Heute ist der Zugang zu Fotos und Videos fremder Kinder so einfach wie nie zuvor. Mit nur wenigen Klicks lassen sich auf Plattformen wie Facebook, Instagram und TikTok unzählige Medien von Kindern finden. Dahinter stehen oft sogenannte „Familienblogger“. Diese Blogger gehen unterschiedlich mit der Privatsphäre ihrer Kinder um: Einige achten darauf, Gesichter unkenntlich zu machen oder Details zu zensieren, um ihr Familienleben zu teilen, ohne ihre Kinder komplett der Öffentlichkeit auszusetzen. Andere hingegen präsentieren ihre Kinder bewusst in (fast) jedem Beitrag – die Kamera ist stets dabei45 Ihre Follower kennen oft nicht nur die Namen und das Alter der Kinder, sondern auch ihre Vorlieben, Charaktereigenschaften und sogar ihr Kinderzimmer.
Besonders problematisch wird es, wenn intime oder belastende Momente öffentlich gemacht werden: Wutausbrüche, Tränen oder sogenannte „Pranks“, die weit über harmlose Streiche hinausgehen. Kinder werden zudem gezielt für Werbekooperationen in Szene gesetzt, um Produkte zu vermarkten.
Doch welche langfristigen Folgen kann diese ständige Präsenz in sozialen Medien für die Kinder haben? Und wie wirkt sich das Leben vor der Kamera auf ihre Entwicklung aus?
Relevante Entwicklungsphasen
Die verschiedenen Entwicklungsphasen nach Erikson gehen mit psychosozialen Krisen einher, die jedes Individuum durchläuft und bewältigen muss. Die Art und Weise, wie diese Krisen gelöst werden, trägt maßgeblich zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Im frühen Kindesalter (1 bis 3 Jahre) steht der Konflikt zwischen Autonomie und Selbstzweifeln im Mittelpunkt. In dieser Phase lernen Kinder, sich mit Selbst- und Fremdkontrolle auseinanderzusetzen. Durch ihre wachsenden sprachlichen Fähigkeiten können sie zunehmend selbstbestimmt handeln und eigene Entscheidungen treffen. Autonomie entwickelt sich vor allem dann, wenn Eltern eine unterstützende Umgebung schaffen, die ihren Kindern ermöglicht, Selbstkontrolle zu erlangen, ohne dabei ihre Selbstachtung zu verlieren (Siegler et al., 2016, S. 319).
In der nächsten Entwicklungsphase (4 bis 6 Jahre) steht der Konflikt zwischen Initiative und Schuldgefühl im Mittelpunkt. Kinder beginnen, sich stärker mit ihren Eltern zu identifizieren und von ihnen zu lernen. Sie setzen sich zunehmend höhere Ziele – sei es der Bau eines noch höheren Turms aus Bauklötzen oder das Meistern neuer Fähigkeiten – und arbeiten aktiv daran, diese zu erreichen. Ein zentraler Aspekt dieser Phase ist die Entwicklung des Gewissens. Kinder beginnen, die Normen und Regeln ihrer Eltern zu verinnerlichen. Gleichzeitig erleben sie Schuldgefühle, wenn sie diesen Erwartungen nicht gerecht werden.
In der Phase Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6 Jahre bis zur Pubertät) steht die Entwicklung des Selbstkonzepts im Mittelpunkt. Kinder erlernen zunehmend kognitive und soziale Fähigkeiten, die in ihrer Kultur eine wichtige Rolle spielen. Sie lernen, sich gezielt mit Aufgaben zu beschäftigen und sich in sozialen Gruppen zurechtzufinden. Durch Erfolge entwickeln sie ein Gefühl der Kompetenz, das ihr Selbstbewusstsein stärkt (Siegler et al., 2016, S. 319–320).
Auswirkungen auf die Kinder
Um die möglichen Auswirkungen auf Kinder in den Medien zu veranschaulichen, wird im Folgenden ein fiktives Beispiel verwendet. Es basiert auf realen Fällen, dient jedoch ausschließlich der Illustration und soll die Privatsphäre der betroffenen Kinder schützen.
