Die Gewichtszunahme unter der Einnahme von Antidepressiva wird bereits seit den 1950er Jahren registriert und untersucht. Insbesondere bei Langzeiteinnahme führen eine Vielzahl an Psychopharmaka zu einer Gewichtssteigerung bei den Patienten.[1] Aber machen wirklich alle Antidepressiva dick?
Die negativen Auswirkungen sind insbesondere für psychisch labile Patienten gravierend, denn bereits eine Gewichtszunahme von nur 5-10% verschlechtert statistisch gesehen die subjektive Lebensqualität und das körperliche Wohlbefinden. Zusätzlich konnte nachgewiesen werden, dass die Gewichtszunahme bei 1/4 bis 2/3 der Patienten einer der Hauptfaktoren für den Therapieabbruch darstellt, was den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen kann. Der folgende Artikel beschäftigt sich daher zunächst mit der Frage welche Antidepressiva zu einer Gewichtszunahme führen, um darauf aufbauend die Wirkungsweise sowie die verschiedenen Entstehungsfaktoren aufzuzeigen.[2]
Welche Antidepressiva bewirken eine Gewichtszunahme?
Der Tabelle 1 ist die gewichtsinduzierte Wirkungsweise der häufigsten Antidepressiva dargestellt. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass nicht alle Antidepressiva gleichermaßen gewichtssteigern wirken. Trizyklika und Tetrazyklika stellen mit 20-72% der Betroffenen nicht nur die Gruppe mit der häufigsten, sondern auch der stärksten Gewichtszunahme dar (Woche 0-7: 1,7kg, Nach 6,5 Monaten: 7,3kg). Aber auch bei Mirtazapin klagen 10-30% der Betroffenen über eine starke Gewichtszunahme nach Einnahmebeginn.[3]
Tabelle: Gewichtsänderungen durch Antidepressiva, eigene Darstellung in Anlehnung an Benkert & Hippius, 2013, Laux & Dietmaier[4]
Wirkungsmechanismen von Antidepressiva
Zum Verständnis der gewichtssteigenden Effekte der Medikamente ist es zunächst ratsam die allgemeine Wirkungsweise der Antidepressiva zu verstehen. Die aktuell auf dem Markt vorhandenen Antidepressiva bauen auf den zum Teil noch immer ungeklärten neurobiologischen Ursachen von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen auf. Hier werden in der literarischen Datenlage vor allem dysfunktionale Wirkungsweisen des dopaminergen (DA), noradrenergen (NA) oder serotonergen (5-HAT) Nervensystems vermutet. Andere Studien gehen von einer Störung im glutamaterges und GABAerges System aus oder machen entzündliche Zytokine für die Entstehung von Depressionen verantwortlich. Auch neuroendokrinische Dysfunktionen dienen als Erklärungsmodelle, insbesondere die Beeinträchtigung des Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen- und Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HPA)-Systems. Eine weitere These liegt in der Volumenverringerung des Hippokampus bei depressiven Patienten in Kombination mit einer verringerten Konzentration von sogenannten „Neurotrophinen“.[5]
Auf Basis der unterschiedlichen Entstehungsbedingungen im Gehirn, wirken die vorhandenen Antidepressiva ebenfalls auf unterschiedliche Weise. Die meisten orientieren sich jedoch an der sogenannten „Monoaminhypothese“ und gehen davon aus, dass Depressionen durch eine verringerte Konzentration von Neurotransmittern im synaptischen Spalt oder der reduzierten Sensitivierung der postsynaptischen Rezeptoren verursacht wird. Als Folge sollen Antidepressiva die Konzentration der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin im synaptischen Spalt oder an der postsynaptischen Membran erhöhen.