den ersten Blick, keine strukturellen Erklärungen gibt (Langewitz & Schaefert, 2019, S. 749). Die chronische Hyperventilation (CH) ist in unseren Industrieländern ein weit verbreitetes Phänomen – meist ohne dass es die Betroffenen wissen (Smolka, 2022, S. 185). Was steckt dahinter?
Das chronische Hyperventilationssyndrom
Der Begriff Hyperventilation bezeichnet das Phänomen einer Überatmung (hyper = mehr als normal, Ventilation = Luftwechsel), welche sich in einer unphysiologisch beschleunigten und zugleich stark oberflächlichen oder vertieften Atmung zeigt. Wird die akute Hyperventilation schnell erkannt, bildet die CH eine größere Herausforderung (Grosser & Felchner, 2022; Zalpour & Piekartz, 2019, S. 28). Ursache für die chronische Form stellen neben jeder Form von Stress (ausgelöst durch Schmerzen, Angst, Überforderung etc.) auch rein körperliche Belastungen (Vergiftungen, schwere Infekte, Fieber etc.) dar (Grosser & Felchner, 2022; Piekartz, 2022; Smolka, 2022, S. 14). Darüber hinaus können auch die Brustatmung, ungünstiges Atmen beim Reden, zu tiefes Atmen, Schönheitsideale, Hirntumoren, Enzephalitiden, Bewegungsmangel, dauerhafte Muskelanspannung oder sitzende Tätigkeiten weitere Ursachen darstellen (Smolka, 2022, S. 185–189).
Pathologie – was passiert bei der chronischen Hyperventilation?
Der entscheidende Faktor für die krank machende Wirkung der CH ist nicht, wie man vermuten könnte, eine gestörte Sauerstoffversorgung. Durch die Hyperventilation wird ein zu großer Teil des CO2 abgeatmet, sodass ein Kohlenstoffdioxid(CO2)-Mangel entsteht. Infolgedessen verzeichnet sich ein Basenüberschuss (Alkalose). Der verschobene Säure-Basen-Haushalt kann zwar kurzfristig ausgeglichen werden, bringt jedoch langfristig den gesamten Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht (Smolka, 2022, S. 192–194). So viel zur Theorie – und was genau bedeutet das?
Ein gesunder Körper reagiert auf zu wenige Atemzüge und einen damit steigenden CO2-Gehalt mit Atemnot. Das tückische bei der CH ist, dass sich der Körper an den gesunkenen CO2-Gehalt gewöhnt und in der Folge die Atemsteuerung verändert. Versucht die betroffene Person, entgegen der Hyperventilation, weniger zu atmen signalisiert das Atemzentrum paradoxerweise: „Alarm! Atemnot! Mehr atmen.“ Ein Teufelskreislauf (Smolka, 2022, S. 16). Diese metabolische Entwicklung entsteht schleichend, sodass die negativen Auswirkungen der CH lange kompensiert werden, ehe sie zu erheblichen Gesundheitseinschränkungen führen. Jene sind so vielfältig und scheinbar nicht zusammenhängend, dass sie häufig nicht direkt mit der Atmung in Verbindung gebracht werden und eine Diagnosestellung verzögern. Die Ursachensuche und der Leidensweg werden länger und Folgeschäden wahrscheinlicher (Smolka, 2022, S. 15–16). Unglücklicherweise ist im Kontrast dazu die medizinische Aufmerksamkeit gering und die entsprechende medizinische Versorgung unzureichend. Und das, obwohl der starke Einfluss von CH auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität bereits bestätigt werden konnte (Chenivesse et al., 2014, S. 517–518).
Symptome
Die Symptome der CH manifestieren sich, je nach genetischer Veranlagung, auf unterschiedlichen Ebenen (Schlegtendal & Koerner-Rettberg, 2019, S. 37; Smolka, 2022, S. 14–15; Zalpour & Piekartz, 2019, S. 28):
In der Folge des dysregulierten Atemmusters kann es u.a. zu Mineralstoffmängeln, einer gestörten Energiegewinnung, Asthma und Osteoporose kommen (Nestor, 2021, S. 131; Smolka, 2022, S. 15).