Anhand der oben beschriebenen Entwicklungsphasen lassen sich bestimmte Konflikte im Zusammenhang mit dem öffentlichen Teilen der Privatsphäre von Kindern und deren Auswirkungen auf ihr späteres Selbst identifizieren:
Autonomie vs. Selbstzweifel: Wenn Kinder in dieser Phase nicht in einer unterstützenden Umgebung aufwachsen, sondern stattdessen häufig bestraft, beschämt oder lächerlich gemacht werden, kann dies zu tiefen Selbstzweifeln führen. Sie beginnen, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln, und entwickeln möglicherweise ein generelles Schamgefühl, das ihr Selbstbild langfristig prägt (Siegler et al., 2016, S. 319).
Mia, die drei Jahre alte Tochter der Familienblogger „Alltag mit den Schmidts“, steht regelmäßig vor der Kamera und interagiert mit den Followern der Familie. Zu den Inhalten gehören auch sogenannte „Pranks“, die darauf abzielen, die Zuschauer zu unterhalten. In einem dieser Pranks wird Mia von ihren Eltern in das Bad gerufen, um ihrem Vater Klopapier zu bringen. Als sie dies tut, berührt der Vater sie mit der Hand, auf der sich Nougatcreme befindet, die den Stuhlgang des Vaters symbolisieren soll. Überfordert und panisch beginnt Mia zu weinen, während die Eltern weiter lachen und die Kamera weiterhin auf das weinende Kind gerichtet bleibt (TikTok: #Poopprank, #toddlerpoopprank).
Was für die Eltern wie ein harmloser Streich erscheint, kann für das Kind beschämend sein – besonders wenn solche Pranks sich häufen und die Gefühle des Kindes in diesen Momenten nicht ernst genommen werden. Dies kann das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten erschüttern und ein allgemeines Schamgefühl erzeugen. Mia könnte beginnen, daran zu zweifeln, ob sie die Kontrolle über ihre Umgebung hat, was langfristig ihr Selbstbild und ihre Fähigkeit zur Selbstregulation beeinträchtigen kann. Solche Erfahrungen können die gesunde Entwicklung der Autonomie und die Bildung eines positiven Selbstwertgefühls erheblich erschweren.
Initiative vs. Schuldgefühl: Die mittlerweile fünfjährige Mia dreht regelmäßig mit ihrer Mutter Videos für Social Media. Gemeinsam nehmen sie an aktuellen Trends teil, tanzen Choreografien oder spielen kleine Sketche nach. Was für die Zuschauer ein unterhaltsamer 60-Sekunden-Clip ist, bedeutet für Mia oft viel Arbeit. In ihrem Alter befindet sie sich in einer Phase, in der sie ihren Eltern nacheifern möchte und alles daransetzt, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Mia spürt den Druck, es richtig zu machen, und will ihre Mutter nicht enttäuschen. Doch je mehr Stress sie empfindet, desto schwerer fällt es ihr, den Text zu behalten. Als ihr die Tränen kommen, reagiert ihre Mutter genervt: „Jetzt wein nicht. Schau mal, wie andere Kinder das machen!“
Langfristig könnte sie lernen, dass Leistung wichtiger ist als ihr Wohlbefinden. Statt Freude an Kreativität zu entwickeln, könnte sie Angst vor Fehlern bekommen und nur noch versuchen, Erwartungen perfekt zu erfüllen.
Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl: Die elfjährige Mia bekommt ihren eigenen TikTok-Kanal, der von ihrer Mutter verwaltet wird. Sie postet begeistert eigene Videos – von Tanzclips bis hin zu Schmink-Tutorials. Anfangs freut sie sich über jedes Like und jeden netten Kommentar, doch dann tauchen erste negative Kommentare auf: „Du siehst komisch aus“, „Peinlich“ oder „Lösch dich“.