[6] Dieser Effekt kann auf unterschiedlichen Wege indiziert werden, die in Abbildung 2 dargestellt sind. Die drei Hauptwirkungsweisen liegen in der Blockade von Neurotransmitterrezeptoren, etwa der Alpha-2 Rezeptoren durch Mirtazapin, die den Gehalt von Nordadrenalin im synaptischen Spalt erhöhen (1), der Hemmung des Noradrenalin Abbaus durch die Blockade von MAO-Enzymen (2) sowie der Beeinflussung der Ionendurchlässigkeit, der Sensitivierung der Signalübertragung in der Zelle oder einer verbesserten Proteinbereitstellung (3). Die Veränderungen an den Nervenzellen belegen auch warum Antidepressiva oft erst zeitlich verzögert wirken. Werden beispielsweise die Dopaminrezeptoren mittels Psychopharmaka blockiert, so wird der Körper angeregt neue, zusätzliche Rezeptoren auszubilden (Up-Regulation) oder die Funktion der bereits existierenden Rezeptoren zu sensitivieren. Beide synaptischen Anpassungsvorgänge benötigen Zeit und lassen die gewünschte Wirkung der Medikamente zeitlich verzögert eintreten.[7] Benkert und Hippius geben jedoch zu bedenken, dass die Wirkungsweise von Antidepressiva noch nicht bis in das letzte Detail verstanden wurden ist.[8]
Abbildung 2: Hauptwirkmechanismen der Antidepressiva[9]
Ursachen für die Gewichtssteigerung
Die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Antidepressiva lassen vermuten, dass auch die Gewichtssteigerung durch komplexe metabolische Prozesse indiziert wird. Der Professor Johannes Kornhuber der Universität Erlangen sagte in der Apotheken Umschau (2019), dass die genauen Gründe für die Gewichtssteigerungen während der Antidepressiva Einnahme bis heute noch nicht abschließend geklärt sind. Kornhuber vermutet jedoch: „Offenbar wirken sie sich aber auf den Appetit, das Sättigungsgefühl und den Stoffwechsel aus.“[10] Auch Laux und Dietmaier (2018) sehen ein gestörtes Appetit- und Essverhalten als mögliche Ursache für die Gewichtszunahme. Demzufolge lässt sich die Frage stellen, ob die betroffenen Patienten an ihrer Gewichtszunahme selbst etwas hätten ändern können?[11] Die Frage lässt sich nur bedingt bejahen, denn in Studien konnten vor allem starke Gewichtszunahmen auf das Gen „MC4R“ zurückgeführt werden und belegen eine mögliche genetische Komponente. Andere Studien belegten, dass Antidepressiva und Antipsychotika eher zu einer Gewichtssteigerung führen, wenn sie die sogenannten „5-HAT-2“ und „H-1-Rezeptoren“ beeinflussen und somit eine anti-histaminerge Wirkung anregen. Die Ergebnisse belegen warum vor allem die histaminergen tri- und tetrazyklische Antidepressiva zu Gewichtszunahmen führen.[12] Laux und Dietmaier (2018) betonen, dass Frauen grundsätzlich häufiger von einer Gewichtszunahme bei Antidepressiva-Einnahme betroffen sind als Männer. Zudem konnten Studien zeigen, dass die Gewichtszunahme in den meisten Fällen innerhalb der ersten 9-12 Monate ansteigt und danach ein stabiles Plateau erreicht oder sogar leicht abnimmt.[13] Von einer signifikanten Gewichtszunahme wird bei einer Körpergewichtsteigerung um die >7% in den ersten 3-12 Monaten gesprochen.[14] Kloiber et al. (2015) zeigten, dass sich die Gewichtszunahme nicht über die Dosis positiv oder negativ beeinflussen lässt. Patienten mit einem geringen Ausgangsgewicht und einem BMI unter 27 berichten zudem durchschnittlich von größeren Gewichtszunahmen als übergewichtige Betroffene zu Beginn der Einnahme.[15]
Was können Betroffene tun?