Macht zu viel Atmung krank? Diskussion & Fazit
Zunächst können wir festhalten, dass chronisches Überatmen definitiv krank macht. Und zwar auf eine arglistige Art und Weise: Die schleichend zunehmenden Symptome fördern eine Chronifizierung der CH und machen es in der Folge schwer, das Atemmuster zu verändern. Das können wir auf biochemischer Ebene beobachten und belegen (Smolka, 2022, S. 14–17). Auch wenn die Studienlage bisher rar zu sein scheint, konnte in einer explorativen Datenanalyse herausgefunden werden, dass sich Patient*innen mit CH in ihrer körperlichen, sozialen und psychischen Gesundheit sowie ihrer Vitalität immens eingeschränkt fühlen. Dabei waren die Werte sogar noch schlechter als die Vergleichswerte von Patient*innen mit Asthma oder einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (Chenivesse et al., 2014, S. 518). Smolka (2022) behauptet sogar auf Basis empirischer Ergebnisse, dass CH für die meisten Zivilisationskrankheiten mitverantwortlich ist (S.14).
Hyperventilation ist jedoch nicht durchweg schädlich. Es gibt durchaus Atemtechniken, welche sich eine Hyperventilation zunutze machen (z.B. die Tummo-Atmung/Wim Hof). Jedoch handelt es sich hierbei um temporäre Hyperventilation im Zuge einer Immun- und Leistungssteigerung (Nestor, 2021, S. 185–186). Wie immer macht also die Menge das Gift.
Bei all‘ dem ist entscheidend: Die CH braucht mehr Aufmerksamkeit, nicht nur um Betroffene adäquat behandeln zu können, sondern auch um die physische und psychische Belastung durch eine fehlende Diagnose vorzubeugen. Gerade weil es so viele Menschen betrifft.
Für Interessierte
Der Nijmegen-Fragebogen kann einen ersten Hinweis auf eine chronische Hyperventilation geben. Sie finden ihn
Literaturverzeichnis
Braun, J. (2019). Atmen. Wie die einfachste Sache der Welt unser Leben verändert. Zürich: Kein & Aber. Verfügbar unter: https://www.perlentaucher.de/buch/jessica-braun/atmen.html
Chenivesse, C., Similowski, T., Bautin, N., Fournier, C., Robin, S., Wallaert, B. et al. (2014). Severely impaired health-related quality of life in chronic hyperventilation patients: exploratory data. Respiratory Medicine, 108(3), 517–523. https://doi.org/10.1016/j.rmed.2013.10.024
Grosser, M. & Felchner, C. (2022). Chronische Hyperventilation. Zugriff am 18.01.2024. Verfügbar unter: https://www.netdoktor.de/symptome/hyperventilation/
Langewitz, W. A. & Schaefert, R. (2019). Hyperventilationssyndrom und dysfunktionale Atmung. Swiss Medical Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum, (19), 749–752. https://doi.org/10.4414/smf.2019.08393
Nestor, J. (2021). Breath. The new science of a lost art. New York: Riverhead Books.
Piekartz, D. (CRAFTA – Cranio Facial Therapy Academy, Hrsg.). (2022). Chronische Hyperventilation. Zugriff am 18.01.2024. Verfügbar unter: https://crafta.org/news/chronic-hyperventilation.html
Schlegtendal, A. & Koerner-Rettberg, C. (2019). Dysfunktionelle respiratorische Symptome. Fokus auf bekannte und neue Störungen. Der Pneumologe, 16(1), 33–39. https://doi.org/10.1007/s10405-018-0222-6
Smolka, S. (2022). Die Buteyko-Atmung. Die erstaunliche Wirkung der Atem-Reduktion: Soforthilfe bei Asthma, Sinusitis und COPD, Linderung für Migräne, Bluthochdruck, Panikattacken und andere Beschwerden (1. Auflage). Stuttgart: TRIAS.
Zalpour, C. & Piekartz, H. von. (2019). Unsichtbarer Feind. physiopraxis, 17(03), 22–28. https://doi.org/10.1055/a-0816-9250
Bildquellen
Titelbild: https://pixabay.com/photos/pen-colored-pencil-to-learn-5112463/
Abbildung ‚Die Symptome chronischer Hyperventilation sind belastend.‘: https://www.pexels.com/de-de/foto/licht-frau-haus-jung-6383190/
Tabelle
Tabelle ‚Symptomatik der chronischen Hyperventilation.‘: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schlegtendal & Koerner-Rettberg, 2019, S. 37; Smolka, 2022, S. 14–15; Zalpour & Piekartz, 2019, S. 28