Mia liest die Kommentare immer wieder und beginnt, an sich zu zweifeln. Mit 11 Jahren ist sie jedoch noch nicht emotional in der Lage, mit dieser Art von Kritik umzugehen. Anstatt stolz auf ihre Kreativität zu sein, entwickelt sie ein starkes Minderwertigkeitsgefühl, das sie überfordert.
Langfristig könnte Mia Schwierigkeiten haben, sich selbst zu akzeptieren und zu verstehen, dass negative Kommentare nicht ihre tatsächliche Wertigkeit widerspiegeln. In diesem Alter sind Kinder noch dabei, ihre Identität zu entwickeln, und solche Erfahrungen können tiefe Unsicherheiten verursachen, die ihr Selbstbewusstsein und ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen.
Handlungsempfehlungen
Überdenkung der Notwendigkeit der Veröffentlichung: Eltern, die ihre Kinder in sozialen Medien oder auf einem Familienblog zeigen, sollten sich kritisch hinterfragen, ob dies wirklich notwendig ist und welche Auswirkungen dies auf das Kind haben könnte. Bereits 2017 warnte UNICEF in The State of the World’s Children: Children in a Digital World, dass die öffentliche Verbreitung solcher Inhalte erhebliche Risiken mit sich bringen kann. Dazu zählen Rufschädigung, wirtschaftliche und sexuelle Ausbeutung sowie langfristige Probleme bei der Identitätsfindung oder der späteren Berufswahl (Kutscher, 2022).
Keine emotional belastenden Inhalte posten: Die obigen Beispiele zeigen, dass das Veröffentlichen belastender oder beschämender Situationen von Kindern im Internet ihre Entwicklung negativ beeinflussen kann. Eltern sollten daher darauf verzichten, solche Inhalte online zu teilen.
Respektieren der Grenzen: Kinder sollten nicht zu Inhalten gedrängt oder gar gezwungen werden. Aufgrund ihrer emotionalen Abhängigkeit von den Eltern fügen sie sich oft, um deren Enttäuschung zu vermeiden. Doch dieses Verhalten kann in Richtung emotionalen Missbrauchs gehen.
Fazit
Die öffentliche Zurschaustellung von Kindern in sozialen Medien kann erhebliche Auswirkungen auf ihre psychische Entwicklung haben. Besonders problematisch wird es, wenn intime oder belastende Momente geteilt werden, die das Selbstbild der Kinder negativ prägen können. Eltern sollten sich der möglichen Folgen bewusst sein und hinterfragen, ob und in welchem Ausmaß Inhalte wirklich veröffentlicht werden müssen.
Da Kinder oft nicht in der Lage sind, die Tragweite einer Online-Präsenz zu verstehen oder sich gegen die Veröffentlichung zu wehren, liegt die Verantwortung bei den Erwachsenen. Wenn Inhalte fragwürdig erscheinen oder das Kindeswohl gefährdet ist, sollten Beobachtende dies nicht ignorieren, sondern entsprechende Meldestellen informieren.
Literaturverzeichnis
Kutscher, N. (2022). Sharenting als familialer Alltag: Positionierungen, Herausforderungen und Ambivalenzen in den Perspektiven von Kindern und Eltern. Datenschutz und Datensicherheit – DuD, 46(6), 346–351. https://doi.org/10.1007/s11623-022-1617-4
Siegler, R. S., Eisenberg, N., DeLoache, J. S., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter(S. Pauen, Hrsg.; K. Neuser-von Oettingen, Übers.; 4. Aufl. 2016). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47028-2
TikTok. (2025). Hashtag-Statistiken zu #Poopprank, #toddlerpoopprank. https://www.tiktok.com
Titelbildquelle
Woods, Caleb. (2016). Unsplash. https://unsplash.com/de/fotos/madchen-das-ihr-gesicht-mit-beiden-handen-bedeckt-VZILDYoqn_U
Nutzungsbedingung unter https://unsplash.com/de/lizenz, abgerufen am 26.02.2025.