Benker und Hippius (2013) ermutigen Betroffene bei starken Gewichtssteigerungen zu Beginn der Behandlung die Möglichkeit eines Präparatwechsels mit dem jeweiligen Arzt zu besprechen, aber auch Ärzte sollten ihre Patienten zu Beginn der Einnahme über die möglichen metabolischen Veränderungen aufklären und sensibilisieren. Zusätzlich können Patienten durch wöchentliche Gewichtskontrollen, strukturierte Mahlzeiten und körperliche Bewegung versuchen die Gewichtszunahme in einem möglichst geringen Rahmen zu halten. In extremen Fällen können verhaltenstherapeutische Maßnahmen oder sogar medikamentöse Unterstützung zur Gewichtsreduktion angedacht sein. Ein Arzt bzw. Ernährungsberater kann hier als Unterstützung hilfreich sein.[16]
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Antidepressiva durchaus zu Gewichtssteigerungen führen können. Aufgrund der Heterogenität der Wirkstoffe ist dieser Effekt jedoch nicht Präparat übergreifend zu beobachten. Die Ausgangsfrage, ob alle Antidepressiva dick machen, muss somit verneint werden. Dennoch konnte gezeigt werden, dass bestimmte Wirkstoffe zu stärkeren Gewichtssteigerungen führen und auch die genetische Komposition sowie das Ausgangsgewicht der Patienten als entscheidende Faktoren fungieren. Trotz der viel diskutierten Appetitsteigerung, werden auch andere metabolische Veränderungsprozesse für die Gewichtsveränderungen verantwortlich gemacht. In Zukunft bedarf es jedoch weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen, um die Wirkungsweise von Antidepressiva auf der einen Seite sowie die Auswirkungen auf das Körpergewicht auf der anderen Seite noch besser zu verstehen.
Fußnoten
[1] Laux und Dietmaier (2018, S. 52)
[2] Benkert und Hippius (2013, S. 557); Laux und Dietmaier (2018, S. 52)
[3] Drieling, Biedermann, Schärer, Strobl und Langosch (2007, S. 65-68)
[4] Benkert und Hippius (2013, S. 558); Laux und Dietmaier (2018, S. 52)
[5] Finzen, Scherk und Weinmann (2017, S. 42)
[6] Kasper, Möller und Müller-Spahn (2002, S. 28)
[7] Finzen et al. (2017, S. 43)
[8] Benkert und Hippius (2013, S. 5-7)
[9] Kasper et al. (2002, S. 30)
[10] Kandler-Schmitt (2019)
[11] Laux und Dietmaier (2018, S. 52-53)
[12] Benkert und Hippius (2013, S. 57); Laux und Dietmaier (2018, S. 52); Lee, Paz-Filho, Mastronardi, Licinio und Wong (2016)
[13] Laux und Dietmaier (2018, S. 52)
[14] (Ernährungsmedizin Blog)
[15] Kloiber et al. (2015, S. 806-808)
[16] Benkert und Hippius (2013, S. 559)
Literatur
Benkert, O. & Hippius, H. (2013). Kompendioum der Psychiatrischen Pharmakotherapie (Bd. 9). Berlin Heidelberg: Springer.
Drieling, T., Biedermann, N. C., Schärer, L. O., Strobl, N. & Langosch, J. M. (2007). Gewichtsveränderungen unter Therapie mit Psychopharmaka. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 75(2), 65-80.
Ernährungsmedizin Blog. Gewichtszunahme durch Psychopharmaka? Verfügbar unter: https://www.ernaehrungsmedizin.blog/2018/06/20/gewichtszunahme-durch-psychopharmaka/ [Zugriff: 18.12.2019].
Finzen, A., Scherk, H. & Weinmann, S. (2017). Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen Leitlinien für den psychiatrischen Alltag. Köln: Psychiatrie Verlag.
Kandler-Schmitt, B. (2019). Gewichtszunahme durch Medikamente. Verfügbar unter: https://www.apotheken-umschau.de/Medikamente/Gewichtszunahme-durch-Medikamente-555207.html [Zugriff: 18.12.2019].
Kasper, S., Möller, H.-J. & Müller-Spahn, F. (2002). Depression. Stuttagrt: Georg Thieme Verlag KG.
Kloiber, S., Domschke, K., Ising, M., Arolt, V., Baune, B. T., Holsboer, F. et al. (2015). Clinical risk factors for weight gain during psychopharmacologic treatment of depression: results from 2 large German observational studies. The Journal of clinical psychiatry, 76(6), e802-808.
Laux, G. & Dietmaier, O. (2018). Psychopharmaka. Ratgeber für Patienten und Angehörige. Berlin Heidelberg: Springer.
Lee, S., Paz-Filho, G., Mastronardi, C., Licinio, J. & Wong, M. L. (2016). Is increased antidepressant exposure a contributory factor to the obesity pandemic? Translational psychiatry, 6(3), 759.
Bildquelle Titelbild:
Bild von Vidmir Raic auf Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/band-pillen-medizin-tablette-diät-403595/)