Anorexia nervosa oder zu deutsch „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“ oder auch Magersucht ist eine Form der Essstörung. Sie ist eine der verbreitetsten psychosomatischen Erkrankung. In den Jahren von 1916 – 1918 wurden die ersten Fälle klinisch diagnostiziert (Kock, 2008). Zuerst wird bei Magersucht an weibliche Teenager gedacht. Das stimmt jedoch nicht, wie Statistiken belegen. Tatsächlich ist es so, dass es deutlich mehr männliche Magersüchtige gibt als zunächst vermutet wird. Jeder dritte Patient unter 21 Jahren, der an einer Essstörung leidet, ist männlich. Im Ganzen sind es geschätzt 1,4 Millionen Jugendliche, die Symptome einer Essstörung aufweisen. Damit leiden mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren in Deutschland unter Essstörungen oder weisen erste Symptome von Magersucht, Ess-Brech-Sucht oder einer Fettsucht auf. Fast jede/r Dritte ist älter als 40 (Hölling & Schlack, 2007, S. 795).
Ein herausstechendes Merkmal des diagnostischen Erscheinungsbildes der Magersucht ist das Untergewicht. Jedoch beginnt Magersucht nicht erst, wenn die Situation bereits lebensbedrohlich erscheint oder der/die Betroffene nur noch aus „Haut und Knochen“ besteht. Psychische Probleme ziehen physische Konsequenzen nach sich. Magersucht beginnt im Kopf und nicht am Untergewicht (Vandereycken, Van Deth, Meermann, 1990, S. 11). Es ist also ein Zusammenspiel von – eventuell nur geringem – Untergewicht und psychopathologischen Faktoren, die das Krankheitsbild begründen. Zur Erfassung dienen diagnostische Raster wie das DSM (DSM, 2010) oder das ICD-10. Sie beschreiben medizinische-psychologische Kriterien, die das gestörte Essverhalten diagnostisch erfassen sollen (WHO, 2021). Zur Bemessung des Untergewichts wir der Body-Mass-Index (BMI) herangezogen. Bei einem BMI von 18,5 bis 24,9 wird von einem Normalgewicht gesprochen. Ab einem Wert von 17,5 wird die Diagnose Magersucht gestellt (Volkert, 2006). Doch nicht alle, die so „dünn“ sind, sind automatisch magersüchtig. Ein weiteres Kriterium ist – aber einem Mindestzeitraum von drei Monaten – das Ausbleiben der Regelblutung. Auffällig ist auch eine verzerrte Körperwahrnehmung, d. h., dass sich die Betroffenen als zu „fett“ empfinden. Durch die verzerrte Wahrnehmung verkennen sie die Realität und leugnen ihr Untergewicht und infolgedessen tritt eine andauernde Nahrungsverweigerung ein. Begleiterscheinungen sind Kreislaufprobleme, Schwäche, Schwindel, extremes Frieren. Infolgedessen, vermehrte Körperbehaarung, Durchblutungsstörungen, Ohnmacht etc. und im schlimmsten Fall der Tod (Herzog, Friedrich, Wild, Löwe, 2006, S. 539). Es muss auch nochmal deutlich betont werden, dass die Betonung des Untergewichts als das primär entscheidende Kriterium von Magersucht fraglich ist. Eine Person, die stark oder einfach nur untergewichtig ist, ist nicht gleich magersüchtig. Dafür ist die Bandbreite der Diagnosen sehr weit aufgefechert. Das eigentliche Merkmal von Magersucht sollte vielmehr auf die innere Einstellung der Betroffenen zur Nahrungsaufnahme und dem Erleben von Angst vor Kontroll- und Autonomieverlust liegen (Kock, 2013, S. 8). Magersucht ist eine Krankheit, die nicht einfach mit Medikamenten behandelt werden kann. Alle Gedanken kreisen um das Essen. Oft sind die Körperfunktionen durch die Mangelernährung so beeinträchtigt, das Betroffene in ein Krankenhaus eingewiesen werden müssen (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2014).
Die körperlichen Begleiterscheinungen von Magersüchtigen sind das eine, auch der Kopf muss mitmachen. So berichtet eine Betroffene: „Es gibt zwei Stimmen. Die Essstörungsstimme und die gesunde Stimme. Die Essstörungsstimme sagt halt so du bist zu dick, du darfst nichts essen, du musst abnehmen und die gesunde Stimme weiß, wenn sie die Zahl auf der Waage sieht, du kannst gar nicht zu dick sein. Wenn du diese Kleidergröße trägst, kannst du nicht zu dick sein. Du darfst essen, du musst essen. Das sind immer so die beiden Stimmen, die immer gegeneinander ankämpfen“ (NDR, 2016).
Umweltfaktoren wie psychische Traumatisierungen (sexuelle Misshandlungen) sind u. a. in der Geschichte von Magersüchtigen zu finden. So eine Erkrankte: „Bei einer Essstörung ist das Essen das letzte Symptom. Aber was dahintersteckt ist ein krasser Leidensprozess in einem selbst. Man hat es ja nicht ohne Grund. Aus Langeweile nehme ich mal ab oder so. Sondern es war ´ne Flucht auf einer Situation“ (NDR, 2016). Eine andere beschreibt, dass sie ihre eigene Figur nicht hübsch findet, eher gefallen ihr bei anderen Frauen die Kurven und weiblichen Züge. Aber sie selbst hat Probleme damit, erwachsen zu sein und eine „richtige“ Frau zu werden, denn weibliche Kurven sind auch für Männer schön. Das will sie allerdings nicht, weil in der Vergangenheit…Deswegen lieber alles gerade und kantig, damit fühlt sie sich sicherer (NDR, 2016).
Zur Begründung von Magersucht gibt es viele Theorien und Literatur. Zwei davon sind die Verhaltenstheorie und psychoanalytische Theorie. In der Verhaltenstheorie gibt es die klassische und operante Konditionierung sowie die US-amerikanische Lerntheorie nach John B. Watson. In diesen sind Begriffe wie „bedingter Reflex“, „Lernen am Erfolg“ oder „Verstärkungstheorie“ im Sinne eines „Reiz-Reaktions-Schema“ zentrale Elemente zur Erklärung von Lernverhalten. In diesen Therapiekonzepten von Magersucht ist vor allem die Verstärkungstherapie von Bedeutung, da hier eine Gewichtszunahme durch Belohnungs- und Bestrafungsprogrammen versucht wird (Edelmann, 2007, S. 111). Kognitive Ansätze hingegen wie bspw. das Lernen am Modell implizieren „falsche Problemlösungsstrategien“. In diesem Ansatz werden rein kognitive Prozesse als Ursprung von „fehlerhaften“ Verhalten gesehen, die bspw. in der Kindheit „erlernt“ wurden (Kriz, S. 130 – 151).
Ein weiterer Ansatz zur Begründung von Magersucht bietet der psychoanalytische Ansatz. Er setzt bei unbewussten psychischen Konflikten an, die neurotischem Verhalten und Erleben zugrunde liegen. Die wesentliche Methode setzt bei Sigmund Freud und seinem Strukturenmodell der Persönlichkeit an. Das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Kurz zusammengefasst steht das „Es“ für die Triebe und Bedürfnisse des Menschen. Das „Über-Ich“ ist die Ebene des Gewissens und der Moral und von anerzogenen Wert- und Normvorstellungen. Die Instanz des „Ichs“ muss die Forderungen des „Es“ und des „Über-Ichs“ vereinen, in Einklang bringen und befriedigen. Aus psychoanalytischer Sicht leiden Patienten nicht zwingend an der Realität, sondern eher an einer Fantasie über die Realität, die in fehlgeschlagenen Triebumwandlungen ihren Ursprung finden (Freud, 1923, S. 67). Im Vergleich zur Verhaltenstheorie, welche das Leiden in „realen“ Konflikten begründet, begründet der psychoanalytische Ansatz das Verhalten von Magersucht in der Fantasie über die Realität.
Fazit:
Wenn man meint, man könnte ein Buch über Magersucht aufschlagen und würde ein Patentrezept zur Heilung finden, wird man sehr enttäuscht werden. Ebenso wenig findet man eine Liste aller Faktoren, die eine Magersucht verursachen bzw. auslösen. Es werden in der Literatur sehr unterschiedliche Ursachen für eine Magersucht genannt und es ist auch schwierig, eine solche komplexe Krankheit in wenigen Seiten zusammenzufassen. Dennoch klärt dieser Beitrag ein wenig auf und schafft eventuell die ein oder anderen Vorurteile gegenüber „nur sehr dünnen“ Menschen und wirklich Erkrankten beiseite.
Welche Faktoren als ursächlich angesehen werden, hängt sehr stark von dem dahinterstehenden therapeutischen Ansatz ab. Niemals löst nur ein Faktor Magersucht aus. Die ursächlichen Faktoren bilden vielmehr ein komplexes Geflecht. Selbst wenn ein Faktorengeflecht für eine Person als ursächlich gefunden zu sein scheint, kann dies niemals auf eine andere Person zutreffen. Versteht mich nicht falsch. Natürlich gibt es grundsätzliche Ursachen der Magersucht, nur sind diese sehr individuell, mit unterschiedlich starkem Ausmaß und in unterschiedlicher Zusammenstellung.
Literatur
Bundesgesundheitsministerium für Bildung und Forschung (2014). Hilfe bei Magersucht – Weltweit größte Studie zeigt erstmals, dass Psychotherapie bei Magersucht langfristig hilft. Zugriff am 27.05.2021. Verfügbar unter https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/hilfe-bei-magersucht-weltweit-grosste-studie-zeigt-erstmals-dass-psychotherapie-bei-3189.php.
DSM (2010). Diagnostic and Statistical Manual of Mental disorders Source Information. Zugriff am 27.05.2021. Verfügbar unter https://www.nlm.nih.gov/research/umls/sourcereleasedocs/current/DSM4/index.html.
Edelmann, W. (2007). Lernpsychologie (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Freund, S. (1923). Das Ich und das Es. In E. Bibring (Hrsg.), Jenseits des Lustprinzips, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Das Ich und das Es. (S. 235 – 289). Frankfurt am Main: Fischer.
Herzog, W., Giederich, H. C., Wild, B., Löwe, B. (2006). Magersucht. Therapeutische Umschau, 63, S. 539 – 543.
Schlack, R., Hölling, H. (2007). Essstörungen im Kindes- und Jugendalter: Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Robert Koch Institut, 50, S. 794 – 799.
NDR (2016). Essstörung Magersucht: Wenn Essen zur unüberwindbaren Qual wird | 7 Tage |. Zugriff am 26.05.2021. Verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=oKXzBx5uXaU.
Kock, A. (2008). Magersucht. Pathologie des Hungers. Marburg: Tectum.
Kriz, J. (2014). Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim: Beltz.
Vandereycken, W., Van Deth, R., Meermann, R. (1990). Hungerkünstler Fastenwunder Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen. Zülpich. Biermann.
Volkert, D. (2006). Der Body-Mass-Index (BMI) – ein wichtiger Paramater zur Beurteilung des Ernährungszustands: Aktuelle Ernährungsmedizin, 31(3), S. 126 – 132.
WHO (2021). ICD purpose and uses. Zugriff am 26.05.2021. Verfügbar unterhttps://www.who.int/standards/classifications/classification-of-diseases.
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